Vive la dictée: Frankreichs Liebe zum Diktat
Frankreich. Das Land der Liebe, der Baguette – und des Diktats. Kaum ein Volk hat eine so innige Beziehung zu seiner Sprache wie die Franzosen. Während anderswo Rechtschreibung bestenfalls ein notwendiges Übel ist, wird sie in Frankreich zelebriert wie ein Nationalsport. Hier zu gewinnen, heißt nicht nur, fehlerlos zu schreiben. Es bedeutet, Teil einer Kultur zu sein, die sich selbst so ernst nimmt, dass sie darüber manchmal charmant ironisch wird.
Am 4. Juni 2023 fand auf den Champs-Élysées das „größte Diktat der Welt“ statt. Und nein, das ist keine Übertreibung. Genau 1.650 Teilnehmer nahmen daran teil, 1397 davon wurden sogar offiziell vom Guinness World Records anerkannt.
Staunend hockte ich damals vor dem Fernsehgerät und sah Tausende Menschen, die sich mitten in Paris versammeln, nicht etwa für ein Konzert, eine Demo oder ein Rugby-Spiel, sondern um die haarsträubendsten Regeln der französischen Orthografie zu meistern.
Verwendet für den Weltrekord-Rechtschreibtest wurde ein Text, der fester Bestandteil im Curriculum der französischen Schule ist: La Mule du Pape aus Les Lettres de mon Moulin, von Alphonse Daudet.
Das Diktat der Kaiserin
Als eines der schwierigsten gilt das Diktat der Kaiserin. Es wurde von Kaiserin Eugénie, der Frau Napoleons III., bei Prosper Mérimée als Zeitvertreib für die Hofgesellschaft in Auftrag gegeben.
Interessanterweise war einer der besten Teilnehmer beim berühmten Diktat der Kaiserin Eugénie ein Ausländer. Richard Clemens Fürst von Metternich-Winneburg, österreichischer Botschafter in Frankreich, machte bei diesem äußerst schwierigen Text nur drei Fehler.
Das Diktat der Kaiserin
Pour parler sans ambiguïté, ce dîner à Sainte-Adresse, près du Havre, malgré les effluves embaumés de la mer, malgré les vins de très bons crus, les cuisseaux de veau et les cuissots de chevreuil prodigués par l’amphitryon, fut un vrai guêpier. Quelles que soient et quelqu’exiguës qu’aient pu paraître, à côté de la somme due, les arrhes qu’étaient censés avoir données la douairière et le marguillier, il était infâme d’en vouloir pour cela à ces fusiliers jumeaux et mal bâtis et de leur infliger une raclée alors qu’ils ne songeaient qu’à prendre des rafraîchissements avec leurs coreligionnaires.
Um es ohne Zweideutigkeit zu sagen: Dieses Abendessen in Sainte-Adresse, nahe Le Havre, war trotz der balsamischen Düfte des Meeres, trotz der Weine aus besten Lagen, der Kalbskeulen und Rehschlegel, die der Gastgeber verschwenderisch auftischte, ein wahres Wespennest. Wie gering auch immer im Vergleich zur geschuldeten Summe die Anzahlung erscheinen mochte, die die verwitwete Dame und der Kirchenvorsteher angeblich geleistet hatten, es war infam, deswegen diese schlecht gebauten Zwillings-Füsiliere zu beschuldigen und ihnen eine Tracht Prügel zu verabreichen, wo sie doch nur daran dachten, mit ihren Glaubensgenossen Erfrischungen zu sich zu nehmen.
Ein Volk, das die Rechtschreibung feiert
Kein anderes Land macht aus dem Diktat eine derartige Show. Nationale Meisterschaften im Diktat-Schreiben? Bien sûr ! Übertragungen im Fernsehen? Mais oui ! 1985 gründete Bernard Pivot die Championnats de France d’orthographe. 1992 wurde er in Championnats mondiaux d’orthographe (Weltmeisterschaften in Rechtschreibung) umbenannt.
1993 erhielt der nationale Rechtschreibwettbewerb im Fernsehen den Namen Dicos d’or (Goldene Wörterbücher). Nach Pivots Tod im Mai 2024 richtete der ehemalige Bürgermeister von Villefranche-sur-Saône, Bernard Perrut, einen Aufruf an das Kulturministerium, Pivots Erbe fortzuführen. Er schlug vor, jährlich einen Tag oder eine Woche für eine Dictée Bernard Pivot (Bernard-Pivot-Diktat) in allen französischen Schulen einzuführen. Der Aufruf verhallte, die Liebe zum Diktat blieb.
In den besten Zeiten jedoch saßen bis zu 30.000 Franzosen in Klassenzimmern, Hallen oder sogar Stadien – mit gespitzten Stiften und tiefem Atem – und schrieben um die Wette.
Millionen verfolgten das Spektakel vor dem Bildschirm, mitfiebernd bei jedem Komma, jedem accent aigu. Frankreich ist das einzige Land, in dem ein falsch gesetzter Apostroph emotional fast so viel auslösen kann wie ein verschossener Elfmeter. Und warum diese Begeisterung? Die Antwort liegt in der französischen Seele.
Tanzende Wörter im Bahnhof
Diktate können nicht nur unterhaltsam, sondern auch spektakulär sein,. Die Veranstaltungsreihe Dictée en gare, organisiert von France Culture und SNCF Gares & Connexions, machte im Jahr 2024 Bahnhöfe im ganzen Land zu Orten der Sprachkultur. Das große Finale fand am Dienstag, den 3. Dezember 2024, im Bahnhof Paris Saint-Lazare statt – und hätte kaum kreativer sein können.
Unter dem Motto Danse avec les mots (Tanz mit den Wörtern) stellten fünf verschiedene Diktate, jeweils zur vollen Stunde, die Orthographie-Fähigkeiten der Schreibfreunde auf die Probe. Zwischen den Diktaten sorgten Hip-Hop-Aufführungen vom Kollektiv Génération Turgot für Unterhaltung. Unterstützt von der BNP Paribas-Stiftung, die die Hip-Hop-Kultur seit Jahren fördert, verband die Veranstaltung die Tradition der Sprache mit der Dynamik moderner Kunst.
Moderiert wurde das Event von Rachid Santaki, auch bekannt als Monsieur Dictée, der längst zur Kultfigur der französischen Diktat-Szene avanciert ist. Mit Charme und Fachkenntnis führte er durch den Tag, unterstützt von prominenten Persönlichkeiten, die die Texte vorlasen. Santaki, selbst Schriftsteller und Sprachenthusiast, hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Diktat aus den Klassenzimmern in die Gesellschaft zu bringen – und das mit großem Erfolg.
Die Sprache als nationales Heiligtum
Die Franzosen lieben ihre Sprache. Nicht nur, weil sie schön klingt, sondern weil sie ein Teil ihres nationalen Stolzes ist. Die französische Sprache ist nicht einfach ein Kommunikationsmittel; sie ist Identität, Kultur, Geschichte. Sie ist das Erbe von Voltaire, Molière und Victor Hugo. Und was könnte besser zeigen, dass man dieses Erbe ernst nimmt, als ein perfektes Diktat?
Hinzu kommt, dass die französische Orthografie – seien wir ehrlich – ein Moloch ist. Regeln gibt es in Hülle und Fülle, Ausnahmen noch mehr. Warum schreibt man oignon (Zwiebel) so, wenn es doch oni-yon ausgesprochen wird? Und warum hat das Wort oiseau (Vogel) sechs Buchstaben, von denen vier stumm sind? Das weiß niemand so genau – und genau das macht den Reiz aus. Ein fehlerfreies Diktat in französischer Sprache ist wie ein intellektuelles Abzeichen: Wer das schafft, hat nicht nur die Regeln verstanden, sondern auch die Kunst, sich durch ein Dickicht aus Konventionen und Ausnahmen zu kämpfen.
Ein Wettkampf für den Kopf
Doch es geht nicht nur um die Sprache. Diktat-Wettbewerbe sind auch ein intellektueller Wettkampf. Sie erfüllen die französische Leidenschaft für geistigen Wettbewerb, die in der Schule beginnt und ein Leben lang anhält. In Frankreich wird Bildung gefeiert wie anderswo sportliche Erfolge. Ein guter Schüler ist nicht nur ein fleißiger Schüler. Er ist ein Held. Und ein fehlerfreies Diktat? Das ist sein Pokal.
Es überrascht nicht, dass Diktate auch ein Mittel zur Bekämpfung des Analphabetismus sind. In einem Land, das Bildung als Grundpfeiler der Republik sieht, ist das Diktat nicht nur ein Spiel. Es ist ein Werkzeug, um sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wird. Ein fehlerfreies Schreiben ist eine Eintrittskarte in die Gesellschaft, ein Zeichen von Teilhabe.
Ein Stück Nostalgie
Doch die Liebe zum Diktat ist auch Nostalgie. Wer in Frankreich aufwächst, kennt das Ritual der Diktate aus der Schule. Es gibt nichts Französischeres, als einen Lehrer, der einen Text voller Tücken vorliest, während die Schüler mit vor Anspannung gekrümmtem Rücken schreiben. Das Geräusch von kratzenden Füllfederhaltern auf Papier – das ist für viele Franzosen die akustische Erinnerung an ihre Kindheit.
Dieses Gefühl, diese Mischung aus Nervenkitzel und Stolz, wird bei jedem öffentlichen Diktat wiederbelebt. Es ist, als ob man für einen Moment in die Schulzeit zurückversetzt wird, nur ohne den Druck der Noten.
Die Zukunft des Diktats
Und was kommt als Nächstes? Virtuelle Diktate? Internationale Turniere? Vielleicht. Die Franzosen werden sicherlich einen Weg finden, ihre Liebe zur Rechtschreibung weiter auszuleben. Denn eines ist sicher: So lange es die französische Sprache gibt, wird es auch das Diktat geben.
Vive la dictée ! Ein Land, das seine Sprache so sehr liebt, dass es sie zu einem Wettkampf macht, hat nicht nur Humor, sondern auch Herz. Und wer weiß? Vielleicht sollten wir alle ein bisschen mehr wie die Franzosen sein: bereit, uns mit Leidenschaft und einer Prise Wahnsinn den kleinen, aber wichtigen Dingen des Lebens zu widmen – wie der richtigen Schreibweise von pamplemousse.
Dieses Wort schafft es alljährlich auf den ersten Platz im Ranking der am häufigsten falsch geschriebenen Wörter im Diktat. Die französische Sprache ist berüchtigt für ihre orthografischen Tücken, und überraschend viele Alltagswörter schaffen es regelmäßig auf die Listen der häufigsten Rechtschreibfehler. Hier sind einige der Klassiker, die selbst Muttersprachlern Kopfzerbrechen bereiten.

Top 10: Diese Wörter schreiben Franzosen im Diktat am häufigsten falsch
- Pamplemousse (Pampelmousse)
- Accueil (Empfang)
– Häufig falsch geschrieben als acceuil. Die Reihenfolge der Vokale „eu“ und „ue“ sorgt oft für Verwirrung. - Développement (Entwicklung)
– Viele vergessen das Doppel-„p“ und schreiben es als dévelopement. - Apparence (Erscheinung)
– Hier wird oft ein „r“ zu viel oder zu wenig hinzugefügt, z. B. aparrence. - Rythmique (rhythmisch)
– Ein Albtraum für viele Franzosen – wo gehört denn nur das h hin… und wird es ein- oder zweimal verwendet? Das Wort fusst im griechischen rhythmós. Vereinfacht wird es gerne zu ritmique – und dabei auch das „h“ völlig vergessen. - Parallèle (parallel)
– Die Doppel-„l“s und das Akzentzeichen machen es komplizierter, als es scheint. Ein häufiger Fehler: parralele. - Exagérer (übertreiben)
– Akzente sorgen hier für Verwirrung. Viele schreiben exagerer ohne diakritische Zeichen. - Nécessaire (notwendig)
– Das Doppel-„s“ und das „c“ sind beliebte Stolpersteine. Ein Klassiker: nécéssaire. - Professeur (Lehrer)
– Eigentlich heißt es professeur, mit nur einem „f“. Aber viele verdoppeln den Buchstaben, schreiben proffesseur und scheitern damit. - Orthographe (Rechtschreibung)
– Ironischerweise wird das Wort selbst oft falsch geschrieben – als ortographe. Wie passend, nicht wahr?
L’Académie française: oberste Hüterin der Sprache
Man kann über das Diktat in Frankreich nicht sprechen, ohne die ehrwürdige Académie française zu erwähnen – jene Institution, die seit fast 400 Jahren über die französische Sprache wacht, als wäre sie ein nationaler Schatz (was sie für die Franzosen zweifellos ist). Gegründet im Jahr 1635 von Kardinal Richelieu, war die Académie von Anfang an so etwas wie die oberste Instanz in Sachen Sprache – ein „Sprachgerichtshof“, der sich nicht mit weniger als Perfektion zufriedengibt.
Ihre Hauptaufgabe? Die Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache. Dazu gehört die Erstellung eines normativen Wörterbuchs, das seit 1694 regelmäßig überarbeitet wird. Die Académie hat dabei keine Angst vor drastischen Maßnahmen: Im Jahr 1740 änderte sie mit einem einzigen Wörterbuch die Schreibweise von mehreren tausend Wörtern. Ein mutiger Schritt, der zeigt, dass selbst die Franzosen gelegentlich bereit sind, ihre geliebte Sprache ein wenig zu modernisieren – wenn auch mit viel Widerstand und Drama.
Die Entscheidungen der Académie beeinflussen bis heute Schulbücher, Textverarbeitungsprogramme und sogar das Amtsblatt der Französischen Republik, das Journal officiel. 1990 nahm sie sich der Herausforderung an, einige der absurdesten orthografischen Anomalien zu beseitigen – was viele Franzosen begrüßten, während andere empört die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Es ist schließlich nicht leicht, jahrhundertealte Schreibweisen loszulassen, die sich wie ein wohlgehütetes Geheimnis anfühlen.
Die Rechtschreibreform von 1990 in Frankreich führte zu einigen bemerkenswerten Änderungen. Hier einige Beispiele
Entfernung des Bindestrichs in zusammengesetzten Wörtern:
porte-monnaie wurde zu portemonnaie (Geldbörse)
week-end wurde zu weekend (Wochenende)
Vereinfachung der Schreibweise einiger Wörter:
oignon wurde zu ognon (Zwiebel)
nénuphar wurde zu nénufar (Seerose)
Entfernung des Zirkumflex in bestimmten Fällen:
maîtresse wurde zu maitresse (Lehrerin)
coût wurde zu cout (Kosten)
paraître wurde zu paraitre (erscheinen)
Änderungen bei der Pluralbildung:
des après-midi wurde zu des après-midis (Nachmittage)
Vereinheitlichung von Wortfamilien:
imbécillité wurde zu imbécilité (Dummheit)
Diese Änderungen lösten heftige Debatten aus. Die Kontroverse erreichte 2016 einen Höhepunkt, als bekannt wurde, dass die neuen Schreibweisen in Schulbüchern verwendet werden sollten, was zu Protesten in sozialen Medien unter dem Hashtag #JeSuisCirconflexe führte.
Doch die Académie française ist mehr als nur eine Sprachwächterin. Sie fördert Literatur, verwaltet Stiftungen und vergibt Preise, die in Frankreich ein ähnliches Prestige genießen wie ein fehlerfreies Diktat. Trotz gelegentlicher Kritik an ihrem konservativen Ansatz bleibt sie eine Institution, die in der französischen Gesellschaft tief verankert ist.
Im Gegensatz zur Académie française in Frankreich gibt es in Deutschland keine einzelne Institution mit vergleichbarer Autorität und historischer Bedeutung für die Standardisierung und Pflege der deutschen Sprache. Stattdessen teilen sich mehrere Organisationen diese Aufgabe: der Rat für deutsche Rechtschreibung, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: die Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. und der Deutsche Sprachrat.
Diese Institutionen haben jedoch nicht die gleiche zentrale Autorität wie die Académie française. In Deutschland ist die Sprachpflege dezentraler organisiert, und die Rechtschreibung wird durch Verwaltungsvorschriften geregelt, die von Bund und Ländern erlassen werden.
Ironischerweise ist es oft die Académie française selbst, die für die Komplexität der französischen Rechtschreibung verantwortlich gemacht wird. Die Franzosen lieben ihre Sprache, aber sie lieben es auch, sich über die endlosen Regeln und Ausnahmen zu beschweren – Regeln, die eben oft von der Académie stammen. Aber genau diese Mischung aus Respekt und Resignation gegenüber den sprachlichen Eigenheiten macht die Diktate in Frankreich zu einem so beliebten Phänomen.
Denn wer, wenn nicht die Franzosen, würde sich freiwillig mit einem Text voller Stolperfallen auseinandersetzen – und dabei noch stolz auf die Komplexität der eigenen Sprache sein? Die Académie française mag zwar streng sein, aber sie erinnert die Franzosen daran, dass Sprache nicht nur ein Werkzeug ist, sondern ein Kunstwerk. Und genau darum lieben die Franzosen ihr kulturelles Ritual: la dictée – das Diktat.
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Im Blog
In Frankreich geht die Liebe zur Sprache so weit, dass dem Französischen sogar ein riesiges Museum gewidmet ist. Und natürlich könnt ihr dort auch interaktiv euer Sprachwissen im Diktat testen – mehrfach und auf verschiedenen Sprachstufen. Mehr über die Cité Internationale de la Langue Française erfahrt ihr hier.
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… das ist eine interessante Frage, liebe Martina! Ich bleib dran bei diesem Thema!