Cirque de Mafate: nur zu Fuß
Der Cirque de Mafate bildet das Herz des Réunion-Nationalparks und ist ein Naturwunder, das die Wildheit und Dramatik dieser französischen Vulkaninsel wie keine zweite ihrer Landschaften verkörpert. Als westliche der insgesamt drei Calderae des erloschenen Vulkans Piton des Neiges (3.070 m) öffnet sich der Cirque de Mafate als eine schwindelerrende Senke, rund 15 Kilometer lang in Nord-Süd und acht Kilometer breit von Ost nach West.
Diese Senke ist nicht einfach nur ein Tal – sie ist eine von Naturkräften geformte Bühne, umgeben von imposanten remparts genannten Steilwänden, die sich als mächtige Klippen hunderte bis weit über tausend Meter hoch aufrichten.

Wie steinerne Wächter thronen zerfurchte Berggipfel über dem Cirque de Mafate: Im Süden erhebt sich der Grand Bénare auf 2.896 Meter, gefolgt von den gezackten Spitzen des Massif du Gros Morne mit 2.955 Metern, bis hin zum Cimendef und der Roche Ecrite, die auf 2.228 und 2.276 Meter hinaufreichen. Wie eine natürliche Festung umschließt dieser Kranz aus Fels die Senke von Mafate und bewahrt ihre Unberührtheit.
Seine ersten Bewohner waren geflüchtete Sklaven von den Zuckerrohrplantagen der Küste, die in der abgeschiedenen Bergregion eine neue Heimat fanden. Einer der bekanntesten Pioniere war der entflohene madagassische Sklave Mafate, der im 18. Jahrhundert lange die Gemeinschaft der einstigen Sklaven anführte, ehe er im Jahr 1817 vom Sklavenjäger Mussard schließlich gefangen genommen wurde. Sein Schicksal ging ins kollektive Gedächtnis ein.

Mafate, auf Deutsch „Der Gefährliche“, wurde zum Namensgeber des Felskessels und zum Symbol für den Widerstand gegen die Sklaverei und die Suche nach Freiheit. Bis heute sind es nur eine Handvoll Familien, die im Talkessel von Mafate leben. Jeder kennt hier jeden, und fast jeder ist um zig Ecken mit dem anderen verwandt.

Hinein in den Cirque de Mafate kommt ihr nur zu Fuß. Das gilt auch für den Briefträger, der die Bewohner mit Post und Nachrichten von draußen versorgt. Berühmt wurde besonders Ivrin Pausé. 40 Jahre lang bediente er alle Weiler zu Fuß und legte dabei 253.000 Kilometer zurück. Er kümmerte sich um die Alten, las ihnen die Briefe vor und half ihnen beim Schreiben einer Antwort.
In seinen Fußstapfen war bis zum Rentenbeginn 2003 Angelo Thiburce unterwegs und versorgte die Bewohner des Cirque de Mafate mit Lotterielosen, Medikamenten und ihrer Post. Bereits 1990 widmete Henri Moutou dem Facteur de Mafate, an den im Weiler Grand Place auch eine Statue erinnert, ein Lied, das Bat’ker im Jahr 2012 neu interpretierte – hört es euch auf Youtube an!

Die knapp 500 Einwohner von Weilern wie Grand Place, Aurère, Marla, Roche Plate oder La Nouvelle können auf Hubschrauber zurückgreifen. Morgen für Morgen bringen die Helikopter Nahrung und Notwendiges, holen den Müll ab, holen oder bringen Kinder zu weiterführenden Schulen, transportieren gehunfähige Kranke oder Verunglückte – und sind die teuer bezahlte, aber lebenswichtigste Lebensader nach außen.
Ein sehr beliebter Startpunkt für Touren in den Felskessel ist der Col des Bœufs (1.960 m). Nur noch rund 80 Fahrzeuge kann der kostenpflichtige Parkplatz unterhalb der Passhöhe aufnehmen. Eine kurvige, befestigte Forststraße windet sich steil dorthin empor. Ist die Füllgrenze erreicht, versperrt ein Gatter den Zugang – und wird mitunter recht wild am Fahrbahnrand geparkt.
Am Col des Bœufs befindet sich auch einer der Hubschrauberlandeplätze, von dem aus das Tal versorgt wird. Auf Paletten gestapelt und mit Plastik umwickelt, warten Lebensmittel und Getränke auf den Transfer.

Neblig ist es hier am Morgen und überraschend frisch. Elf Grad Celsius zeigt das Thermometer. Nass glänzt der dunkle Fels, rutschig sind die ersten Schritte, die in die Tiefe führen. Holzbalken, mit Eisennägeln ins Erdreich gerammt, sollen die Erosion des wichtigsten Zufahrtsweges aufhalten.
Feuchte Wurzeln und immer wieder Steine, kleine Kiesel wie große Lavabrocken, lassen das Schritttempo auf weniger als drei Kilometer pro Stunde senken. Die Schritte der Wanderer begleitet der Tec-Tec, eine endemische Schwarzkehlchenart, die grazil von Ast zu Ast hüpft.

Einhundert Höhenmeter geht es so steil bergab, vorbei an den gelben Blüten des bois de fleurs jaunes (Hypericum lanceolatum Lam.), welche die Einheimischen nach der Blüte getrocknet vom Baum einsammeln und für Tees und Aufgüsse nutzen. Das Gift, das im petit bois de rempart (Agarista buxifolia) steckt, ist wirksam genug, um die Schwiegermutter um die Ecke zu bringen, weshalb die Pflanze mit ihren kleinen rosaroten Glöckchen auch bois des belles-mères genannt wird.

Immer wieder eröffnen sich unterwegs an Wendepunkten des Weges weite Ausblicke auf den Felskessel, der sich nicht weit und offen präsentiert, sondern unterbrochen wird von Kämmen und Kegeln, die wie massive Finger in den Himmel ragen. Im Süden erhebt sich majestätisch die Pyramide des Piton des Calumets (1.616 m).
Im nördlichen Teil prägen die Crête d’Aurère (2.508 m) und die Crête de la Marianne (2.500 m) die Landschaft und gestaltet ein wildes Labyrinth aus Pfaden und Schluchten, durchzogen von der GR R1, GR R 2, GR R 21 und GR R3, rot-weißen markierten Weitwanderwegen der Grandes Randonnées (GR) auf La Réunion, die zur Unterscheidung von den Routen in Kontinentalfrankreich noch das R zusätzlich tragen.
Nach den steilen Stufen am Hang geht es über quer zum Weg gelegte Holzstämme, kantige Felsen und mit Laufgittern versehene Holzbohlenwege weitere 100 Höhenmeter nun sanfter hinab, hin zu Plaine des Tamarins (1.760 m). Die Hochebene im Südosten des Cirque de Mafate wirkt wie ein Stück Australien, hineingepflanzt in den afrikanischen Felskessel.

Tamarins des Hauts (Bergtamarinden) mit kurzen, oft schiefen Stämmen und ausladenden Baumkronen, deren Äste hier und da den Boden berühren, prägen als windgebeutelte Solitäre das Plateau. Wer die Blätter der Bergtamarinde (Acacia heterophylla) genauer betrachtet, entdeckt eine besondere Blattanpassung, die sogenannte Heterophyllie: Junge Pflanzen tragen wechselständige Blätter, die doppelt gefiedert sind.
Diese Blätter bestehen aus mehreren Paaren von kleinen, eiförmig-länglichen Fiederblättchen, die bis zu 20 Millimeter lang werden. Ältere Pflanzen hingegen besitzen andere Blätter – ihre sind elliptisch, leicht gebogen und haben eine ledrige Oberfläche. Statt der feinen Fiederblättchen bilden sich sogenannte Phyllodien – breite Blattstiele, die wie Blätter aussehen und viele Längsnerven zeigen.

Auf dem Plateau weiden das ganz Jahr hindurch halbwild kleine Rinder. Die Tiere sind wichtig für die Subsistenzlandwirtschaft im Talkessel, helfen bei der Bewirtschaftung der Felder und liefern als Fleisch wertvolles Fett und Eiweiß für die Ernährung. In den Gärten bauen die Einheimischen für die Selbstversorgung Obst und Gemüse an.
Weniger gerne wird das Sammeln von Früchten, Samen und Kräutern in der Natur gesehen. Der Cirque de Mafate liegt im Kernland des Nationalparks von Réunion. Jegliche Eingriffe des Menschen könnten das sensible wie bedrohte Ökosystem dieses Gartens Eden stören. Nur schauen, nichts pflücken, ausreißen, einsammeln oder mitnehmen, ist daher die Devise, hat doch auch jeder noch so schöne Stein im Fluss eine Funktion und Aufgabe im Ökosystem.

Viehgatter mit einigen Holzstufen trennen die Weiden. Vor der nächsten Etappe eröffnet sich im Schatten einer Bergtamarinde ein weiter Blick auf den Cirque de Mafate. Die Sonne hat inzwischen den Morgennebel verjagt, markant hebt sich der Gipfel des Grand Bénare vom strahlend blauen Himmel.
Wie bunte Sprenkel leuchten die Häuser von Marla im tropischen Grün. Für Struktur in diesem lebendigen Gemälde sorgt ein mehrere Meter hoher Baumfarn, der seine Wedel als leuchtend grüner Fächer anmutig an der Spitze entfaltet.

300 Höhenmeter geht es nun auf steinigen und jetzt staubig-trockenen Wegen hinab zur Rivière des Galets (1.470 m), deren Rauschen nun das Tal erfüllt. Gespeist von Zuflüssen wie dem Bras d’Oussy und dem Bras de Sainte-Suzanne, schlängelt sich der Wasserlauf durch die Wildnis, zwängt sich durch Felsen und stürzt sich hier und da als Kaskade hinab in die Tiefe.

Bei der Passerelle d’Ethève eröffnet eine schwankende Fußgängerbrücke aus Stahlseilen und Holzbohlen weite Ausblicke auf einige Badegumpen, die die Rivière des Galets direkt an der Wanderroute vom Col des Bœufs nach Marla geschaffen hat.
Nur 35 Kilometer lang ist der Fluss, der am Fuße des Gros Morne am südöstlichen Ende des Cirque de Mafate entspringt und den Felskessel bis zum nordwestlichen Ende durchfließt, eher er sich bei Saint-Paul an der Westküste der Île de la Réunion in den Indischen Ozean ergießt.
Seine Lebensader ist keine starke Quelle, sondern das himmlische Nass, das ihn nach jedem Schauer Stärke verleiht und imposant anschwellen lässt, ehe die Trockenheit der zweiten Jahreshälfte ihn zum Rinnsal reduziert.

Doch jetzt sind seine Gumpen noch gefüllt, und nicht wenige Wanderer verbinden das Mittagspicknick mit einer erfrischenden Badepause. Danach geht es wieder bergauf, mal steiler, mal weniger, mal stark durchsetzt mit Fels, mal staubig, aber immer: bergauf. Schritte geradeaus haben Seltenheitswert.
Die Sonne sticht inzwischen vom Himmel, 28 °C zeigt das Thermometer. Die feuchte, schwüle Luft lässt Wolken entstehen, erst einige, dann immer mehr. Um 14 Uhr ist das Blau des Himmels völlig verhüllt von wolkigen Nuancen von Zinn bis Écru.

Dann taucht ein Holzschild auf: Cirque de Mafate: Marla. Logos verraten, dass es auch Gelder der EU für die Anlage der Wanderwege und Schutzeinrichtungen im Welterbe gab.
Mit elegant erhobenen weißen Köpfen stehen Hunderte Zantedeschien in einem Bachbett Spalier als Begrüßungskomitee. Auf der Höhe der Maison Laclos ( 1.520 m) umarmen die Ranken der barbérine die Bäume.

Das Klettergewächs gehört zwar zur Familie der Passionsblumen, doch ihre Früchte sind deutlich größer, länglicher und haben einen ganz einzigartigen, säuerlich frischen Geschmack. Grün wandert ihre Schale in ein Chili-Chutney. Gelb ist sie reif und birgt im Inneren wie die Passionsfrucht ein geleeartiges Fruchtfleisch, das zahlreiche Samen durchziehen.
Erst 1966 wurde die kleine Kirche von Marla erbaut. Ihre freistehende Glocke wird nur bei Hochzeiten, Todesfällen oder Notsituationen geläutet. Dann trägt der Wind einige Beats herüber, und kurz danach taucht sie schon am Wegesrand auf: Chez Jimmy, eine rustikale Bar mit Bier frisch vom Fass, handfester Lokalkost, einer Handvoll Hütten für Selbstversorger mit Solarstrom und WCs mit Wasserspülung. Angekommen in Marla (1.640 m).

Im gîte Ti Piton sind drei Betten im Schlafsaal reserviert. Im Sanitärblock laufen die Duschen. Denn heiß ist das Wasser nur, solang die Sonne noch scheint. Langsam verabschiedet sich der Tag. Die Bergschuhe lüften vor der Hütte. Auch dem Handy könnte man jetzt eine Ruhepause gönnen: WLAN fehlt auf den Hütten im Cirque de Mafate. Doch dank 4G ist das weltweite Web inzwischen auch hier zuhause.
Eine Wandergruppe von Hauser-Exkursionen, die zwölf Tage lang die Vulkaninsel wandernd erkundet, hat die erste Weinflasche geöffnet – ein ehrlicher Rotwein aus Bordeaux, für zwölf Euro an der Bar der Wanderherberge. Im Speisesaal deckt Fabienne Thiburce den Tisch für die table d’hôte ein.

So wie sie finden fast alle Einheimischen ihr Auskommen im Tourismus. Andere unterstützen das Office National des Forêts beim Erhalt des Welterbes. Nach einem Tag in der Wildheit und Abgeschiedenheit des Cirque de Mafate sind die bewirtschafteten gîtes ein Luxus der Zivilisation. Wenn sie um 15 Uhr die Türen öffnen, trifft sich hier die Welt.
Geschlafen wird in Stockbetten aus Holz mit Steppdecken; Sonnenkollektoren wärmen die Duschen auf. Abends wird bei der table d’hôte gemeinsam geschlemmt. Das Menü: ein frischer Salat aus lokalen Kohlsorten, ein cari mit Huhn oder anderem Fleisch, zum Dessert ein Kuchen mit Mais oder Maniok und zum Abschluss ein aromatisierter Rum.

Um 21 Uhr zieht ein sanftes Schnarchen durch die Flure, bis die Rotoren der Helikopter die Wanderer wecken und die ersten Sonnenstrahlen die Bergspitzen leuchten lassen. Mit leuchtend orangefarbenem Körper begrüßt der Cardinal einen neuen Tag im Cirque de Mafate.
Jetzt könnt man weiterwandern, den Talkessel auf der GR R 3 noch zwei weitere Tage entdecken, hinüberwandern zum Cirque de Cilaos. Oder zurückkehren zur Passhöhe. Das Programm: eine Stunde lang bergab – und dann rund zwei Stunden lang fast immer nur bergauf.

Cirque de Mafate: meine Reisetipps
Zugänge
Nord
- Rivière des Galets/Deux Bras: im Flussbett mit Geländewagen hinauf zum Cirque de Mafate
- Deux Bras/Dos d’Âne
Osten
- Col des Bœufs
- Col de Fourche
- Bord Martin/Sentier Scout
- Bord Martin/Sentier Augustave
Süden
- Col du Taïbit: Übergang zum Cirque de Cilaos
Westen
- Canalisation des Orangers
- Le Maïdo: steilster Abstieg in den Cirque de Mafate

Wandern im Cirque de Mafate
Wandern auf La Réunion ist anders als in Europa: Zwar sind die Routen in den meisten Fällen sehr gut ausgeschildert, doch die ständig wechselnen Untergründe und stark mit Fels oder Geröll durchsetzten Wege machen das Wandern oftmals deutlich anstrengender, als ihr es vielleicht in den Alpen oder Pyrenäen gewohnt seid. Die Temperaturunterschiede bei Wetterwechseln sind enorm; warme Kleidung sowie Regenschutz gehören wie der Sonnenschutz auf jeden Fall mit ins Gepäck.
Wer Höhenangst auf schmalen oder steilen Wegen bekommt, sollte eine Wanderung im Cirque de Mafate genau überdenken und nur einfach klassifizierte Routen nehmen. Je höher die Klassifzierung der Route, desto steiler und technisch fordernder ist die Wegstrecke im Cirque de Mafate.

Wer allein reist, sollte sich einen Führer nehmen. Allein im Cirque de Mafate zu wandern, kann sonst lebensgefährlich sein. Ich war daher mit Guillaume Barbier vom Bureau Montagne Réunion im Cirque de Mafate unterwegs, einem staatlichen geprüften Bergführer, sehr freundlich und kompetent – er stammt von der Insel und kennt La Réunion wie seine Westentasche.
• www.bmrtrek.re
Schlemmen und schlafen
Chez Jimmy

Der rustikale gîte mit Outback-Flair liegt am Ortseingang/-ausgang von Marla auf 1.625 Metern Höhe und bietet neben Kneipenküche vom Frühstück bis zum abendlichen Burger zwei Schlafsäle für je vier Personen und zwei Doppelzimmer. Wer mag, kann bei Jimmy auch ein Picknick bestellen oder in der kleinen Boutique Artikel der Réunionnaiser Kultmarke Pardon!, Sonderedition Mafate, erwerben. Bei Jimmy herrscht von früh bis spät Trubel – die lebhafte Atmosphäre begeistert auch Partygänger.
• Marla, 97460 Saint-Paul, Tel. +262 06 92 04 49 55
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Hallo Frau Mau der, ja der Mafate! Mein Mann kann kein Wort Französisch und war nicht abzuhalten, allein ohne jede Ortskenntnisse da einzusteigen! Er ist auch allein auf den Vulkan und meinte, er hätte alle abgehängt. Im Touristenoffice war man entsetzt! Zurecht. Aber er kam wohlbehalten zurück….
Nachahmung nicht empfohlen….
Liebe Frau Buck, das ist ja ein Abenteuer… Und ja, Nachahmung nicht empfohlen… Alleine sollte man da auf keinen Fall wandern. Aber es ist schon wirklich grandios dort! Herzliche Grüße und schönen Advent, Hilke Maunder