Die Alabasterküste bei Le Tilleuil. Foto: Hilke Maunder
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Durch Spalt und Loch: Le Tilleul

Nur der Bürgermeister hat den Schlüssel für den Schlagbaum. Für alle anderen geht es nur zu Fuß, per Rad oder hoch zu Ross weiter. Das hat die Küste von Le Tilleul vor jeglicher touristischen Entwicklung bewahrt: ein Glücksfall an der Côte d’Albâtre der Normandie!

Zwei Kilometer lang ist der Pfad vom Parkplatz zum Strand. Nach wenigen Schritten weichen die Weiden der Rinder dem schattigen Blätterdach der Valleuse d’Antifer mit ihren alten Kastanien. Das Trockental, das die Erosion schuf, ist eines der letzten nicht urbanisierten Täler an der Alabasterküste. Schattig und kühl ist das Grün selbst im heißen Sommer.

Bei den Klippen weichen die Bäume, und am Horizont erscheint das Meer. Foto: Hilke Maunder
Bei den Klippen weichen die Bäume, und am Horizont erscheint das Meer. Foto: Hilke Maunder

Gepresste Wälder

Nach rund 30 Minuten bergab öffnet sich der Blick auf das Meer. Hier türkis hell, dort tiefblau leuchten die Fluten des Ärmelkanals. Kleiner als an den anderen Stränden sind die Kiesel am Strand und erleichtern das Gehen.

Gut 100 Meter hoch ragen die Klippen auf. Schwarze Bänder leuchten in der weißen Kreide. Wie mit dem Lineal gezogen, sehen die Schichten aus Silex aus. Sie sind die steingewordenen Zeugnisse alter Schachtelhalmwälder, die regelmäßig überflutet wurden, abstarben und sich unter Druck zu Feuerstein verdichteten.

Feuerstein in Hell und Dunkel dient im Pays de Caux als Baumaterial von Häusern und Kirchen. Foto: Hilke Maunder

Flint auf den Fassaden

Jahrhunderte lang trugen sie die Steinsammler der Alabasterküste in große Körbe und schleppten jene mit Körperkraft, Esel oder Pferd hinauf auf die Klippe. Hier und da wurden die Steine auch mit kleinen Bahnen vom Strand hinauf in die Dörfer geholt, wo sie als Baumaterial verwendet wurden.

Schlichte Wohngebäude, Gotteshäuser in Stadt und Land und selbst Fabriken und Industriepaläste entstanden aus dem Feuerstein. Häufig paarte sich der Flint mit einem anderen feurigen Material: rotem Backstein. Das Trio prägt bis heute das Pays de Caux. An der Dorfkirche von Le Tilleul sorgen die kunstvoll mit ihm gestalteten Muster für einen faszinierenden Fassadenschmuck.

Die Kirche von Le Tilleul mit dem typischen Wechseln von dunklem und hellem Feuerstein sowie Backstein. Foto: Hilke Maunder
Die Kirche von Le Tilleul mit dem typischen Wechseln von dunklem und hellem Feuerstein sowie Backstein. Foto: Hilke Maunder

Der wundersame Fischfang

Die Église Saint-Martin wurde ursprünglich im 13. Jahrhundert errichtet und die 17. Jahrhundert erweitert und umgebaut. Für eine kleine Dorfkirche ist das Mobiliar des Gotteshauses überraschend reich. Ihren Kristallleuchter soll sogar Kaiser Napoleon III. gestiftet haben.

Bei den Buntglasfenstern aus dem 16. Jahrhundert lohnt es sich, genauer hinzusehen. Eines von ihnen zitiert die Klippen der Alabsterküste. La pêche miraculeuse, der wundersame Fischfang, heißt eines von ihren. Es zeigt Petrus mit örtlichen Fischern vor der Porte d’Aval von Étretat, dem nahen und viel berühmteren Partner des Grand Site de France.

Die Falaise d’Aval von Étretat zeigt das Buntglasfenster La pêche miraculeuse (Der wundersame Fischfang) der Kirche von Le Tilleul. Foto: Hilke Maunder

Das Harmonium von Saint-Martin

Stolz ist die Kirchengemeinde nicht nur auf die Buntglasfenstern, sondern auch auf das Harmonium. Dumont & Lelièvre aus Les Andelys stellten es im späten 19. Jahrhundert her. Der obere Teil seines Gehäuses besteht aus kubanischem Mahagoniholz: eine Seltenheit!

Viele Jahre erklang das Tasteninstrument im Schloss Fréfossé, bis Madame Georges Dubosc, geborene Elise Léontine Henry, es der Kirche Saint-Martin du Tilleul schenkte. Im Sommer 2011 restauriert, erklingt es nun wieder bei Konzerten.

Das Innere der St. Martinskirche von Le Tilleul. Foto: Hilke Maunder
Das Innere der St. Martinskirche von Le Tilleul. Foto: Hilke Maunder

Backstein gegen Böses

Auf der Sakristei aus dem 13. Jahrhundert wurden die Ziegelsteine als opus spicatum verbaut. Dazu wurden die Backsteine hochkant  abwechselnd schräg gegeneinander versetzt angeordnet. So entstand eine Art Fischgrätmuster. Jenes diente nicht nur zur Zierde. Sonst besaß, davon waren die Bauherrn des Mittelalters überzeugte, auch eine apotropäische Wirkung: Es wehrte Unheil ab.

Eine typische Fassade mit traditionellem Mauerwerk des <em>Pays de Caux</em>. Foto: Hilke Maunder
Eine typische Fassade mit traditionellem Mauerwerk des Pays de Caux. Foto: Hilke Maunder

Ein Carrousel der Kunst

Das einstige Pfarrhaus der église Saint-Martin dient heute als Rathaus.  Es grenzt an den kleinen Parc de Mathilde. Dort erhebt sich ein kleiner, achteckiger Pavillon aus Holz und Fachwerk aus dem 19. Jahrhundert. Ursprünglich stand er auf dem Gelände der Ferme de Fréfosse.  Als ihm dort der Abriss drohte, zog das Gebäude um – und dient im Park nun als Ausstellungsraum für lokale und regionale Künstler.

An der Küste von Tilleul sind sehr gut die Einschlüsse von Feuerstein zu erkennen. Fot: Hilke Maunder
An der Küste von Tilleul sind sehr gut die Einschlüsse von Feuerstein zu erkennen. Foto: Hilke Maunder

Ein Grand Site de France

In 13 Gemeinden – Bénouville, Bordeaux-Saint-Clair, Criquebeuf-en-Caux, Étretat, Fécamp, Froberville, La Poterie-Cap-d’Antifer, Les Loges, Le Tilleul, Saint-Jouin-Bruneval, Saint-Leonard, Vattetot-sur-Mer und Yport – schützt der grand site Falaises d’Étretat – Côte d’Albâtre den schönsten Abschnitt der Alabasterküste.

Als Grand Site de France zeichnet Frankreich Stätten aus, deren Kultur, Natur oder Landschaften einzigartig und besonders erhaltens- und schützenswert sind. Dieses nationale Gütesiegel tragen bereits die Baie de Somme, der Marais Poitevin, die Montagne Sainte-Victoire, die Pointe du Raz und Klöster wie Moissac oder Saint-Guilhem-le Désert.

Le Tilleul. Foto: Hilke Maunder
Foto: Hilke Maunder

Faszinierende Felsen

Maler wie Gustave Courbet, Eugène Boudin und Claude Monet haben mit mehr als 80 Gemälden viel zum Ruhm der falaises beigetragen, ihrer Nadeln, Bögen und anderen faszinierenden Felsformationen.

Die Bögen der Alabasterküste sind Zeugen eines unterirdischen Flusses, der einst parallel zur Küste verlief. Die Erosion legte sein Bett frei. Wind und Wellen frästen immer neue Formen in den Felsen. Gen Norden begrenzt eine Felsspalte den Strand von Le Tilleul.

Wer sie durchschreitet, entdeckt Steighilfen im Stein. Eisenbügel ermöglichen das Klettern hin zu einer kleinen Felsöffnung hoch über der Brandung: ein Natursprungbrett – perfekt für den Sprung ins kühle Nass. An anderen Stellen hat die Erosion Gucklöcher und bizarre Figuren in die Kreideküste gegraben.

Le Tilleul. Foto: Hilke Maunder
Foto: Hilke Maunder

Der Strand von Le Tilleul verströmt eine geradezu paradiesische Ruhe. Handys haben dort keinen Empfang. Im Sommer kontrollieren berittenen Gendarmen diesen Küstenabschnitt. Dann steht auch ein Food Truck auf dem Parkplatz und bietet Stärkung vor oder nach der Wanderung zum Strand.

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Foto: Hilke Maunder

Der versteckte Schatz

Wer bei Ebbe gen Norden weiterwandert, erreicht die Falaise d’Aval von Étretat. Normannen-Dichter Guy de Maupassant sah in der Felsformation einen Elefanten, der den Rüssel ins Wasser steckt. In dieser Kalknadel soll der König von Frankreich einst sein Gold versteckt haben. Noch bis heute hat niemand diesen Schatz gefunden.

Foto: Hilke Maunder
Foto: Hilke Maunder

Le Tilleul: meine Reisetipps

Aktiv

GR 21

Gabelous, so hießen die Zollbeamten des Ancien Régime. Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert schützten sie auf extra angelegten Wegen und Zollposten Frankreich vor Schmugglern, Plünderern und Zollbetrügern. Ihre einstigen Patrouillenwege sind heute traumhaft schöne Wanderwege abseits des Verkehrs. Als Grande Randonnée GR 21 führt ein solcher Zöllnerweg von Le Tréport an der normannischen Alabasterküste entlang bis nach Le Havre. Le Tilleul ist ein Etappendort.

In diesem kleinen Dorfpark stand einst der Galgen von Le Tilleul. Foto: Hilke Maunder
In diesem kleinen Dorfpark stand einst der Galgen von Le Tilleul. Foto: Hilke Maunder

AB Sports, Piscine et Spa

Für Massagen, Fitness und Sportkurse pilgern die Enheimischen zu diesem privaten Aktivzentrum – und freuen sich danach über das kleine Schwimmbad.
• 2, Rue de Mondeville, 76280 Criquetot-l’Esneval, www.ab-experiences.com

Nicht verpassen

La Sauvagère

Zu den schönsten alten Hofanlagen der Normandie gehört der Clos Masure de la Sauvagère, der heute von einem Reitzentrum genutzt wird. Der Hof ist von mit Bäumen bepflanzten Böschungen umgeben, wodurch er vor Winden geschützt ist. Die Aussicht auf das Meer von dort ist einmalig! Auch die alten Hofgebäude mit ihren Graffiti aus dem 16. und 17. Jahrhundert sind einen Blick wert.

Le Banc de Justice

Nicht unter einer Eiche, sondern auf einem robusten Steinthron wurde einst während der Feudalzeit Recht gesprochen. Die banc de justice von le Tilleul soll auf Philipp Augustus zurückgehen und war jahrhundertelang das Symbol der Autorität der Ritter von Fréfossé, die einst über Le Tilleul herrschten.

Der Sitz der Justiz und seine Schöffenbänke aus dem 13. Jahrhundert bilden das letzte derartige Ensemble, das im Département Seine-Maritime noch erhalten sind. Auf seinen Spaziergängen ruhte sich dort auch gerne der ehemalige französische Staatspräsident René Coty aus. Auf dem Friedhof von Le Tilleul fand er seine letzte Ruhestätte.
• Rue Le Conquérant/Ecke Rue de la Justice – und direkt an der GR 21!

Raphaël Lesueur, Bürgermeister von Le Tilleul, auf der Richterbank. credit
Raphaël Lesueur, Bürgermeister von Le Tilleul, auf der Richterbank. Foto: Hilke Maunder

Schlemmen und genießen

Le Tilleulais

Das einzige Lokal von Le Tilleul ist bodenständig und gediegen. Aus der Küche kommt traditionellel französiche Küche.
• 759, route du Havre, 76790 Le Tilleul, Tel. 02 35 27 10 48

La Frite d’Or

Sch't-Genuss: Miesmuscheln: Die Küche der Küste
Moules, Miesmuscheln, gibt es in vielen Variationen in Frankreich – aber immer mit Pommes Frites. Foto: Hilke Maunder

Es gibt nur wenige Orte an der Alabasterküste, wo ihr direkt am Strand mit Blick auf die Klippen schlemmen könnt.  Hier sind die Fritten so knusprig und golden, wie der Name des Lokals es verspricht. In der Normandie paaren sie sich traditionell mit moules, schwarzen Miesmuscheln mit gelborangem Fleisch. Florence Delacotte serviert ihre moules frites in vielen verführerischen Variationen.

Beim Klassiker moules marinières garen die Muscheln in einer Brühe aus Weißwein, Essig, Zwiebeln und Petersilie. In den moules normandes ersetzt Crème fraîche den Essig. Bei den moules cidre wandern neben Apfelwein noch Schinkenstreifen in die Soße. Ihre moules Roquefort kommen mit Blauschimmelkäse auf den Tisch, die moules Boursin mit Kräuterfrischkäse. Bei den moules à l’espagnole paart sich die Muschel mit Chorizo und Tomate.
• Plage, 76280 Saint-Jouin-Bruneval, Tel. o2 35 20 26 14, www.restaurant-la-frite-d-or.webnode.fr

Direkt am Strand von Saint-Jouin: La Friterie d’Or. Foto: Hilke Maunder
Direkt am Strand von Saint-Jouin: La Friterie d’Or. Foto: Hilke Maunder

Schlafen

Hôtel Le Saint Christophe

Das (bislang) einzige Hotel von Le Tilleul

• 1, Rue Marc Leclerc, 76790 Le Tilleul, Tel. 02 35 28 84 29, www.saintchristophehotel.fr

Château de Fréfossé

Das Schloss Fréfossé mit seinen fünfzig Hektar Park, Rasenflächen, Wäldern, Teich und seinem Laternenturm ist seit 1998 in Privatbesitz. Sein bayrischer Eigentümer hegt große Pläne und möchte das Anwesen in ein Fünfsternehotel verwandeln. Kommune und Département unterstützen die Pläne.

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Im Blog

Côte d’Albâtre: Frankreichs hellste Klippen

Im Buch

Glücksorte in der Normandie*

Steile Klippen und weite Sandstrände, bizarre Felslandschaften und verwunschene Wälder, romantische Fachwerkstädtchen und moderne Architektur – die Normandie hat unzählige Glücksorte zu bieten.

Gemeinsam mit meiner Freundin Barbara Kettl-Römer stelle ich sie euch in diesem Taschenbuch vor. Wir verraten, wo die schönste Strandbar an der Seine liegt, für welche Brioches es sich lohnt, ins Tal der Saire zu fahren, und wo noch echter Camembert aus Rohmilch hergestellt wird.

Unser Gemeinschaftswerk stellt euch insgesamt 80 einzigartige Orte vor, die oftmals abseits der eingetretenen Pfade liegen. Wer mag, kann es hier* bestellen.

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2 Kommentare

  1. Liebe Hilke,
    vielen Dank für deine Buchtips Glücksorte in der Normandie und Bretagne. Wir fahren Ende Mai in die Nähe von Fecamp und dann anschließend in die Bretagne ( Finistere) da können wir wieder etwas neues erkunden. Wir fahren seit 1995 in die Bretagne und seit 2019 in die Normandie. Es ist wirklich immer ein besonders Erlebnis.
    Liebe Grüße von Renate Reitz

    1. Liebe Renate, merci! Ich freue mich, wenn Du als Normandie- und Bretagne-Kennerin in den Büchern noch Neues und Interessantes entdeckst! Herzliche Grüße und schönes Wochenende, Hilke

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