Briefe aus Saint-Paul: L’auberge espagnole
Es ist mitten im Frühjahr in meinem Dorf im Herzen des Fenouillèdes, und allerorten wird gefeiert. Dass die Tramontane mit hohem Tempo um die Häuser fegt, sich Wolken am Horizont ballen und es für den Wonnemonat noch viel zu frisch ist, tut der Feierfreude keinen Abbruch. Denn „mein Dorf“ feiert gerne und lässt keine Gelegenheit aus, nach der Arbeitswoche im Kreis von Freunden oder Familie gesellig zu sein. Damit dies für die Gastgeber nicht zu teuer wird, ist die auberge espagnole Standard bei allen Einladungen.
Auberge … bitte was?, dachte ich das erste Mal, als ich frisch angekommen im Süden bei einer Einladung meiner Nachbarin diesen Begriff hörte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich völlig ratlos war. Was hat denn Feiern mit einem Film zu tun? Oder sollte ich vielleicht den Kinohit L’Auberge Espagnole* von Cédric Klapisch mitbringen?
Kultfilm aus Frankreich
Der Film kam 2002 in die Kinos und ist der erste Teil einer Trilogie. Der erste Film erzählt die Geschichte von Xavier, einem französischen Studenten, der nach Barcelona zieht, um sein Erasmusjahr zu absolvieren. Dort lebt er in einer Wohngemeinschaft mit anderen Studenten aus verschiedenen Ländern und erfährt die Höhen und Tiefen des jungen Lebens.
Les Poupées russes (2005) erzählt, wie sich die Freunde nach den Ereignissen von „L’Auberge espagnole“ in St. Petersburg wiedertreffen. Sie sind alle erwachsen geworden und haben mit neuen Herausforderungen und Lebensentscheidungen zu kämpfen.
In Teil drei, Casse-tête chinois* (2013) lebt Xavier nun mit seiner Freundin Wendy und ihrem gemeinsamen Sohn in New York. Als Wendys berufliche Karriere sie nach China führt, muss Xavier sich mit der Frage auseinandersetzen, ob er ihr folgen und sein Leben in den USA hinter sich lassen soll.
Klapisch ist ein bekannter französischer Regisseur und Drehbuchautor, der für seine Filme über junge Menschen, ihr Leben in Europa und ihre Beziehungen bekannt ist. Kult in Frankreich sind neben L’Auberge Espagnole* auch seine frühen Filme Chacun cherche son chat* (1996) und Le Péril jeune* (1994).
Als ich Étiennette also fragte, ob ich den Film L’Auberge Espagnole* mitbringen solle, damit er dann über Beamer groß auf einer Leinwand gezeigt werden könnte, brach sie in schallendes Lachen aus. Mais, tu connais pas le principe de l’auberge espagnole? Mais c’est comment que tu as fait pour faire la fête? Je t’explique!
L’Auberge espagnole: eine doppelte Bedeutung
Ihre Erklärungen dauerten einen ganzen Abend und begannen mit einer Einladung zu meiner allerersten auberge espagnole.
Der Ausdruck auberge espagnole hat in Frankreich zwei Bedeutungen. Ursprünglich bezeichnete er eine Herberge, in der die Gäste ihr eigenes Essen mitbringen mussten. Dies war im Spanien des 19. Jahrhunderts üblich, wo Gasthäuser oft nur Unterkunft und Schlafplätze anboten, aber keine Mahlzeiten.
Von dort aus verbreitete sich dieser Ausdruck in Frankreich, wo er für jede Unterkunft galt, in der keine Verpflegung angeboten wurde – im Gegensatz zur auberge française, wo es neben dem Stellplatz für das Pferd oder die Kutsche auch stets Kost und Logis gab.
Die zweite Bedeutung von auberge espagnole entwickelte sich im 20. Jahrhundert. Sie bezeichnet ein Fest oder eine Party, bei der jeder Gast etwas zu essen oder zu trinken mitbringt. Diese Art von Feiern ist in Frankreich sehr beliebt, da sie eine gesellige und kostengünstige Möglichkeit bietet, zusammenzukommen.
Da bei diesen Festen oft so viele verschiedene Gerichte und Getränke zusammenkommen wie in einer Herberge mit Gästen aus verschiedenen Ländern, bürgerte sich der Begriff auberge espagnole für solche ungeplanten, ungeheuer geselligen und genussvollen Feste ein.
Cédric Klapisch wählte diese Tradition als Titel für seinen Film, da die Wohngemeinschaft, in der die Hauptfiguren leben, an eine solche Herberge erinnert. Die Bewohner kochen und essen oft zusammen, wobei jeder etwas anderes mitbringt.
In meinem Dorf hat das Prinzip der auberge espagnole nicht nur private Feiern erobert, sondern längst auch die Feste und Veranstaltungen, die die Kommune ausrichtet. So auch bei der Fête Espagnole, die sie stets Ende Mai für ihre zahlreichen spanischstämmigen Einheimischen ausrichtet, deren Vorfahren vor Franco während des Bürgerkrieges nach Frankreich geflohen waren – der berühmten Retirada.
Die Kommune buchte Musiker, Tänzer und Reiter, organisierte alles für einen sicheren und sauberen Ablauf des Festes und ließ auf dem Rugbyplatz des Dorfes Tische und Stühle aufstellen, die mit halboffenen Zelten geschützt wurden – der Wetterbericht ließ Regen ahnen. Jedes dieser Zelte konnte jemand, der im Dorf wohnte, als Gastgeber einer peña für sich reservieren und Freunde, Bekannte, Familie und Kollegen einladen – bien sûr als auberge espagnole.
Um 11 Uhr sollte das Fest beginnen. Um 10 Uhr trudelten die ersten Gäste ein, halfen beim Dekorieren der Tische, schleppten Wasser und Wein heran, Salate und Hors d’œuvres, Brot, Quiche und Cake, während die Männer begannen, auf improvisierten Herdstellen die obligatorische Paella zu brutzeln.
Punkt zwölf wurde sie serviert, und alle schmausten im Schutz der Zelte, auf die einige Regentropfen plätscherten. Doch zur großen Schau mit Pferdedressur, Flamenco-Tanz und Gesang waren die Niederschläge beendet – und die Spuren der auberge espagnole von flinken Händen schnell beseitigt. Que la fête commence !
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Im Blog
In der Reihe „Briefe aus Saint–Paul“ stellte ich Momentaufnahmen aus meiner Wahlheimat Saint-Paul-de-Fenouillet im Herzen der Ostpyrenäen vor. In dieser Kategorie sind sie vereint. Frohes Stöbern!
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Danke für diesen Bericht, ich habe etwas gelernt! Gerade heute erhielt ich eine Einladung zur Feier des französischen Nationalfeiertags als „Auberge Espanol.“ Nun weiß ich, was von mir erwartet wird 🙂
Hach, das freut mich, liebe/r Uli, ich wünsche eine wundervolle Feier! Herzliche Grüße! Hilke
Danke, Hilke, für diesen schönen Bericht. Ich würde sofort dabei sein. Wir versuchen es mit Freunden und Reisegefährten auch so ähnlich zu gestalten. Macht großen Spaß.
Liebe Barbara, das gelingt dir bestimmt! Herzliche Grüße und frohes geselliges Genießen zusammen. Hilke
Bonjour liebe Hilke,
Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag!
Ich bin hier im Périgord bestens mit dem Prinzip der Auberge Espagnole bekannt, aber fragte mich, woher der Name wohl stammen mag…:-)
Bonne journée und liebe Grüße,
Karin
Bonjour, beste Karin – ja, ich hatte auch gestutzt… und liebe diesen Brauch. Bises in den Périgord! Hilke