La Dame de Brassempouy: Mona Lisa der Vorzeit
In den sanften Hügeln der Chalosse, wo das Département des Landes noch im Rhythmus der Landwirtschaft lebt und ausgedehnte Felder die kurvigen Landstraßen säumen, birgt ein altes Bauerndorf eines der spektakulärsten Geheimnisse der Menschheitsgeschichte.
Brassempouy, 28 Kilometer südöstlich von Dax gelegen, beherbergt nicht nur mittelalterliche Gassen und eine wehrhafte Kirche – hier wurde die älteste bekannte realistische Darstellung eines menschlichen Gesichts entdeckt.
Das Gesicht aus dem Mammut-Elfenbein

Nur 3,6 Zentimeter misst das Fragment aus Mammut-Elfenbein, das die Archäologen Édouard Piette und Joseph de Laporterie 1894 in der Grotte du Pape bargen. Mit einem 6,5 Meter breiten Portal öffnet sich die Höhle am Rande eines kleinen Waldes, wo Feldwege ins Tal des Bachs Pouy hinabführen. 55 Meter lang erstreckt sich die Karsthöhle im Kalk als Netzwerk aus vier verbundenen Höhlen, die in der Prähistorie mehr als 30.000 Jahre lang kontinuierlich von den Urzeitmenschen genutzt wurden.
Und genau hier wurde sie gefunden, die prähistorische Mona Lisa. Mit herzförmigem Gesicht blickt die Dame von Brassempouy heute als Replik im Museum des PréhistoSite die Besucher an. Ungeheuer ausdrucksstark fertigte ein unbekannter Künstler vor 30.000 Jahren dieses Meisterwerk. Die Augen der Vorzeit-Frau sind detailliert ausgearbeitet, die Nase fein modelliert.

Nur der Mund fehlt – ein bewusster Verzicht oder unvollendetes Werk? Diese Detailgenauigkeit unterscheidet die Dame deutlich von anderen Venusfiguren des Gravettien, die meist stilisiert und übertrieben weibliche Formen betonen. Hier dagegen arbeitete ein Künstler mit erstaunlicher anatomischer Präzision.
Besonders rätselhaft bleibt das schachbrettartige Muster auf ihrem Kopf. Die französische Bezeichnung Dame à la capuche – Dame mit der Kapuze – verrät eine mögliche Interpretation. Doch handelt es sich wirklich um eine Kopfbedeckung? Geflochtenes Haar erscheint ebenso plausibel wie ein kunstvoll gewobenes Netz. Was heute als einfaches Raster erscheint, könnte damals raffinierte Handwerkskunst dokumentiert haben. Das winzige Fragment birgt Geheimnisse einer Gesellschaft, die weit komplexer war, als lange angenommen.
Leben in der Eiszeit

Die Welt, in der die Dame von Brassempouy entstand, war lebensfeindlich und faszinierend zugleich. Die Jahresmitteltemperaturen lagen fünf bis dreizehn Grad unter heutigen Werten – eine Kälte, die Böden gefrieren und Wälder verschwinden ließ. Wo heute die grünen Hügel der Chalosse sanft ins Tal hinabfließen, erstreckte sich vor 25.000 Jahren eine endlose Gras-Tundra. Mammuts, Wollhaarnashörner und Rentiere durchstreiften diese Landschaft auf der Suche nach Nahrung.
Bäche und Teiche, wie sie heute zu finden sind rings um Brassempouy, gab es nicht. Das heutige Gewässersystem entstand erst nach der Eiszeit. Dennoch formten bereits damals unterirdische Wasserläufe die Karsthöhlen im Kalkstein. Tropfsteinhöhlen, Siphons und unterirdische Seen entstanden durch die beständige Erosion – natürliche Schutzräume, die den Menschen des Gravettien überlebenswichtig wurden.

In dieser unwirtlichen Umgebung entwickelten die Gravettien-Menschen hochkomplexe Überlebensstrategien. Als mobile Jäger und Sammler folgten sie den Tierherden quer durch Europa – von Russland bis nach Spanien erstreckte sich ihre Kultur. Ihre Behausungen entstanden aus dem, was die Tundra bot: Stoßzähne von Mammuts als Tragbalken, Rentierfelle als Isolierung, Feuerstellen aus sorgfältig gesetzten Steinen.
Die Höhlen der Chalosse erfüllten dabei verschiedene Funktionen. Während die offenen Jagdlager den saisonalen Wanderungen folgten, dienten Grotten wie die du Pape als dauerhafte Stützpunkte. Hier lagerten die Gruppen Werkzeuge und Rohstoffe, hier fanden rituelle Handlungen statt, hier bestatteten sie ihre Toten. Die neun Elfenbeinfiguren von Brassempouy entstanden vermutlich nicht zufällig an diesem Ort – sie spiegeln die besondere spirituelle Bedeutung der Höhle wider.

Schatzgrube der Vorgeschichte
Die systematischen Ausgrabungen von Édouard Piette und Joseph de Laporterie förderten 1894 weit mehr als nur die Dame von Brassempouy zutage. Werkzeuge aus Silex und Knochen, Schmuck aus durchbohrten menschlichen Zähnen, Spuren früherer Bestattungen – die Grotte du Pape erwies sich als wahre Fundgrube. Insgesamt vier natürliche Höhlen durchziehen das Gebiet: neben der berühmten Grotte du Pape auch die Grotte des Hyènes, die Grotte des Enfants und die Grotte de la Mairie.
Dreißigtausend Jahre Menschheitsgeschichte lagern hier in den Kalksteinhöhlen, vom Châtelperronien bis zum Magdalénien. Doch die Grotten schweigen heute. Seit 2004 sind sie für die Öffentlichkeit geschlossen – zu wertvoll, zu fragil für den Massentourismus. Für Ersatz sorgt der PréhistoSite im Dorf.
Mammuts im Gras

Wie die Menschen zur Zeit der Dame de Brassempouy einst lebten, zeigt dieser archäologische Erlebnispark – ähnlich wie der prähistorische Themenpark bei Tarascon-sur-Ariège mit nachgestellten Szenen und vielen Animationen. Lebensgroße Mammuts, Rentiere und Riesenhirsche grasen auf weitläufigen Wiesen, als wären sie gerade aus der Eiszeit erwacht. Kein Disneyland der Prähistorie, sondern eine wissenschaftlich fundierte Zeitreise: Rekonstruktionen eiszeitlicher Lebensräume, Vegetation der damaligen Zeit, bereichert mit prähistorischer Techniken zum Mitmachen.

Christophe, einer der Führer, zeigt, wie Feuer gemacht wird. Wenig weiter erklärt mir Estéle Dubedout als Pressefrau der Anlage die Speerschleuder – und lädt ein, die prähistorische Jagdtechniken einmal selbst auszuprobieren. Auch Workshops zur Höhlenmalerei stehen auf dem Programm. Die kostenlose App ArchéoParc de la Dame macht als digitaler Audioguide den Rundgang interaktiv und individuell – moderne Technik im Dienst der Urgeschichte.

Handfesten Hintergrund vermittelt die Maison de la Dame. Das Besucherzentrum zieren drei Skulpturen, die zum Wahrzeichen der Anlage wurden: In überlebensgroßer Form zeigen die drei Skulpturen von Roselyne Conil die berühmtesten weiblichen Elfenbeinfiguren, die in der Grotte du Pape bei Brassempouy entdeckt wurden: die Dame mit der Kapuze (Dame de Brassempouy), die Figur mit dem Gürtel und der Torso, ein Fragment aus der gleichen Fundgruppe, die den weiblichen Körper in stilisierter Form darstellt. Drinnen erzählen Ausstellungen und zahlreiche Nachbildungen von Fundstücken von der Besiedlung der Region im Jungpaläolithikum.
Epizentrum der europäischen Vorgeschichte

Brassempouy steht nicht allein. Das Dorf markiert das Zentrum eines archäologischen Universums, das sich über ganz Südwestfrankreich erstreckt. Nur 80 Kilometer südwestlich liegen die Grotten von Isturitz und Oxocelhaya im Baskenland, berühmt für ihre Schichten von Neandertalern bis zu Cro-Magnon-Menschen. In der Grotte de Sare, 90 Kilometer südlich, wurden im Karst ebenfalls prähistorische Objekte gefunden: Pfeilspitzen, polierte Steinbeile, Schaber und andere Steinwerkzeuge, teilweise bis zu 45.000 Jahre alt.

Zwei Autostunden östlich erstreckt sich das Vézère-Tal im Département Dordogne – Europas reichste Region an prähistorischen Stätten. Lascaux mit seinen spektakulären Malereien, die Font-de-Gaume-Höhle mit polychromen Tierbildern, die Combarelles-Höhle mit ihren Gravuren – all diese Stätten sind heute als UNESCO-Weltkulturerbe der Urgeschichte geschützt.
Doch Brassempouy nimmt eine Sonderstellung ein. Während andere Fundorte mit Höhlenmalereien beeindrucken, bewahrt das kleine Dorf in der Chalosse das älteste bekannte Gesicht der Menschheit. Die Dame von Brassempouy – heute sicher verwahrt im Musée des Antiquités Nationales in Saint-Germain-en-Laye – wurde 1976 auf einer französischen Briefmarke verewigt. Ein winziges Elfenbeinfragment, das die Welt veränderte.
Moderne trifft Urgeschichte

Während die Dame von Brassempouy in Pariser Museumsvitrinen ruht, pulsiert in ihrem Heimatort das Leben zwischen Mittelalter und Moderne. Die Église Saint-Saturnin aus dem 12. Jahrhundert zwingt seit neun Jahrhunderten mit ihrem markanten Vorbau den Straßenverkehr zum Umweg. Ihr wehrhafter Turm aus dem 13. Jahrhundert, ursprünglich Verteidigungsanlage, teilt noch heute die Dorfstraße – ein architektonisches Zeugnis aus der Zeit, als Brassempouy eine befestigtes Wehrdorf war.

Hinter der Holzverschalung des Chores verbergen sich Säulen und andere Baureste aus dem Mittelalter, stumme Zeugen einer Geschichte, versteckt von den Schichten der Zeit. Von der Dame aus Mammut-Elfenbein über versteckte mittelalterliche Architektur bis zum modernen Archäopark beweist Brassempouy, dass auch die kleinsten Dinge mitunter ganz großartig sind. Wie in Brassempouy.

Höhepunkte der Höhlenkunst
Die Dame von Brassempouy am Anfang einer langen Tradition prähistorischer Kunst im Süden Frankreichs. Da mich die frühen Epochen der menschlichen Kunstgeschichte immer wieder verwirren, habe ich sie hier einmal übersichtlich zusammengefasst. Voilà – von Brassempouy bis Mas-d’Azil – die bedeutendsten Fundorte der frankokantabrischen Höhlenkunst in Südfrankreich.
| Fundort | Epoche | Datierung (v. Chr.) | Bedeutende Funde/Besonderheiten |
|---|---|---|---|
| Brassempouy | Gravettien | ca. 28.000–21.000 | Dame von Brassempouy (realistische Elfenbeinfigur) |
| Pech Merle | Gravettien/Solutréen | ca. 25.000–15.000 | Höhlenmalereien (u.a. Pferde, Mammuts, Handabdrücke), älteste Malereien über 20.000 Jahre alt |
| Lascaux | Magdalénien | ca. 17.000 | Höhlenmalereien (berühmte Tierdarstellungen, z.B. Stier, Pferd, Hirsch) |
| Bedeilhac | Magdalénien | ca. 17.000–12.000 | Höhlenmalereien, Gravuren, Reliefs |
| Niaux | Magdalénien | ca. 17.000–11.000 | Berühmte Höhlenmalereien (Tiere, Zeichen) |
| Mas-d’Azil | Azilien (Ende Jungpaläolithikum, Epipaläolithikum) | ca. 13.000–9.000 | Bemalte Kieselsteine, Übergang zur Mittelsteinzeit |
Brassempouy: meine Reisetipps
Schlemmen und genießen
L’atelier du Chat d’Argent
27, route du Duc, 40330 Brassempouy, Tel. mobil 06 82 24 42 10
Le Bistroquet de la Dame
388, rue du Musée, 40330 Brassempouy, Tel. mobil 06 68 24 26 63

Hier könnt ihr schlafen
La Petite Couronne*
Nancy und Iwan van Es sind die Gastgeber dieser nordisch inspirierten Ökolodge im Bauernland der Chalosse, deren nachhaltiges Konzept auf Komfort, Herzlichkeit und viel Platz für jeden setzt. Die geräumigen, praktisch eingerichteten Zimmer verfügen über eine Terrasse oder Balkon, im Poolhaus neben dem kleinen Freibad gibt es eine Gästeküche. Wer mag, bucht sein Bett auf dem Lande hier*.
• Route d’Amou, 40700 Saint-Cricq-Chalosse, Tel. 05 58 79 38 37, www.hotel-lapetitecouronne.com

Noch mehr Betten*

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Im Blog
Alle Beiträge aus dem Département Landes vereint diese Kategorie.
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