Die Librairie du Temple ist auf Judaica spezialisiert. Foto: Hilke Maunder
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Paris: die Juden der Rue des Rosiers

Das Herz des jüdischen Paris schlägt– noch –  im Pletzl, mitten im Marais. Seit dem 13. Jahrhundert haben hier Juden aus Ost und West trotz aller Vertreibungen immer wieder eine Heimat gefunden.

Ihr Corso ist die Rue des Rosiers. Längst ist die 300 Meter lange Straße parallel zur Rue de Rivoli auch bei Kreativen, Kunsthandwerkern und kaufkräftigen Besuchern très branchée, sprich angesagt. Das bedroht heute immer stärker die jiddische Kultur des einst kleinbürgerlichen Viertels.

Nirgendwo sonst in Europa leben so viele Juden – auch, wenn die jüdische Gemeinde Frankreichs in den letzten zehn Jahren von 800.000 Mitgliedern auf 450.000 Menschen fast halbiert hat. 275.000 von ihnen leben in Paris; die meisten von ihnen noch immer im Marais.

Zwischen Bastille und Beaubourg

Das Viertel zwischen Bastille und Beaubourg ist seit dem Mittelalter ihre Heimat. Im 17. Jahrhundert zum bevorzugten Wohnviertel der Adligen aufgestiegen, entging es im 19. Jahrhundert nur knapp der Abrissbirne, mit der Baron Haussmann Paris sein heutiges Aussehen verlieh.

Im Schatten der breiten Boulevards überlebte in den engen, gewundenen Gassen ein Miteinander der Gegensätze in Glaube, Kultur, Architektur. Prachtvolle Stadtpaläste des Adels (hôtels) erheben sich neben windschiefen Häusern der Handwerker, hohe Mietshäuser neben Ordensniederlassungen der Tempelritter.

Zustrom aus dem Osten

Zu den traditionsreichen jüdischen Lokalen haben sich auch trendige Zeitgeist-Restaurants mit jüdischer Küche gesellt. Foto: Hilke Maunder
Zu den traditionsreichen jüdischen Lokalen haben sich auch trendige Zeitgeist-Restaurants mit jüdischer Küche gesellt. Foto: Hilke Maunder

Ab 1881 flüchten aschkenasische Juden aus Rumänien, Russland und Österreich nach Paris. Ihre Familien eröffnen in zwei Seitenstraßen der Rue des Rosiers ihre Geschäfte: in der Rue des Écouffes und der Rue Ferdinand-Duval und kreieren im Zentrum ihr Pletzl, ihren Platz. Zwischen 1900 und 1917 fanden Tausende Juden hier Zuflucht. 2004 machte Paris gegen lautstarken Widerstand die Straße zur Fußgängerzone. Das Viertel veränderte sich.

Einblicke in jüdisches Leben

Im Hôtel Saint-Aignan, 1640 erbaut, vermittelt seit 1998 das Museum für jüdische Kunst und Geschichte Einblicke in eine für viele sehr fremde Kultur. Gegenstände des religiösen Lebens sind ebenso ausgestellt wie Gemälde von El Lissitsky, Modigliani, Soutine und Chagall. Einen besonderen Schwerpunkt nimmt die Geschichte der Pariser Juden ein.

Bildeten vom Mittelalter an zunächst die Sephardim, Juden aus dem arabisch-spanischen Mittelmeerraum, die Mehrheit, kamen nach der Französischen Revolution besonders strenggläubige Juden aus dem Elsass und Osteuropa nach Paris.

Ihr geistliches Zentrum in der Rue des Rosiers 10  erbaute im Jahr 1913 der „Vater“ der Pariser Métro, der Architekt Hector Guimard. Heute erinnert auf Höhe der Hausnummer 10 der Jardin des Rosiers an Joseph Migneret, der ein Dutzend Kinder vor der Deportation bewahrt hat.

In der <em>Rue des Rosiers</em>. Foto: Hilke Maunder
In der Rue des Rosiers. Foto: Hilke Maunder

Die größte Synagoge von Paris

Selbst mit einer amerikanischen Jüdin verheiratet, verband Guimard beim Bau der Agudath-Hakehilot-Synagoge 1913/14 die verspielte Ästhetik des Jugendstils mit der Strenge des jüdischen Glaubens. 1940 sprengten die Deutschen die bis heute größte Synagoge Paris.

Nach dem Wiederaufbau wurde das Gotteshaus als Nationalmonument geschützt. In unmittelbarer Nachbarschaft residiert das Oberhaupt der orthodoxen Juden von Paris, der kleinen, aber engagierten Minderheit.

Von hier sind es nur wenige Schritte zur weltlichen Lebensader des jüdischen Viertels, der Rue des Rosiers. Jiddisch liegt in der Luft. Besonders am Sonntag, wenn der Sabbat beendet ist, herrscht hier Hochbetrieb.

Traditionell gekleidete Männer mit schwarzen Hüten, Schläfenlocken und langen Bärten, nur selten von ihren Söhnen begleitet, gehen schnellen Schrittes mit gesenktem Haupt vorbei.Frau und Tochter folgen mit Abstand.

Lebenskultur der Juden schmeckt: eine Bäckerei im Marais. Foto: Hilke Maunder
Lebenskultur der Juden schmeckt: eine Bäckerei im Marais. Foto: Hilke Maunder

Jüdische Lebensart

Doch das „Gay villaige“, das seit dem Jahr 2004 ihr Pletzl erobert, verdrängt zunehmend die jüdische Präsenz. Die beiden großen Wochenzeitungen  Tribune Juive wie auch die Actualité Juive gibt es heute nicht mehr am kleinen Zeitungsladen an der Rue des Écouffes, sondern nur noch online.

Chir Hadach hält sich. Der museal wirkenden Buchladen ist nach eigenen Angaben der größe jüdische Buchladen des Landes. In den Schaufenstern der Devotionalienläden liegen siebenarmige Leuchter neben Gebetsƒgrschals und Yarmulkas, den kleinen Kappen.

Für Gewürze, Düfte und Aromen ist die Épicerie Izraël zuständig, seit Jahrzehnten die Institution in der Rue François-Miron. Sämtliche Schlachtereien stehen unter der Kontrolle des Beth Din, des Großrabbinats von Paris, das über die Einhaltung der Reinheitsvorschriften wacht.

Mi-va-mi, jüdischer Genuss an der Rue des Rosiers 23. Foto: Hilke Maunder
Mi-va-mi, jüdischer Genuss an der Rue des Rosiers 23. Foto: Hilke Maunder

Koscher & köstlich

Für auswärtige Besucher publiziert das Consistoire im Internet lange Listen mit koscheren Einkaufsstätten. Aus den Bäckereien der Rue des Rosiers wie Korcarz dringt der Duft warmen Hefegebäcks. In ihren Schaufenstern stapeln sich süße Schlemmereien aus Osteuropa: Mohnstriezel, Apfelstrudel und handbreit hohe Käsekuchen.

In unzähligen Straßenimbissen, kaum größer als eine Verkaufsklappe in der Hauswand, macht die Falafel dem Bagel Konkurrenz. L’As du Fallafel heißt seit 1979 der Kult-Imbiss des Viertels.

Die frittierten Kugeln aus Kichererbsen sind das deutlichste Zeichen für den Umbruch der orthodoxen Enklave. Ausgelöst durch die Algerienkrise (1958-63), werden die angestammten Ashkenazim zunehmend von jüdischen Einwanderern aus Nordafrika verdrängt.

Lilteratur für Juden und alle, die sich für die jüdische Kultur interessieren. Foto: Hilke Maunder
Literatur für Juden und alle, die sich für die jüdische Kultur interessieren. Foto: Hilke Maunder

Und auch die Gentrifizierung bedrängt den Hort jüdischen Lebens. Zwischen 2005 und 2007 ließ der damalige Bürgermeisters Bertrand Delanoë die Rue des Rosiers pflastern und zur Fußgängerzone erklären. Sein Ziel, den esprit du vieux monde, den Geist der alten Welt zu bewahren, muss heute als gescheitert angesehen werden. Zeitgeist- und Trendlokale verdrängen die Tradition.

Das Blutbad

Als ich nach dem Abi im Jahr 1981 dort war, servierte Jo Goldenberg dort noch gefilte Fisch, Blinis mit Kaviar, Kreplach und andere koschere Küche, und Mitterrands Schwiegersohn war dort Stammgast gewesen. Vor knapp 20 Jahren, am 9. August 1982, richteten Palästinenser in dem stets rammelvollen Restaurant und Deli-Shop ein Blutbad an.

Die Bilanz des Kugelhagels in der Rue des Rosiers: sechs Tote, 22 Verletzte. Noch heute sind die Einschussstellen der Maschinengewehre in der Fassade zu sehen, erinnert eine Gedenktafel an das Attentat. Erst 2011 wurde der Täter gestellt. 2017 schloss Jo Goldenberg sein Lokal. Es wandelte sich zur Modeboutique.

Sein Schicksal teilen immer mehr traditionsreiche jüdische Geschäfte. Im April 2014 schloss der Schlachter Dimitri Panzer die Tore seine 1978 Charcuterie Panzer. Sein Sohn Nicolai hatte genug von der Rue de Rosiers – und eröffnete an der Avenue Paul Doumer im 16. Arrondissement ein Fleischerfachgeschäft.

Sacha Finkelsztajn indes hat sich zum Bleiben entschlossen. Mit  leuchtend gelber Fassade ist seine Bäckerei seit 1946 die erste Adresse im jüdischen Viertel von Paris – und vermarktet sich heute als La Boutique Jaune.

Die Bäckerei Finkelsztajn gehört zu den traditionsreichesten jüdische Geschäften der Rue de Rosiers. Foto: Hilke Maunder
Die Bäckerei Finkelsztajn gehört zu den traditionsreichsten jüdischen Geschäften der Rue des Rosiers. Foto: Hilke Maunder

Das Leid der Nazi-Jahre

Kleiner, fast zu übersehen, ist die Plakette, die in der Rue des Hospitalières an die Gräueltaten der Nazizeit erinnert. Von hier waren 165 Schüler mit ihren Lehrern erst ins Durchgangslager Drancy, dann nach Auschwitz deportiert worden. Kaum bekannt ist auch das Mahnmal für den Unbekannten Jüdischen Märtyrer in der Rue Geoffrey-l’Asenic.

Für mehr Toleranz und ein besseres Miteinander von Juden, Moslems und Andersgläubigen engagierten sich die rund 20 Mitarbeiter des Spartenkanals Télévision française juive, des ersten jüdischen Fernsehsenders im Land. 1998 begann der kleine Spartenkanal seinen Sendebetrieb in der Rue des Rosiers.

Aus dem ehemaligen Dampfbad des Pletzl sendete er einen spannungsreichen Mix und gestaltete Sendungen, die längst nicht mehr nur jüdische Zuschauer fesselten. Er wuchs, zog um nach Boulogne-Billancourt, und konnte sich dennoch nicht retten. 2004 endete der Sendebetrieb aufgrund finanzieller Schwierigkeiten. Die Mieten im Pletzl explodieren.

Schon gewusst?

Im Jahr 1182 beschloss der französische König Philipp August, die Juden aus der Hauptstadt zu vertreiben. Ihre Synagogen wurden in Kirchen umgewandelt und Immobilien im Besitz von Juden zugunsten des Königs verkauft. Mit den so gesammelten Geldern ließ der Herrscher den Bergfried des Schlosses Vincennes und eine Mauer um den Wald herum errichten.

In der Stadt selbst beauftragte er den Bau eines Markt auf dem ehemaligen Champeaux-Viertel, das nun leer stand. Die berühmten Markthallen – der Bauch von Paris – entstand auf den Blutspuren der vertriebenen Juden.

Inzwischen geschlossen: die Charcuterie Panzer. Foto: Hilke Maunder
Inzwischen geschlossen: die Charcuterie Panzer. Foto: Hilke Maunder

Die Juden von Paris: meine Reisetipps

Ansehen

Musee d’Art et d’Histoire du Judaisme

In einem der schönsten Stadthotels des Marais präsentiert das größte Museum des Judentums dieGeschichte und Gegenwart jüdischer Kulturen.
• Hôtel de St-Aignan, 71, rue du Temple, 75003 Paris, Tel. 01 53 01 86 60, www.mahj.org

Essen & trinken

La Boutique Jaune Sacha Finkelsztajn

• 27, rue des Rosiers, 75004 Paris, Tel. 01 42 72 78 91, www.laboutiquejaune.fr

L’as du Fallafel

Der Kult-Imbiss für die Kichererbsenkugeln! Seit 1979 – außer freitagabends und samstags.
• 34, rue des Rosiers, Tel. 01 48 87 63 60,  www.instagram.com/lasdufallafel

Miznon

Der erste Pariser Pita-Shop von Eyal Shani, der in Tel Aviv erfolgreich Restaurants betreibt – und mittlerweile auch am Canal Saint-Martin mit seiner mediterran-israelischen Küche die Pariser begeistert. Achtung: nicht koscher!
• Rue des Écouffes, Tel. 01 42 74 83 58, www.facebook.com/miznonparis

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Im Blog

Alle meine Paris-Beiträge sind in dieser Kategorie vereint.

Im Buch

Baedeker Paris 2018

Meinen Baedeker „Paris“*  gibt es seit 4. Oktober 2023 in der komplett aktualisierten und mittlerweile 20. Auflage!

„Tango unter freiem Himmel: Die Stadt der Liebe: Der neue Reiseführer ‚Paris‘ zeigt – neben Sehenswürdigkeiten – besondere Orte für Höhenflüge, romantische Momente wie ‚Tango unter freiem Himmel‘ und unvergessliche Dinners. Dazu gibt’s viele Kulturtipps…“  schrieb die Hamburger Morgenpost über meinen Paris-Führer.

Zu den Fakten, unterhaltsamer präsentiert, gibt es jetzt auch Anekdoten und Ungewöhnliches, was ihr nur im Baedeker findet. Und natürlich ganz besondere Augenblicke und Erlebnisse, die euren Paris-Aufenthalt einzigartig und unvergesslich machen. Wer mag, kann meinen Paris-Reiseführer hier* bestellen.

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