
Bei den Bombardements der Briten versank Le Havre am 5./6. September 1944 in Schutt und Asche. Auferstanden ist es als Vision eines Mannes: Auguste Perret (1874 – 1954).
„Mein Beton ist schöner als Stein“: Nicht alle teilten die Ansicht von Auguste Perret, unter dessen Federführung in den 1950er-Jahren das kriegszerstörte Le Havre im kühlen Stil der klassizistischen Moderne neu entstand. Das Wort von der „doppelten Zerstörung“ machte die Runde.

Perret konnte nicht mehr erleben, wie sein Gesamtkunstwerk vollendet wurde. Er verstarb während des Wiederaufbaus. 50 Jahre später erhielt Perrets Vision die weltweite Anerkennung: Seine zukunftsweisende Architektur gehört seit 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Neues Wohnen
133 Hektar Ruinen bedeckten bei Kriegsende das Stadtzentrum. Die französische Regierung reagierte mit einem radikalen Plan: Le Havre sollte als Musterstadt der Moderne auferstehen. 1945 beauftragte sie den Architekten Auguste Perret mit dem Masterplan.

Auf 130 Hektar sollte er für 60000 Menschen eine neue Stadt im Stil von Le Corbusier schaffen, mit würdigen Lebensbedingungen für eine klassenlose Gesellschaft: Licht, Luft, Strom und fließend Wasser für alle.

Baumaterial war knapp. Massenhaft gab es jedoch riesige Schuttberge. Perret schuf daraus einzigartige Betonvariationen.
Zermahlen, nach Farben und Strukturen getrennt, mitunter wieder eingefärbt, mit feinen Glassplittern oder Kieselsteinen vermischt, erfand er völlig neue Oberflächen.
Grob oder fein, gefärbt, gewachst waren sie, versehen mit Ornamenten, Zitaten griechischer Säulen oder Elementen des Klassizismus.

Straßengestaltung und Gebäudeformationen des neuen Zentrums erinnern teilweise an Inter- pretationen des sozialistischen Realismus. Luftige Kuben mit großzügigen Balkons säumen die Avenue Foch, die schnurgerade auf die Seinemündung zuläuft.


Dreistöckige Gebäude mit Flachdächern und zehnstöckige Hochhäuser umgeben den Rathausplatz. Schulen, Kirchen und Hafenanlagen schuf Perret – und das bis heute höchste Gebäude von Le Havre: den 106 Meter hohen Turm der Église St-Joseph.
Die Église Saint-Joseph

Wie ein Leuchtturm und Signal der Hoffnung thront die Église Saint-Joseph über der Hafenstadt Le Havre am rechten Ufer der Seine. Ein Belgier erbaut sie. In Frankreich gilt er als Wegbereiter der modernen Architektur und Meister des Eisenbetonbaus: Auguste Perret (1874 – 1954).
Mit einem Team aus 60 Architekten baute er die nach Kriegsende auf 133 Hektar das fast völlig zerstörte Stadtzentrum wieder auf. Perret entwarf breite Boulevards und lange Straßenachsen, die Bauten in Beton säumten.

Farbig verzauberter Beton
Sand und Ziegelschutt verliehen dem sonst grauen Beton eine neue, ungeahnte Farbigkeit. Vorbild für die ab 1951 erbaute Église Saint-Joseph war ein nicht verwirklichtes Basilika-Projekt Perrets für Paris.
Ihren 110 Meter hoher Turm vollendeten nach Perrets Tod 1957 von Georges Brochard und Raymond Audigier. Ebenfalls am Kirchenbau beteiligt war Jacques Poirrier mit einem achteckigen Turmhelm.

Glasfenster in sieben Farben – gelb, orange, rot, lila, blau, grün, weiß – und 50 Schattierungen lassen das Sonnenlicht hinein ins Innere.
In farbigen Quadraten gleitet es über die puristische Fassade. Zur Erde hin dominieren satte, dunkle Töne. Zur Spitze werden sie immer heller – bis zum Weiß des Himmels.

Erschaffen wurde der leuchtende Gegenpart zum unverkleideten Beton von Marguerite Huré. Perret hatte die Glaskünstlerin über den Nabis-Maler Maurice Denis kennengelernt.
1922 hatten sie erstmals bei der Église Notre Dame de la Consolation von Le Raincy zusammengearbeitet.


Weite Blicke über die weiße Stadt
An der Südwestseite windet sich eine Wendeltreppe in vielen Windungen hinauf zur Spitze. Schwindelfrei solltet ihr schon sein, wenn ihr dorthin hinauf steigt!
Vom flachen Kirchdach ist der Blick bereits eindrucksvoll, von der Turmspitze das Panorama indes grandios: Über das helle Häusermeer reicht der Blick bis zu den Stränden von Deauville und weit das Seine-Tal hinauf.

Im Juli 2005 nahm die UNESCO das von Auguste Perret wiederaufgebaute Stadtzentrum von Le Havre in die Liste des Weltkulturerbes auf. Die Église Saint-Joseph ist für mich das schönste Beispiel seiner Poesie in Beton.

Die Église Saint-Joseph in Zahlen
700 Tonnen Stahl
50.000 Tonnen Beton
12.786 Glasfenster für eine Gesamtfläche von 378 qm
Gesamthöhe: 110 m
Kirchturmhöhe: 84 m
• 21. 10. 1961: Grundsteinlegung in Gegenwart des damaligen Rouener Erzbischhofs Joseph-Marie Martin
• Oktober 1957: Rohbau fertiggestellt
• 23. März 1959: Einweihung der Kirche
• 1959 – 1961: Inneneinrichtung
• 1964: Einrichtung und Weihe des Hochaltars von Guy Verdoia
• seit 1997: nächtliche Illumination
• 2003 – 2005: Restaurierung


L’Appartement Témoin: die ideale Wohnung
Auch bei den Wohnungen standen für den futuristischen Stadtplaner Auguste Perret Rationalität sowie Flexibilität im Vordergrund.


Gemäß der Maxime von Le Corbusier sollte das Wohnzimmer, das Herzstück jeder Wohnung, auch als Empfangsraum für Gäste, Esszimmer oder Büro dienen können.
Um diese unterschiedlichen Zwecke erfüllen zu können, nutzte Perret ein System von verschiebbaren Trennwänden.

Der Architekt arbeitete mit den Raumausstattern René Gabriel, Marcel Gascoin und André Beaudoin zusammen. Gemeinsam entwarfen sie eine an die modernen Lebensumstände der damaligen Zeit angepasste Wohnungseinrichtung.
Charakteristisch für dieses Mobiliar ist Funktionalität sowie die Standardisierung für die Massenherstellung.

Im Appartement Témoin
Hautnah eintauchen in die Atmosphäre von einst könnt ihr im Appartement Témoin. Die Musterwohnung vermittelt mit typischem Mobiliar, Küchengeräten, Kleidung und Kinderspielzeug das Gefühl, die Bewohner seien nur für einen kurzen Moment nicht anwesend.
Heute gehören die von Perret gebauten Wohnungen zu den gefragtesten Immobilien von Le Havre.

Perrets Wohnungen heute
Für rund 500.000 Euro hängen die Fotos der knapp 100 Quadratmeter großen Appartements in den Schaufenstern der Agences Immobiliers.

Wie die Bewohner heute dort leben, hat mir Francine gezeigt. Offen, hell und großzügig ist ihre Wohnung. Zahlreiche Wände aus der Musterwohnung fehlen. Aus Rücksicht vor ihrer Privatsphäre habe ich dort nicht fotografiert.


Da nicht die Wände, sondern markante Betonsäulen für die sichere Statik sorgen, lassen sich die Zuschnitte der Zimmer beliebig verändern. Das macht die Wohnungen, die Perret geschaffen hat, bis heute modern und vielseitig.

L’Appartement Témoin
Führungen durch die Musterwohnung veranstaltet das ganze Jahr hindurch das Office de Tourisme.
• 186, Boulevard Clémenceau, 76059 Le Havre, Tel. 02 32 74 04 04, www.lehavreseinemetropole.fr


Das Oscar Hôtel
Mit im Welterbe des Quartier Perret eröffnete 2010 auf dem Höhepunkt der Shabby-Chick-Welle der Architekt und Designer Vincent Duteurtre eine Zweisterneherberge, das den Geist und Stil jener Aufbaujahre wieder aufleben lässt: das Oscar Hôtel.

Oscar: Möbelmarke & Architektenname
Mit seinem Namen verweist es auf eine französische Möbelmarke der 1950er-Jahre. Oscar entwickelte seinerzeit in Frankreich einen Einrichtungsstil mit modulierbaren Möbeln. Gleichzeitig ist der Name zugleich eine Hommage an einen zweiten genialen Architekten, der Le Havre einen futuristischen Kulturpalast hinterließ: Oscar Niemeyer.

Sein Wahrzeichen Le Volcan wurde 2011-15 umgebaut und saniert – der Grand Volcan als Stätte für Schauspiel und Konzert, der Petit Volcan als Stadtbibliothek.
Ihre Silhouetten erscheinen zum Greifen nach hinter den Fensterscheiben, die Baumwollvorhänge in großen geometrischen Mustern in Gelb, Blau, Schwarz und Weiß einrahmen.

100 % im Flair der Fifties
Dekokissen und Stuhlbezüge greifen dieses Muster auf. Sie flirten mit dem sanften Nussbaum, das die Möblierung dominiert, und dem kräftigen Rot der Läufer im Treppenhaus und im Foyer mit seiner abgetrennten Frühstücksecke.
Wer sich für die Geschichte von Stadt und Region interessiert, findet im ersten Stock einen winzigen Aufenthaltsraum, der gut bestückt ist mit Literatur – und einem Breitcordsofa in hellem Beige.
Auch hier wieder: Nussbaum – und der Blick auf die geometrisch klare Wohnbebauung von Perret, die im totalen Kontrast zum organischen Schwung des Volcan steht.
Doch bei aller Liebe zum Retro bleibt der Komfort von heute nicht auf der Strecke. Flachbildschirm gehören ebenso zum Standard wie kostenloses WLAN und ein kleines Set für die Teezubereitung auf dem Zimmer.

Oscar Hôtel
• 106, Rue Voltaire, 76600 Le Havre, Tel. 02 35 42 39 77, www.oscar-hotel.fr. Wer mag, kann das Hotel hier* direkt online ohne Zusatzkosten buchen.
Offenlegung
Ich übernachte im Oscar Hôtel auf eigene Rechnung.

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Im Blog
Auguste Perret hat auch in Amiens (und Grenoble) architektonische Wahrzeichen hinterlassen.
Im Buch
Glücksorte in der Normandie*
Steile Klippen und weite Sandstrände, bizarre Felslandschaften und verwunschene Wälder, romantische Fachwerkstädtchen und moderne Architektur – die Normandie hat unzählige Glücksorte zu bieten.
Gemeinsam mit meiner Freundin Barbara Kettl-Römer stelle ich sie euch in diesem Taschenbuch vor. Wir verraten, wo die schönste Strandbar an der Seine liegt, für welche Brioches es sich lohnt, ins Tal der Saire zu fahren, und wo noch echter Camembert aus Rohmilch hergestellt wird.
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Normandie: 50 Tipps abseits der ausgetretenen Pfade*
Die Netflix-Serie „Lupin“ hat die Normandie zu einem touristischen Hotspot gemacht. Garantiert keine Massen triffst Du bei meinen 50 Tipps. Sie sind allesamt insolite, wie die Franzosen sagen – ursprünglich, authentisch und wunderschön.
Die Landpartie durch die andere Normandie beginnt im steten Auf und Ab der Vélomaritime, führt zu den Leinenfeldern der Vallée du Dun, zu zottigen Bisons und tief hinein ins Bauernland des Pays de Bray, Heimat des ältesten Käses der Normandie.
Im Tal der Seine schmücken Irisblüten auf hellem Reet die Giebel alter chaumières, und Störche brüten im Marais Vernier. Von den Höhen vom Perche geht es hin zur Normannischen Schweiz und bis zur Mündung des Couesnan an der Grenze zur Bretagne. Hier* kannst Du den handlichen Führer bestellen.
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