Jean Strazzeri, der letzte Handschuhmacher von Grenoble. Foto: Hilke Maunder
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Der letzte Handschuhmacher von Grenoble

Perrin, Jouvin, Vallier: Wer kennt noch diese Namen? Sie machten im 19. Jahrhundert Grenoble zur Hauptstadt für Luxushandschuhe. Jede zweite Familie war dort damals mit der ganterie, der Handschuh-Fertigung, verbunden. 400.000 Handschuhe betrug 1851 die jährliche Produktion.

Bis 1862 verdoppelten sich die Zahlen und erreichten 1869 mit einer Million Handschuhe ihren Rekord. Grenoble produzierte nicht nur für Frankreich, sondern exportierte auch nach Großbritannien und Nordamerika seine Handschuhe.

Gastarbeiter aus Neapel

Die hohe Nachfrage überstieg bereits 1860 bei weitem alles, was die örtlichen Handschuhmacher noch leisten konnten. Gastarbeiter mussten her! Grenoble holte Handschuhmacher aus Neapel, die auf die Herstellung von Ziegenlederhandschuhen spezialisiert waren. Und auch aus Millau wurde Hilfe nach Grenoble geholt.

Im Jahr 1870 gingen 60 Prozent der in Grenoble hergestellten Handschuhe (1 Million Dutzend Paare) nach Großbritannien. Bis heute verraten die Straßen von Grenoble, und besonders im Stadtviertel Aigle, wohin die Handschuhe exportiert wurden. Paris, New York, London oder Boston prägen dort die Straßennamen.

Ladenschild eines Handschuhmachers in Grenoble. Foto: Hilke Maunder
Ganterie: Hier gibt es handgenähte Handschuhe. Noch. Denn dieses alte Handwerk liegt im Sterben. Foto: Hilke Maunder

 Boomendes Handwerk der Belle Époque

180 Handschuhfabriken, ein Dutzend Megisserien und etwa 20 Färbereien der Lederhäute waren damals in Grenoble für das boomende Handwerk tätig.  Hinzu kamen 30.000 Näherinnen und Stickerinnen und 3.800 Schneider. Um 1880 erreichte die Handschuhherstellung eine neue Rekordmarke mit  1,5 Millionen Handschuh-Paaren!

Handschuhe herzustellen war damals zwar noch immer Heimarbeit in der Hand von Frauen, doch auch erste städtische Werkstätten entstanden – vor allem in den neu in die Stadtmauer eingezogenen Vierteln wie Berriat und Saint-Bruno. Dort wurde nicht mehr im Schein von Kerzen oder schwacher Leuchten genäht, sondern fand die Fertigung in großen, hellen und sauberen Räumen statt.

Heimarbeit schlägt Fabrik

Doch so ganz wurde der Übergang zur Fabrik nicht vollzogen. Nur in acht der insgesamt 83 Handwerksbetrieben von Grenoble arbeiteten um 1900 mehr als 100 Mitarbeiter. Familienwerkstätten und Heimarbeit überdauerten den Wandel.

Erstaunt notierte Jean Jaurès damals, die Handschuhindustrie in Grenoble sei auf halbem Wege zwischen der kleinen handwerklichen Industrie von einst und der modernen kapitalistischen Großindustrie stehen geblieben.

Feinstes Zickleinleder: Handschuhe aus Grenobel
Feinstes Zickleinleder: Handschuhe aus Grenoble. Foto: Hilke Maunder

Gegenseitige Hilfe

Während dieser Zeit des Aufschwungs entstanden – im Vergleich zum restlichen Land – bereits sehr früh die mutuelles. Einer der ersten Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit wurde im April 1803 auf Initiative von Handschuharbeitern gegründet.

Auch wenn dieses Sozialmodell in seinen Anfängen nicht alle Arbeiter betraf, bildete es die Grundlage für die späteren Vorsorgesysteme für Arbeitnehmer.

Seit zum Ende Februar 2017 Marie-Anne Jacquemoud die Türen ihrer Gants Marianne für immer schloss, hält nur noch ein einziger Mann das Traditionshandwerk lebendig: Jean Strazzeri.

Jean Strazzeri – der letzte seiner Zunft

Das Certificat d’aptitude professionnelle (CAP) de coupeur, den Fachabschluss als Zuschneider in der Tasche, verließ er mit 14 Jahren die Schule und begann 1964 als Lehrling bei der Ganterie Lesdiguières. Damals waren dort unter der Leitung von Jean Marino 120 Mitarbeiter beschäftigt, 50 in der Werkstatt, 70 daheim.

Entlassung um Entlassung folgte. Die Folge: Jean übernahm zunehmend Aufgaben, die vorher von anderen Spezialisten gemacht wurden. „So lernte ich, einen Handschuh von Anfang bis Ende zu fertigen – und nicht nur zuzuschneiden.“

So stieg er im Laufe der Jahre vom Azubi zum Chef der Ganterie Lesdiguières auf, die bis heute ein Familienunternehmen ist. Seine Frau Odile kümmert sich seit 1980 um den Vertrieb und die Buchhaltung, Tochter Julie um das Ladengeschäft.

1994 kaufte die Familie die Ganterie Barnier, die seit 1885 in La Fontaine bei Grenoble daheim ist. „Wir fertigen heute in der ältesten Handwerksfabrik Frankreichs. Und wo wir wohnen, haben schon immer Handschuhmacher gelebt“, erzählt Monsieur stolz.

Einer der besten Kunsthandwerker Frankreichs

Jean Strazerri bewahrt in nostalgischen Holzschrank seine Handschuhe auf. Foto: Hilke Maunder
Jean Strazzeri bewahrt seine Handschuhe in nostalgischen Holzschränken auf. Foto: Hilke Maunder

Seit 2000 gehört er als einer der landesweit besten Handwerker zum Kreis der Meilleurs Ouvriers de France (MOF). 2008 folgte die Auszeichnung seiner Handschuhe als Patrimoine vivant, als lebendiges Erbe.

Stolz ziert die Trikolore den Kragen seines Kittels. Jean zieht in einem betagten Holzschrank eine Schublade auf. Drinnen liegen, dicht an dicht, Handschuhe in sattem Rot. Unglaublich weich ist ihr Leder. „Wir fertigen all unsere Handschuhe aus Zicklein-Leder. Die Handschuhmacher von Millau arbeiten mit Lamm“, erklärt Monsieur und berührt sanft das Leder.

Wie viel Achtung und Liebe fürs Material steckt in dieser kurzen Bewegung! Vorsichtig legt Jean Strazzeri die Handschuhe zurück in die Schublade. Und greift in eine Schachtel. Heraus holt er einen Zettel.

Feinstes Zicklein auf der Hand

Jene kleinen Handzettel, die der Handschuhmacher seinen Kunden bei Interesse auf Englisch oder Französisch in die Hand drückt, verraten die einzelnen Schritte der Handschuhherstellung. Um das Handwerk zu erhalten, und Handschuhmacher auch als Beruf der Zukunft zu erhalten, engagiert sich Monsieur auf allerhöchster Ebene.

Er macht Lobbyarbeit im Conseil National du Cuir, im Centre Technique du Cuir und als Präsident der Kommission für die wirtschaftliche Entwicklung der Lederbranche Frankreichs (Commission du Développement Economique de la filière du cuir français).

Strazzeri vernetzt sich und ist so agil und aktiv in der Werbung für das Traditionshandwerk, dass man sich fragt, wie der Handschuhmacher es schafft, doch noch im Ladengeschäft zu stehen. Oder dort auf uralten Maschinen an neuen Entwürfen zu arbeiten.

Monsieur Strazerri mit einem handgenähten Herrenhandschuh. Foto: Hilke Maunder
Monsieur Strazzeri mit einem handgenähten Herrenhandschuh. Foto: Hilke Maunder

Das Handschuhmacher-Handwerk von Grenoble: Infos

Ansehen

Musée de la Ganterie

180 Jahre lang fertigte Jouvin seine Handschuhe in Grenoble. Wie, verrät in der einstigen Manufaktur ein kleines, interessantes Museum, das ihr nach vorheriger Anmeldung besichtigen könnt.
• 2, Rue Saint-Laurent, 38000 Grenoble, Tel. 06 81 78 48 44

Shopping

Gants Lesdiguières

Das Ladengeschäft von Monsieur Strazzeri.
• 10 Rue Voltaire, 38000 Grenoble, Tel. 0476 89 11 42, https://ganterie-grenoble.fr

Souvenir-Handschuhe

Im Office de Tourisme, nur wenige Schritte von der Ladenwerkstatt von Jean Strazzeri entfernt, werden diese modernen Handschuhe verkauft. Zuerst dachte ich, es sind reine Souvenirs für Touristen. Doch dann sah ich, dass auch die Einheimischen sie gerne tragen. Es sind allesamt Entwürfe von Benjamin Cuier und Philippe Largèze von FST Handwear.

Eine alte Tradition, poppig neu belebt: Handschuhe von FST. Foto: Hilke Maunder
Eine alte Tradition, poppig neu belebt: Handschuhe von FST. Foto: Hilke Maunder

Hintergrund: das Handschuh-Handwerk in Frankreich

Die Herstellung von Handschuhen aus Leder hat eine lange Tradition in Frankreich und geht bis ins Mittelalter zurück. Als Wiege der ganterie gilt Grenoble. Bis ins 12. Jahrhundert reichen die Wurzeln zurück. Warum gerade Grenoble? Die Stadt liegt mitten in den Alpen … da waren warme Handschuhe gefragt.

Anfangs wurden sie dort nur für den täglichen Gebrauch hergestellt – als warme, rustikale Arbeitshandschuhe. Erst im 16. Jahrhundert wurden die Handschuhe schick – und Statussymbole des Adels. Die besten Handschuhmacher aus Grenoble arbeiteten fortan nur noch für das Königshaus und für den Adel.

Leder, Seide, Baumwolle

Erst im 19. Jahrhundert bekam Grenoble ernsthafte Konkurrenz, besonders von Millau und Saint-Junien. Auch neue Materialien wie Seide und Baumwolle wurden nun für die Herstellung von Handschuhen verwendet.

Besonders Millau entwickelte sich zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten bei der Herstellung von Lederwaren und besonders Handschuhen. Zu dieser Zeit gab es mehrere hundert Handschuhmacher in Millau, die für ihre meisterhafte Handwerkskunst und die Verwendung hochwertiger Materialien bekannt waren.

Der Blick auf Millau vom Aussichtspunkt an der D 809. Foto: Hilke Maunder
Der Blick auf Millau vom Aussichtspunkt an der D 809. Foto: Hilke Maunder

Millau: feinstes Lamm

Rund um Millau im Département Aveyron werden seit Urzeiten Lacaune-Schafe auf den Hochflächen der als Welterbe geschützten causses gezüchtet. Millau verlegte daher auch seine ganterie auf diese Tiere und verarbeitet vornehmlich Lammleder.

Von den mehr als 150 Betrieben um 1900 sind heute nur noch eine Handvoll Unternehmen tägig. Zu ihren gehört die im Jahr 1946 gegründete Maison Lavabre Cadet, deren handgefertigte Lederhandschuhe weltweit gefragt sind – als Luxusartikel.

Saint-Junien: die neue Cité du Cuir

Weniger bekannt als Millau ist die Handschuhfertigung von Saint-Junien, einer Kleinstadt bei Limoges. Seit dem 11. Jahrhundert wurden dort am Ufer der Vienne Häute und Felle verarbeitet. Heute gibt es hier neben der Werkstatt Daquet Maroquinerie für Gürtel und Lederwaren und einer mégisserie, in der Tierhäute sich zu Leder wandeln, drei Handschuhhersteller.

Einer von ihnen ist Agnelle. 1937 hatte Joseph Pourrichou, Direktor der Papeteries du Limousin,  die Handschuhfertigung für seinen Sohn Lucien gegründete. Heute leitet sie Sophie Grégoire in der dritten Generation.

Seit 2013 ist Saint-Junien Gastgeber des Branchentreffens Les Portes du Cuir. 2024 will die Stadt im historischen Viertel der Lederindustrie am Quai des mégisseries die Cité du Cuir eröffnen. 2.700 Quadratmeter auf zwei Ebenen sind für das Branchenzentrum geplant. Vorgesehen ist auch ein Museumsbereich mit einem szenografischen Rundgang zur Geschichte des Leders.

Château-Renault: Hermès

Hermès lässt das Leder seiner feinen Handschuhe, Taschen und Gürtel in Château-Renault im Département Indre-et-Loire von der hauseigenen Gerberei verarbeiten. Das Luxusunternehmen hat dort auch eine Schule für Lederherstellung und Lederbearbeitung eröffnet, um die Traditionen und Techniken der Lederherstellung zu bewahren und junge Handwerker auszubilden.

Tipp: Musée du cuir et de la tannerie

In der ehemaligen Gerberei Tennesso , die von 1597 bis 1978 in Betrieb war, blättert das Leder- und Gerbereimuseum in acht Sälen die Lederherstellung von Château-Renault auf und blickt auf jene Jahre, als mehr als zwanzig Gerbereien an der Brenne Château-Renault im 19. Jahrhundert  zur  „Stadt des Leders“ machten.
 105, Rue de la République, 37110 Château-Renault, Tel. 02 47 56 03 59, www.museeducuir.org

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2 Kommentare

  1. Ich bin sehr begeistert von den immer wieder so höchst interessanten Artikel! Wenn man wie ich mehr als 50 Jahre dieses Land nicht nur bereist sonder erlebt, erfährt man diese Details. Ich bin seit Jahren mit Millau eng verbunden und kenne dort das alte Gewerbe der Handschuhmacher. Und bin seit 1967 oft Grenoble unterwegs gewesen. Dieser Mann und die mit ihm verbundene Geschichte war mir nicht bekannt.
    Herzlichen Dank für Ihre wunderbare Berichterstattung.

    1. Liebe Frau Fohrer, herzlichen Dank! Wenn Sie Lust haben, verfassen Sie doch einmal einen Gastartikel in der Reihe: „Mein Frankreich“ – und stellen Sie dort einmal Ihre ganz besonderen Beziehungen zu Frankreich vor. Bei Interesse bitte Text und Bilder per Mail an mich. Bin gespannt!
      Bon weekend! Hilke Maunder

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