Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
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Cité Radieuse: die Wohnmaschine

Der 21er-Bus hält genau vor der Tür der Cité Radieuse. Mit ihr verwirklichte Le Corbusier in Marseille seine Vision einer vertikalen Stadt. Untergebracht ist sie in einem Hochhaus aus Beton, kantig und klotzig an die Ausfahrtsstraße nach Cassis gesetzt.

Auf jeder Etage – Rue (Straße) genannt – übernimmt es urbane Funktionen: mit 337 Wohnungen, Geschäften, Büros und Praxen, Cafés, Bars und Restaurants, Hotel, Schule, Schwimmbad, Park samt Spielplatz und Orten der Kunst.

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Fabenfroh: die Fassade der Cité Radieuse mit ihren unterschiedlich bunten Balkonen. Foto: Hilke Maunder

Cité Radieuse? Haus der Verrückten!

Voilà ganz kurz und knapp das Konzept der Cité Radieuse, die 1946-52 am Boulevard Michelet errichtet wurde. Der modernistische Traum begeisterte die Marseiller nur in den ersten Jahren.

Später folgten schwerere Zeiten. Denn schnell hieß der Wohnblock im Volksmund „Haus des Verrückten“. Heute ist die Ikone der Moderne Pilgerziel von Architekturfans und allen, die andere Ansichten und Aussichten von und auf Marseille suchen.

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Der Eingangsbereich der Cité Radieuse. Foto: Hilke Maunder

Lust auf einen „Stadt“-Bummel?

Von außen schwebt die autarke Wohnsiedlung mit ihren bunten Balkonnischen einige Meter über der Erde. An der Schmalseite des Blocks öffne ich die Glastür zum Foyer, pardon, Stadtplatz.

Dort beantwortet der Wachmann mit Rat und Tat die Fragen von Besuchern und Einheimischen und achtet darauf, dass alles seine Ordnung hat. Wie auf einem Stadtplatz trifft man sich hier, klönt mit Nachbarn und schaut sich die eine oder andere Ausstellung an.

Cité Radieuse, die Fahrstühle. Foto: Hilke Maunder
Bleu, Blanc, Rouge: Die Fahrstühle des Foyers und die Wände zitieren die Farben der Trikolore. Foto: Hilke Maunder

Auch die Post ist am Stadtplatz zu findet. Die Briefkästen befinden sich auf jeder Etage, per Rohrpost landet alles im zentralen Briefkasten des Erdgeschosses. Praktisch, nicht wahr?

Doch jetzt weiter hinein in die Stadt! Doch nicht per Bus oder U-Bahn, sondern mit Fahrstühlen geht es zu den „Straßen“ der Cité Radieuse.

Shopping, schlafen & schlemmen

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Die Flure der Etagen bilden die „Straßen“ der Cité Radieuse. Foto: Hilke Maunder

Die Shoppingmeile der Cité Radieuse ist die dritte Etage. Früher gab es dort einen Bäcker, einen Schlachter und sogar einen Supermarkt von Casino, erzählt mir die zierlich-schlanke Dominique.

Gemeinsam mit ihrem gemütlich-wohlbeleibten Mann Alban Gerardin betreibt sie das Hôtel Le Corbusier und das angeschlossene Restaurant Le Ventre de l’Architecte.

Cité Radieuse: das Restaurant des Hôtel Corbusier. Foto: Hilke Maunder
Das Restaurant des Hôtel Le Corbusier. Foto: Hilke Maunder

Ebenfalls auf der dritten Etage zu finden ist Monsieur Muller mit seiner Boulangerie-Patisserie, der Immobilienmakler Espaces Atypiques und eine Buchhandlung.

Eine der schönsten Buchhandlungen der Welt

2022 feierte die Librairie Galerie des Imbernon-Verlags ihr 20-jähriges Bestehen. Dies nahm die Gründerin des kleinen, feinen Verlages –  Katia Imbernon – zum Anlass, sich in den Ruhestand zu verabschieden und die Galerie-Buchhandlung an Alexandre Sap weiterzugeben .

Beim Abschied sagte sie: „Die Komplexität der Mischung aus Wohnungen und Geschäften, die sich hier einnistet, war für mich eine Herausforderung. In dem Buch „Die schönsten Buchhandlungen der Welt“ aufgeführt zu werden, hat den Sinn meiner Entscheidungen und meines Engagements bestätigt. Im Herzen der Unité d’habitation zu leben und zu arbeiten, einem Gebäude, in dem Holz, Beton, Glas und Keramik dank der Poesie von Le Corbusier ihre ganze Sinnlichkeit zum Ausdruck bringen, hat mich mit Freude erfüllt“, so Katia Imbernon.

Alexandre Sap hatte  2021 im Zentrum von Paris eine Buchhandlung mit Galerie unter dem Namen Rupture Art & Books eröffnet. Sie wurde zum Pilgerziel für alle, die Design, Zeichnen oder Musik lieben.  Bereits 2020 hatte er den Rupture Record Store in Paris eröffnet – als Café-Disquariat.

Neue Nutzungen

Heute sind Büros und Praxen in die Läden eingezogen. Viele von ihnen haben die alten Schaufensterfronten abgedeckt oder gar zugemauert. „Eine Schande“, schimpft Dominique, „die Cité Radieuse ist doch ein Architekturerbe!“

So wirkt der Flur, pardon, die Straße, heute recht einsam und düster. Auch der vierte Stock ist fest in der Hand von Büros und Praxen. Freundlicher erscheint da schon die Seitengasse entlang der Fenster, wo mir Dominique eine kleine kreative Insel zeigt: einen Wunschbaum.

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Der „Wunschbaum“ der Cité Radieuse steht im vierten Stock. Foto: Hilke Maunder

Traumhaft: die Dachterrasse

Im achten Stock steigt eine Mutter mit ihrem Sohn zu mir in den Fahrstuhl. Wie es in der Schule aussieht. die dort zu finden ist, konnte ich leider nicht erfahren. Aber das Duo nimmt mich mit in einen Bereich auf der Dachterrasse in 56 Meter Höhe, der sonst für Besucher gesperrt ist. Ein Spielplatz und ein Planschbecken nur für die Bewohner – und das mitten in Marseille auf dem Dach. Toll!

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Der Pool der Cité Radieuse auf dem Dach. Foto: Hilke Maunder

Die alte Sporthalle revitalisierte der junge Pariser Designer Ito Morabito (Ora-ïto) zum Kulturhauptstadtjahr 2013 als MAMO, das Akronym des Marseille Modulor. Morabito schuf in seiner Heimatstadt damit ein nicht nur hoch gelegenes, sondern wahrhaft hochkarätiges Zentrum für zeitgenössische Kunst.

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Der Marseille Modulor auf dem Dach der Cité Radieuse. Foto: Hilke Maunder

Die einstige Krippe dient heute als Malschule für Kinder. Zwei hohe Skulpturen und mehrere grüne Inseln schmücken den Dachgarten, der den Bewohnern auch als Joggingstrecke dient. 300 Meter lang ist eine Bahn entlang der Breitseite.

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Auch diese Skulptur schmückt die Dachterrasse der Cité Radieuse. Foto: Hilke Maunder

Absolut atemberaubend ist schließlich auch dies: die Fernsicht! 360-Grad-Ausblicke eröffnet sie. Von der Mittelmeerküste bis zu den Ausläufern der Südalpen liegt euch Marseille zu Füßen!

Cité Radieuse, Marseille. Foto: Hilke Maunder
Hochhaustürme und schmucke Villa: Kontraste in Marseille. Foto: Hilke Maunder

Der Mann hinter der Cité Radieuse

Der Macher der Wohnmaschine von Marseille war ein Schweizer. Doch vor allem in Frankreich hat er mit seiner Architektur der Moderne seinen Stempel aufgedrückt: Charles-Edouard Jeanneret-Gris. Kennt ihr nicht? Aber sicher – doch nur unter seinem Pseudonym: Le Corbusier.

Am 6. Oktober 1887 in La Chaux-de-Fonds im Kanton Neuchâtel geboren, kam Le Corbusier 1907 das erste Mal nach Paris. Dort fand er Arbeit bei August Perret. Den französischen Stahlbeton-Pionier habe ich hier vorgestellt. Zehn Jahre später gründete Le Corbusier sein eigenes Büro in der französischen Hauptstadt. 1930 nahm Le Corbusier die französische Staatsbürgerschaft an.

Auf den Spuren von Le Corbusier

Der Ausflug nach Poissy 33 Kilometer nordwestlich von Paris gehört zur „Pflicht“ in Sachen Le Corbusier. Dort konstruierte er die Villa Savoye als perfektes Parallelepiped auf zierlichen Betonpfeilern.

Mit diesem Bau, der zwischen Himmel und Erde zu hängen scheint, stieß er die Tür in ein neues architektonisches Universum auf. Seine unkonventionellen Lösungen jenseits aller architektonischen Gewohnheiten gelten als Ausdruck beständiger Revolution.

Die vertikale Stadt

Ab 1945 propagiert er angesichts der urbanen Verdichtung das Bauen in die Höhe mit Grünbereichen rundherum als „bewohnbare Einheit“. Als Pionierprojekt und Musterbau dieses Dogmas entstand 1952 in Marseille die Cité Radieuse.

Ein anderes großes Objekt vom Reißbrett des Meisters ist  La Maison Radieuse von Rezé in der Nähe von Nantes. Auch dieses Hochhaus ist eine veritable vertikale Stadt. Sie darf ebenfalls besichtigt werden.

Wohnmaschinen & Winzlinge

Das Denkmal für Le Corbusier in Roquerbrun-Cap Martin. Foto: Hilke Maunder
Das Denkmal für Le Corbusier in Roquerbrun-Cap Martin. Foto: Hilke Maunder

Aber Le Corbusier kreierte nicht nur diese großen Wohnmaschinen. Er schuf auch beinahe Winziges. Sein Cabanon etwa, das er 1952 in Roquebrune-Cap-Martin errichtete, misst gerade einmal 15 Quadratmeter.

Diese Hütte aus Holz wurde für den Architekten zum Ort ungestörten Arbeitens und Entspannens. Inzwischen verlieh ihm der Minister für Kultur und Kommunikation das Label Maison des Illustres.

Man schafft Steine, Holz, Zement herbei; man macht mit ihnen Häuser, Paläste, das ist Sache der Konstruktion. Der Erfindungsgeist ist am Werk. Aber mit einem Mal greift es mir ans Herz, tut mir wohl, ich bin glücklich, ich sage: Das ist schön. Das ist Architektur. Die Kunst ist anwesend.

Vers une architecture, Le Corbusier, éd. G. Crès, 1924, S. 123

Cité Radieuse: meine Tipps

 Schlafen und Schlemmen

Zur Cité Radieuse gehört auch ein Hotel mit 21 Zimmern, mal schlicht und einfach, mal komfortabler – und einige sogar mit Loggia und Blick aufs Meer. Fitnessraum, Sauna und Tennisplatz dürfen alle Gäste des Hôtel Le Corbusier kostenlos nutzen.

Cité Radieuse: ein typisches Zimmer des Hôtel Corbusier. Foto: Hilke Maunder
Ein typisches Zimmer des Hôtel Le Corbusier. Foto: Hilke Maunder

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Im Blog

Marseille

Marseille ist die Partnerstadt meiner Heimat Hamburg – und  eine Stadt, die ich unglaublich faszinierend und spannend finde. Viele Aspekte habe ich bereits vorgestellt. Klickt mal hier für eine Übersicht.

Für alle, die Marseille an einem Wochenende erleben möchten: Hier gibt es einen kompletten Reiseplan – persönlich von mir getestet!

Auguste Perret

Le Corbusier hat bei Auguste Perret gelernt. Perret war verantwortlich für den Wiederaufbau von Le Havre nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein Quartier Perret gehört seit 2005 zum Welterbe. Sein schönstes Wahrzeichen dort ist die Église Saint-Joseph. Das Appartement Témoin verrät, wie Perret die Wohnkultur revolutionierte.

Im Buch

Zur Einstimmung: DuMont Bildatlas Provence*

DuMont Bildatlas Provence 2021In meinem DuMont-Bildatlas „Provence“* stelle ich in sechs Kapiteln zwischen Arles und Sisteron die vielen Facetten der Provence vor. Ihr erfahrt etwas vom jungen Flair zu Füßen des Malerberges, vom Weltstadttrubel an der Malerküste, dem weißen Gold aus der Pfanne oder einer Bergwelt voller Falten.

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2 Kommentare

    1. Stimmt Robert, würden einfach nur die Leuchten ein wenig heller sein, wäre es gleich viel eindrucksvoller. Jetzt sind die Straßen sehr „höhlig“, aber auch authentisch – LED gab es ja noch nicht in den Fifties. Wohnen würde ich dort allerdings nicht wollen… Das Freilichtkino, dass im Sommer dort oben aufgeführt wird, steht aber noch ganz oben auf meiner Bucket List für Marseille!

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