Toulouse-Limoges im Intercités
Die Sonne steht hoch über Toulouse, als der Intercités-Zug sanft ruckelnd den Bahnhof Matabiau verlässt. Das leise Rauschen der Klimaanlage und das metallische Rattern und Rumpeln der Räder begleiten die Bilder in die Hinterhöfe der Stadt, wie sie von der Straße aus nie zu sehen sind.


Weich sind die Sessel im silbergrauen Wagen. Corail verrät ein Schriftzug auf den Waggons, die Schablonenfiguren und Fahrräder schmücken – auf grünem Grund bei den Abteilen der ersten Klasse, auf Lila für die zweite Klasse.

Corail nennt sich eine Serie von Reisezugwagen der französischen Staatsbahn SNCF. Ihre Waggons wurden zwischen 1975 und 1989 mit zentralem Gang sowie Klimaanlage und Sanitärbereich für beide Klassen gebaut. Bekannt sind sie für ihren Komfort und ihre Vielseitigkeit im Regional- und Fernverkehr. In den frühen 2000er-Jahren erhielten die Corail-Intercités ihren charakteristischen Anstrich mit Menschen und Fahrrädern, um die Zugverbindungen attraktiver zu machen und den Fokus auf umweltfreundliche Mobilität zu legen.
Die Fahrt von Toulouse nach Limoges ist eine 292 Kilometer lange Reise mitten durch die Landschaften Südwest- und Zentralfrankreichs, eine stille Reise, gefüllt mit Geschichte, Natur und einem Hauch von Melancholie.



Schnurstracks durch die Ebene
Nach dem Verlassen von Toulouse schnurrt der Zug mit beständiger Geschwindigkeit schnurgerade durch die weite Ebene der Garonne. Der Blick aus dem Fenster schweift über Gewerbegebiete, dann über Felder, durchzogen von schmalen Wegen, die zu einzelnen Höfen führen. Nach etwa 40 Minuten taucht Wasser auf, links der Canal du Montech, dann der Tarn mit seinen mächtigen Fluten.
Doch da hält schon der Zug am linken Ufer, wo Marcel Renard 1856 den Bahnhof Montauban-Ville-Bourbon errichten ließ – mit einer Halle aus Eisen und Glas sowie einem imposanten Empfangsgebäude im neoklassizistischen Stil mit heller Fassade und großen Fenstern. Pendler steigen ein und aus.
Andere Farhgäste haben sich während der Fahrt eine Zigarette gedreht und rauchen ihre clope nun auf dem Bahnsteig, die Hand an der Zugtür.. Nach wenigen Minuten setzt sich der Intercités wieder in Bewegung – sein keuchendes Pfeifen hallt durch die Bahnsteige.

14 Minuten – und 22 Kilometer weiter gen Norden – hält er in Caussade. Im 19. Jahrhundert war es landesweit als „Stadt des Huts“ berühmt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Caussade 30 Fabriken mit über 3.000 Mitarbeitern – darunter Petronille Cantecor, gegründet 1786, Fortuné Cantecor, André Rey und später Rousseau (1939) sowie Auguste Crambes (1946).
Vor allem Stroh- und Filzhüte wurden hier gefertigt. Bis heute gibt es in Caussade Hutfabriken wie Crambes und Willy’s Paris, die das handwerkliche Können und die Techniken der Hutmacherei bewahren. Museen und Ausstellungen dokumentieren die Geschichte und das Handwerk des Hutmachers. Alljährlich im Juli zelebriert das Städtchen sein Hutfestival Les Estivales du Chapeau.

Doch da bläst der chef de train bereits wieder in die Pfeife, rückt die Dienstkappe zurecht und beginnt mit der Fahrkartenkontrolle. Routiniert halten die Passagiere ihre QR-Codes auf dem Handy bereit; nur ein einziges Mal wird im Waggon ein Papierticket vorgezeigt.
Den Kindern gefällt die Abwechslung von der Fahrerei. Sie springen vom Sitz auf, stellen sich aufs Polster und biegen ihre Körper über die Kopflehne. Doch da ist der Schaffner schon bei ihnen und sorgt dafür, dass die Kinder wieder sicher sitzen, schneller, als die Eltern ihre Knirpse ermahnen können.

Caussade markiert den Übergang zu einer neuen Etappe. Hier beginnt der Zug, sich zu winden, sich in die Landschaft zu neigen, während das leise Quietschen der Bremsen die Kurven begleitet.
Das Tal der Garonne entschwindet im Süden. Jetzt erobert der Zug die westlichen Ausläufer des Zentralmassivs und taucht ein in den Quercy. Dann führt die Strecke über die Autobahn A20 – erst darunter, dann darüber hinweg –, bevor die robusten Pfeiler des Bahnhofs von Cahors in Sicht kommen.
Cahors: Die Ruhe des Lot

Cahors, die sanfte Stadt in einer Schleife des Lot. Hier wurde am 2. April 1838 Léon Gambetta, einer der Gründer der Dritten Republik, geboren – und spazierte Angela Merkel im Jahr 1999 beim Gipfeltreffen der G 7 über den Pont Valentré .
Eine gelassene Ruhe strahlt die Stadt aus, in der sich die Abteikirche Saint-Étienne aus dem Gewirr der Dächer erhebt. Im Zug dringt diese Gelassenheit bis in die Waggons vor. 11.44 Uhr. 1 Stunde, 17 Minuten sind wir seit Toulouse unterwegs, 93 Kilometer haben wir zurückgelegt.

Über Lautsprecher macht die Schaffnerin auf den Mittagsservice aufmerksam. Mahlzeiten, im Voraus online bestellt, werden in wenigen Minuten direkt am Platz serviert. Vorfreude macht sich auf einigen Gesichern breit.
Verantwortlich für die Speisekarte der Intercités ist seit 2021 Julie Andrieu, die in ihren Carnets de Julie, kulinarischen TV-Reportagen im Stil von Sarah Wiener, auf den Spuren der cuisine du terroir das Land bereist und in zahlreichen Büchern vorstellt.
Für die Bordgastronomie der Intercités hat die die beliebte TV-Köchin unterr dem Motto Nos territoires gourmands mehrere Menü-Optionen und Gerichtes fürs Speisen auf der Schiene entwickelt. Le Gourmet entpuppt sich als opulenter Salat mit grünen Linsen, Ei, Getränk und Dessert, Le Casse-Croûte als gesund belegtes Sandwich, ergänzt mit Nachtisch und Getränk, L’Express als kleine Genusspause mit Butter-Brioche und Heißgetränk.

Stilles Wasser in Plastikflaschen, nach dem Kaffee der zweitwichtigste Jahresumsatz der Bar, verbannte Andrieu von der Bord-Bar und ersetzte es mit Eau Neuve, dessen umweltfreundliche Verpackung zu 100 Prozent aus biobasiertem, recyceltem und wiederverwertbarem Material besteht.
Pünktlich um 12 Uhr wird ein mobiler Stand durch die Gänge geschoben. Café? Boisson? Sandwich? Pause goûter? Chips ou d’autre grignotage salé? Fast nur jüngere Passagiere geben ein Handzeichen und bezahlen ihren Snack kontaktlos mit Karte.
Familien und Ältere holen Essensboxen aus Taschen und Tüten und stellen sie auf die Ablageflächen und Tische. Sandwiches, Salate, Tartes, Thermoskannen mit Kaffee und, plopp, sogar Wein. Sanftes Kauen und ein Durcheinander aus Essensdüften erfüllt den Waggon. Die Räder rattern, eine wohlige satte Stimmung macht sich breit. Sanft fallen die ersten Augen zu.

Das Ruckeln der Reise
Nach Cahors wird die Strecke wilder, die Landschaft abwechslungsreicher. Der Lot begleitet den Zug für einige Kilometer, bevor grüne Hügel und karge Karsthochflächen, die Causses, das Panorama bestimmen. Steinhäuser mit roten Ziegeldächern tauchen in kleinen Gruppen auf, eingebettet in das endlose Meer aus Eichen und Wacholder. Die Schienen folgen dem Gelände, klettern in weiten Kurven, verlieren sich in Tunneln und tauchen über Viadukte wieder auf.

Der Weg durch den Waggon hin zum WC wird zur Herausforderung. Suchend greifen Hände nach einem Griff, verfehlen ihn … und landen im Haar von Madame. Monsieur errötet, entschuldigt sich, stolpert von dannen. Madame lächelt und schmunzelt über den kleinen Zwischenfall, der die Monotonie des Reisens unterbricht.

Im Zug kann man sich inzwischen kaum auf den Beinen halten. Langsam bewegt man sich vorwärts, stets bedacht, auf keinen Fuß treten, auf keinen Schlafenden zu fallen. Die Kapuze, eine Stirnkappe oder den Schal tief über das Gesicht gezogen, machen es sich die Fahrgäste bequem. Der Waggon wird zum Stillleben des Seins. Ein Raum, der Fremde verbindet, wenn auch nur für einige Stunden.

Souillac: Abschied vom Süden
Über die Dordogne. Und dann: Souillac. Kurz, aber markant ist der Halt. Hier, sagen Einheimische, verlässt man den Süden. Die weißen Kalksteinhäuser des Quercy weichen langsam den robusteren Granitbauten des Zentralmassivs. Die Landschaft wird wilder, die Wälder dichter.
Die mediterrane Leichtigkeit weicht Mitteleuropas ernster Schwere. Wer aussteigt, könnte freitags über den Markt bummeln, die runde Silhouette der Abteikirche bewundern und das Borrèze-Viadukt mit seinen 30 Steinbögen. Doch schon geht es weiter, werden die Augen wieder träge, eingelullt vom Quietschen und Ruckeln. Unbeirrt folgt der Zug seiner 1893 fertiggestellten Lebenslinie. Nie ist er zu voll, nie ganz leer – trotz der Konkurrenz des TGV.
Brive-la-Gaillarde: Eine Stadt mit Rhythmus

Brive-la-Gaillarde – schon der Name verrät den Wechsel. Das französische Wort gaillard bedeutet so viel wie wie „kräftig“ oder „tapfer“ – und hier in Brive bezieht sich der Zusatz la Gaillarde auf die starken Stadtbefestigungen, die im Laufe der Jahrhunderte errichtet wurden, um den strategisch wichtigen Ort zu schützen.
Mit knapp 47.000 Einwohnern ist die Stadt ein wichtiges regionales Wirtschaftszentrum und Tor zu den abgeschiedenen Winkeln des Zentralmassivs mit Verbindungen nach Aurillac oder Villefranche-de-Rouergue.

Hier wechseln erneut Fahrgäste: Pendler steigen aus, Wanderer steigen ein, beladen mit Rucksäcken und Proviant. Die Corrèze, bekannt für ihre unberührte Natur, zieht in den letzten Jahren immer mehr Städter an, die authentisch, frei und naturverbunden leben wollen.
In den frühen 1950er-Jahren kam Georges Brassens nach Brive-la-Gaillarde, gab ein Konzert – und verewigte die Stadt musikalisch in seinem berühmten Chanson Hécatombe .

In diesem Lied beschreibt Brassens eine fiktive, tumultartige Auseinandersetzung zwischen Frauen auf dem Markt von Brive und den Gendarmen, die versuchen, die Situation zu schlichten. Interessanterweise wurde Hécatombe vor diesem Auftritt geschrieben, was bedeutet, dass die Inspiration für das Lied nicht direkt aus einem persönlichen Erlebnis vor Ort stammt. Brive fühlte sich so geehrt, das es flugs eine seiner beiden Markthallen nach ihm benannte – die Halle Georges Brassens.

Der Höhepunkt der Reise
Hinter Brive-la-Gaillarde erklimmt der Zug in der Nähe von Meyssac seinen höchsten Punkt – 447 Meter über dem Meeresspiegel, eine Welt aus Felsen und Wäldern, durch die die dunklen Wasser der Vézère strömen und die umstehenden Eichen und Kastanien widerspiegeln.
In Uzerche hält der Zug nur kurz. Im Mittelalter galt es als uneinnehmbare Festung an der Grenze zwischen dem Oberen und Unteren Limousin. Dann wird die Landschaft wieder offener, und die sanften Hügel der Creuse geben den Blick frei auf das Tal der Vienne, an das sich nun Limoges schmiegt, Frankreichs traditionsreiche Porzellanhochburg und Hauptstadt des Départements Haute-Vienne.
Kathedrale für die Bahn

Wie eine Kathedrale thront der majestätischen Bahnhof Limoges-Bénédictins hoch oben auf dem Plateau, das nun der Zug vom Flussufer in Angriff nimmt, sich langsam einfädelt in das immer größer werdende Netzwerk aus Gleisen, die Zug um Zug den Bahnsteigen zustreben, wo die goldene Abendsonne das Bahnhofsgebäude in warmes Licht taucht.

Um ihm die Ehre zu erweisen, hält der Zug etwas länger als anderswo: volle drei Minuten. Auch hier zünden sich einige die Zigarette an. Doch da schallt es schon über den Lautsprecher: station non-fumeur!
Erste Einschränkungen für Raucher brachte das Veil-Gesetz 1976 im Rahmen der allgemeinen Verschärfung der Tabakgesetze. Seit 1. Februar 2007 ist das Rauchen in Bahnhöfen und Zügen verboten und wird mit Rauchmeldern und Kameras überwacht.

Nach dem Dreiminutenhalt setzt der Intercités seine Reise nach Paris fort. 713 Kilometer lang ist die Intercités-Strecke Toulouse-Paris, die von 1960 bis in die 1990er-Jahre hinein Le Capitole befuhr, eine Schienenlegende, unvergessen bei vielen Franzosen.
2 Stunden 50 Minuten brauchte Le Capitole von Limoges nach Paris. Heute dauert die gleiche Strecke 3 Stunden 25 Minuten, also 35 Minuten länger. Doch das Flair der berühmten POLT-Route, wie die Strecke Paris-Orléans-Limoges-Toulouse unter Bahnern heißt, hat bis heute überdauert.

Jede Fahrt ist eine faszinierende Geographiestunde auf der Schiene. Wer sich die Mühle macht, nicht zu schlummern, sondern zu schauen, erlebt beim Blick aus dem Fenster stundenlang la France profonde mit ihren Flüssen Tarn und Aveyron, Dordogne und Vézère, Gartempe und Creuse, Indre und Loire, Orge und Seine.
Er sieht Täler und Hochflächen, Wallhecken (bocages) und Weiden, Kalk- und Granithäuser, Schiefer- und Ziegeldächer … und lauter authentische Orte, ob klein oder groß. Doch für heute endet die Fahrt an diesem Ort: Limoges.

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