Les gens du voyage: Wer sind sie?
Gens du voyage: Immer wieder seht ihr in Frankreich, und besonders im Süden des Landes, solche Schilder, die hinführen zu Rastplätzen für diese Menschen, die bis heute abwertend auch „Zigeuner“ genannt werden. Die gens du voyage bilden eine besondere Bevölkerungsgruppe in Frankreich. Ihre nomadische Lebensweise und ihre einzigartige Kultur unterscheiden sie vom Rest der Gesellschaft, was dazu beigetragen hat, eine Aura des Geheimnisses um sie herum zu schaffen.
Wer sind die Gens du voyage?
Im Jahr 1912 führten die französischen Behörden den Begriff „Nomaden“ für seine nicht sesshafte, umherreisende Bevölkerung ein. Diese Fahrensleute, ob Zirkusartist, Schausteller oder einem anderen „fahrenden Volk“ zugehörig, mussten vom 16. Juli 1912 auch ein spezielles Ausweisdokument mit sich führen: das carnet anthropométrique. Solch eine Auflage war zuvor nur für Berufsverbrecher üblich gewesen.
Diese carnets musste jeder „Nomande“ an jedem Halteort täglich von den örtlichen Beamten – Bürgermeister, Stellvertreter und Lehrer – unterzeichnen lassen. Im Heft festgehalten waren neben einem Passfoto im Profil und von vorne auch Fingerabdrücke. Hier gibt es ein paar Eindrücke davon.
Das Gesetz ermöglichte die Feststellung der Identität der als „Nomaden“ kategorisierten Personen und Gruppen und die lückenlose Überwachung ihrer Bewegungen. Mit ihm begann die systematische Ausgrenzung und Überwachung der „Nomaden“, die schließlich in deren Internierung während des Zweiten Weltkriegs gipfelte.
Erst 57 Jahre später, am 3. Januar 1969, wurde das Gesetz von 1912 aufgehoben. Die Nomaden heißen seitdem gens du voyage. An der Kontrolle und Diskriminierung ändert sich wenig. Ihr neues Heft – das carnet de circulation – mussten sie weiterhin von der Gendarmerie abstempeln lassen, nun alle drei Monate.
Erst im Oktober 2012 ertklärte der Verfassungsrat das carnet de circulation für verfassungswidrig, da dieser Reiseausweis „einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Ausübung der Freiheit, sich zu bewegen und zu kommen“ darstelle und „die Ausübung der Bürgerrechte in ungerechtfertigter Weise einschränke“. Der Verfassungsrichter hielt jedoch an der vom Gesetzgeber festgelegten Verpflichtung für reisende Personen fest, ein Fahrtenbuch zu besitzen, das weniger Zwang ausübt als das carnet de circulation. Olivier Le Mailloux, der im Namen der Fahrendenverbände argumentierte im Rechtsstreit gegenüber dem Staatsrat, dass jegliche Fahrtenbücher gegen die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte verstößen. Fünf Jahre später gab ihm die loi relative à l‘égalité et à la citoyenneté vom 27. Januar 2017 recht.
Ein Name, viele Gruppen
Der Begriff der gens du voyage umfasst nicht eine homogene Bevölkerungsgruppe, sondern ganz verschiedene Gruppen, jede mit ihrer eigenen Geschichte und Traditionen. Zu den bekanntesten Gruppen gehören:
Die Tsiganes
- Die Roma: Sie stammen aus Indien und kamen im Mittelalter nach Europa, wo sie sich in vielen Ländern, darunter Frankreich, niederließen.
- Die Manouches oder Sinti: Ebenfalls indischer Herkunft, kamen sie später als die Roma nach Europa und ließen sich hauptsächlich in Frankreich, Deutschland und der Schweiz nieder. In Frankreich ist das Elsass eine Hochburg der Sinti.
- Die Gitans oder Kalé: Sie stammen aus Spanien und kamen im 16. Jahrhundert nach Frankreich.
Andere Völker
- Die Jenischen: Sie stammen aus dem deutschsprachigen Raum (Österreich, Schweiz und Deutschland und sind seit dem 16. Jahrhundert in Frankreich präsent.
Nahezu alle Menschen, die in Frankreich als gens du voyage klassifiziert sind, besitzen die französische Staatsbürgerschaft, und viele der Familien sind seit Jahrhunderten in Frankreich daheim. Dennoch werden sie von sesshaften Franzosen oft für Ausländer gehalten.
Obwohl diese Gruppen einige Gemeinsamkeiten haben, wie z. B. den Nomadismus und eine reiche mündliche Kultur, weisen sie auch erhebliche Unterschiede auf, insbesondere in Bezug auf Sprache und Traditionen.
Franzosen wie alle anderen
„Wir sind genauso Franzosen wie alle anderen auch“, betont Laurent El Ghozi. Der Sprecher der Organisation FNASAT – Gens du voyage, die in Frankreich das „fahrende Volk“ vertritt, gehört zu den wichtigsten Stimmen der gens du voyage.
Auf etwa 400.000 wird ihre Zahl geschätzt, wobei etwa ein Drittel regelmäßig reist, ein Drittel gelegentlich und ein Drittel weitgehend sesshaft ist. Von Unterstützung und Akzeptanz bis hin zu Vorurteilen und Ablehnung reicht die Bandbreite der Reaktionen, wenn „Franzosen“ sie sehen oder mit ihnen in Kontakt kommen.
Bis heute werden die gens du voyage als „geheimnisvoll“ oder schwer verständlich wahrgenommen werden, obwohl sie ein integraler Teil der französischen Gesellschaft sind.
Da sie am Rande der sesshaften Gesellschaft leben, werden sie oft als Fremde, ja sogar als Außenseiter wahrgenommen – nicht nur aufgrund der Nicht-Sesshaftigkeit, sondern auch ihrer Kultur. Sie wird von Generation zu Generation bis heute mündlich weitergegeben und ist nicht schriftlich fixiert, so dass sie der breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannt geblieben ist.
Nur wenigen ihrer Künstler gelang es, weltberühmt zu werden. Dazu gehört, allen voran, Django Reinhardt, der zwar in Belgien geboren wurde, aber den Großteil seines Lebens in Frankreich verbachte. Er war ein Sinti und gilt bis heute als einer der einflussreichsten Jazzgitarristen aller Zeiten.
Manitas de Plata war ein Flamenco-Virtuose aus Sète, der eine beeindruckende Diskografie mit mehr als 80 Alben und insgesamt 93 Millionen verkauften Exemplaren hinterlasen hat. Der „Gitarrist mit den Silberhänden“ ist 2023 im Alter von 93 Jahren verstorben .
Der zeitgenössische Maler Gabi Jiménez, der in seinen Werke oft das Leben und die Kultur der Roma und Sinti thematisiert und sich selbst als gitano bezeichnet, hat Frankreich im ersten Roma-Pavillon auf der Internationalen Biennale für zeitgenössische Kunst in Venedig vertreten. Tony Gatlif schließlich ist ein franco-algerischer Filmemacher mit Roma-Wurzeln, der in seinen Filmen oft Themen rund um die Roma-Kultur und -Geschichte behandelt
Aus Angst vor Benachteiligung machen jedoch viele Künstler der gens du voyage ihre Herkunft nicht immer öffentlich. Ihre künstlerischen Beiträge, insbesondere in der Musik, haben die französische und europäische Kulturlandschaft jedoch stark beeinflusst.
Welche Rechte haben sie?
In Frankreich genießen die gens du voyage als französische Staatsbürger die gleichen Rechte wie alle Franzosen – zumindest auf dem Papier. Dazu gehört das Recht auf freie Bewegung, das ihnen gestattet, sich frei im französischen Hoheitsgebiet zu bewegen und niederlassen, wo sie wollen. Das Recht auf Bildung sichert ihren Kindern das Recht zu, unter den gleichen Bedingungen wie andere Kinder zur Schule zu gehen. Auch für die Kinder der gens du voyage gilt bis zum 16. Lebensjahr die Schulpflicht.
Tatsächlich sieht es anders aus. Laut den Statistiken des Centre social ressources Gens du voyage besuchen 32 Prozent der Kinder der gens du voyage den Kindergarten, 82 Prozent die Grundschule und nur 19 Prozent das Collège. Hinter diesen Zahlen verbergen sich jedoch sehr unterschiedliche Situationen auf den einzelnen Rastplätzen. Das Département Franche-Comté bringt in einem Pilotprojekt mit camions écoles, gut ausgestatteten Schul-Lastern, Bildung für alle auf die aires d’accueil.
Ähnliche Problme gibt es bei der Gesundheitsversorgung. Um eine Krankenversicherung und damit eine carte vitale zu erhalten, muss man sich ausweisen können – doch viele gens du voyage haben Schwierigkeiten, einen Ausweis zu erhalten, obwohl dieser in Frankreich Pflicht ist. Ohne Ausweis keine Karte, ohne Karte keine Behandlung: ein Teufelskreis. Nicht immer korrekt umgesetzt ist das Recht der gens du voyage auf Zugang zu Wasser und Strom, der die Gemeinden verpflichtet, ihre aires d’accueil mit Wasser- und Stromanschluss auszustatten.
Verankert sind diese Rechte in mehreren Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. Bekannt wurde besonders die Loi Besson, die nach dem damaligen französischen Minister für Wohnungswesen und Stadtentwicklung, Louis Besson, am 5. Juli 2000 verabschiedet wurde. Sie zielte darauf ab, die Situation der gens du voyage in Frankreich zu verbessern, indem es ihnen mehr Rechte und bessere Lebensbedingungen ermöglichte. Dazu gehört seitdem auch eine Pflicht, die einem sozialen Pulverfass gleicht.
Das Recht auf Rastplätze
Die Loi Besson verpflichtet seit der Jahrtausendwende Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern, Campingplätze für die gens du voyage einzurichten. Diese Campingplätze müssen mit Wasser, Strom und sanitären Einrichtungen ausgestattet sein. Außerdem müssen sie sich in der Nähe von Stadtzentren und öffentlichen Einrichtungen befinden. Zwei Arten von Rastplätzen sind vorgesehen: kleine aires permanentes d’accueil (APA) und aires permanentes de petite passage (APPP) für Familien und kleine Gruppen sowie die deutlich größeren aires de grand passage (AGP) für große Gruppen.
Doch ein Blick auf die Landkarte zeigt: Nicht einmal die Hälfte der Kommunen haben diese Auflage erfüllt, obgleich ihnen der Staat finanziell unter die Arme greift. Er trägt 70 Prozent der Kosten von aires d’acceuil und sogar 100 Prozent bei der Anlage der aires de grand passage.
42.000 Plätze lautet das Plansoll für Frankreich. 20 Jahre nach der Loi Besson waren es nicht einmal zur Hälfte erfüllt.
Mit der Einrichtung offizieller Stellplätze wurden andere Möglichkeiten, legal anzuhalten, stark eingeschränkt. Dies reduzierte massiv die Bewegungsfreiheit der gens du voyage – und sorgt immer wieder für illegale Rastplätze. Wer dort erwischt wird, riskiert seit Ex-Präsidente Sarkozy neben hohen Bußgeldern sogar den Gang ins Gefängnis.
Das Gros der Stellplätze für die gens du voyage lädt nicht zum Bleiben ein. Meist befinden sich diese aires de voyage am Rande von Industriegebieten oder Deponien, an Autobahnen oder anderen unattraktiven oder sogar gesundheitsschädigenden Gebieten. Gratis sind dort die Nächte, entgegen aller Gerüchte, nicht. Pro Nacht werden Übernachtungskosten fällig – und Abgaben für Wasser und Strom, falls vorhanden.
Die Rastplätze der gens du voyage, ob offiziell oder illegal, sorgen bis heut für Spannungen zwischen den „fahrenden Leuten“ und der lokalen Bevölkerung. Die Toleranz für die „so ganz anders lebenden“ Franzosen endet am eigenen Lebensumfeld. Sobald die gens du voyage mit ihren weißen Caravans auf den offiziellen aires oder illegalen Rastplätzen ihre Wohnwagen-Burgen bilden, hagelt es Kritik – und brodelt die Gerüchteküche.
Die Gemeinde Claira im Süden Frankreichs ist seit vielen Jahren ein Brennpunkt der Spannungen zwischen de gens du voyage und der lokalen Bevölkerung. Immer wieder kommt es dort zu illegalen Wagenburgen der gens du voyage in der Nähe des Ortes, was regelmäßig zu Protesten und Auseinandersetzungen führt. Welches Volumen die Fahrten allein im Département Pyrénées-Orientales haben, zeigt der Aufnahme-Plan für die Jahre 2021-2026, der mit einem Überblick zum Status Quo beginnt und allein für die Woche 33 des Jahres 2019 insgesamt 585 Wohnwagen erfasst. 22 Prozent der durchziehenden Gruppen im Departement besaßen mehr als 100 Gespanne. 78 Prozent der durchreisenden Gruppen waren kleiner als 50 Wohnwagen, aber viel mobiler – und wechselten alle paar Tage den Standort.
Für Probleme sorgt die lokal sehr ungleichmäßige Verteilung. Der offizielle Rastplatz in Pia lockt 95 Prozent der gens du voyage an. Wer dort keine Aufnahme findet, rastet illegal im Umland – wie beispielsweise im Nachbarort Claira oder entlang der Départementsstraße nach Le Barcarès. Im Morgengrauen räumte die Polizei im Juni 2024 dort beispielsweise hinter Lidl im Gewerbepark espace Cap Roussillon ein illegales Lager der gens du voyage.
Die offizielle aire d’accueil versteckt sich zwischen Blumenfachmarkt und Pool-Handel, zwischen der Départementsstraße D900 und der Autobahn, nur wenige Kilometer auf einem Gelände, das bei ergiebigen Regenfällen gerne unter Wasser steht. Dann verlässt auch der nahe Agly, im Sommer als mediterraner Küstenfluss oftmals ausgetrocknet, sein Bett und flutet die Anlage so sehr, dass selbst die Betten schon nass wurden.
Dort treffe ich Michel, der in seinem Arbeitsleben in Offenbach in einer Fabrik gearbeitet hat. Als Rentner zog es den Sinti in den Süden. Mit seinen beiden Wohnwagen hat er seinen Stellplatz zu einer Burg gemacht, blickdicht abgeschirmt nach außen. Der eine Wohnwagen birgt Küche und Wohnzimmer, der zweite Wohnwagen das Schlafzimmer. Dort sorgt eine mobile Klimananlage für Kühle.
Auf seiner kleinen „Terrasse“ thront eine riesige Mikrowelle auf einem Klapptisch, Grill und Backofen integriert. Unter dem Tisch liegen Michels Hunde und beginnen zu kläffen, als ich Michels Zuhause betrete. Die dritte Wand seiner Burg bildet der Sanitärblock mit türkischem WC, Waschbecken und Dusche, die Wände weiß gefliest mit rotem Zierststreifen.
Zwei Euro kostet pro Tag sein Stellplatz. Hinzu kommen die Kosten für Strom und Wasser. „Rund 300 Euro im Monat kostet mich alles hier“, sagt Michel. „Hier kann ich als Rentner gut leben – selbst im Winter.“ Viel unterwegs ist er nicht mehr. Und wenn, dann mit dem Flieger, um in Paris seine Tochter zu besuchen. Sein Sohn lebt auf dem benachbarten Stellplatz der aire d’accueil von Rivesaltes.
Kennengelernt habe ich Michael über den gardien, dem Hüter des Rastplatz. Im Schatten einiger Olivenbäume hatte er eine weiße stapelbare Plastikstühle im Kreis aufgestellt und saß dort mit einen anderen Männern zusammen, als ich den mit einem Tor gesicherten Rastplatz betrat. Alle musterten mich neugierig.
In einem mobilen Badepool plantschen zwei Jungs, vielleicht fünf, sechs Jahre alt, und winkten mir zu. Als ich zurückwinkte, sagte der gardien. Nun erzählen Sie mal, was wollen Sie hier? Es war meine erste Begegnung mit den gens du voyage. Und wurde ein langer, unglaublich interessanter Abend. Aus Rücksicht vor ihrer Privatsphäre habe ich bewusst auf Fotos verzichtet.
Die gens du voyage: die Infos
Gesetzestexte
→ loi du 3 janvier 1969 relative à l’exercice des activités ambulantes et au régime
applicable aux personnes circulant en France sans domicile ni résidence fixe
→ loi du 5 juillet 2000 relative à l’accueil et à l’habitat des gens du voyage
→circulaires du 25 avril 2002 relatives à la scolarisation des enfants du voyage
→ circulaire du 26 août 2012 relative à l’anticipation et à l’accompagnement des
opérations d’évacuation des campements illicites
Weiterlesen
Im Web
→ das Collectif Romeurope
→ die FNASAT-Gens du Voyage
→ die Agentur für fundamentale Grundrechte der EU
Im Blog
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