
Fahrt das Vallée du Tech von Perpignan aus hinauf. Immer grüner werden die Täler, immer höher die Berge. Fahrt vorbei an Céret , fahrt langsam (feste Blitzer) durch das langgestreckte Kurbad Amélie-les-Bains. Und kommt dann wie wir an in Arles-sur-Tech, laut Reiseführer Pflichtziel im Haut-Vallespir.
Das Vallespir umfasst das Hochtal des Tech im Süden des Canigou. Nach der Schneeschmelze im Frühjähr entwickelt der Fluss richtig Temperament und hüpft über die Steine in seinem Bett.
Das älteste gotische Kloster des Roussillon
Ein Parkplatz war schnell gefunden, der Weg zur Abtei Sainte-Marie bestens ausgeschildert. Bereits im Jahr 934 war sie am Ufer des Tech gegründet worden. Im Laufe der Jahre stieg sie zu zweitreichsten Abtei des Roussillon auf.
Doch dann: fermée exceptionellement, ausnahmsweise geschlossen, verriet ein Holzschild. Die Kirche aus dem 12. Jahrhundert birgt unter ihrem 17 m hohen Steintonnengewölbe zahlreiche alte Fresken und einige Misteris. Diese Bibelfiguren tragen Einheimische, die Büße tun wollen, am Karfreitag bei einer Prozession durch die Stadt.
Links vom Haupteingang schützen Gitter einen wundersamen Sarkophag aus Marmor. Aus diesen “Heiligen Grab” treten seit dem 4. Jahrhundert Jahr für Jahr mehrere Hundert Liter klares Wasser. Bis heute ist das Rätsel des Sainte Tombe ungelöst. Denn eine Quelle oder einen wasserführenden Felsspalt haben die Forscher bislang nicht gefunden.
Durch einen Torgang gingen wir zurück zur Stadt. Und sahen im Augenwinkel, dass die Tür zum Kreuzgang offen stand. Dicht an dicht drängen sich die Gäste rund um ein junges Paar auf dem zentralen Grün: Was für eine große Hochzeit! So haben wir zumindest für einen kurzen Moment den Blick auf den ältesten gotischen Kreuzgang des Roussillon werfen können.
Zum Abteikomplex gehört Le Palau. Das imposante Gebäude, in dem das Office de Tourisme residiert, soll restauriert und ausgebaut werden zu einem Zentrum für sakrale Kunst. Während der Weinlesen hatte viele Jahrhundert die weltlichen Erntehelfer des Abtes während der Lese gewohnt.
Stilmix im Park
Gegenüber der Abtei, Keimzelle des Städtchens am Tech, waren die hohen Gitter des Parc de la Mairie geöffnet. Das Rathaus residiert seit 1936 in der Villa des Indis. Joseph Pierre Monin (1837-1910) ließ sie um 1901/2 erbauen.
Sein imposanter Stilmix bricht komplett mit der restlichen Architektur des Dorfes. Neo-Romanik, Neo-Barock, Neo-Gotik und Art Nouveau vermengt sein Anwesen.
Monin und seiner Familie gehören die Minen von Batère, die seit der Antike ausgebeutet wurden. 1999 endete nach mehreren vorläufigen Schließungen endgültig der Abbau von Eisenerz. Erst per Esel, dann mit einer acht Kilometer langen Seilbahn, war es einst von Corsavy nach Arles-sur-Tech gebracht worden.
Die Mini-Altstadt
In der kleinen Vorhalle der Église Saint-Sauveur hatten mehrere Frauen, jung und alt, ihre Stühle aufgestellt, beobachteten das Treiben in der Gasse und kommentierten es. Knapp fünf Meter entfernt saßen die Männer aufgereiht auf einer Bank vor der Hauswand.
Hier zu bummeln, glich einer Zeitreise. Manches stimmte traurig. Viele Geschäfte waren verrammelt, aufgegeben, die Ladenfronten staubig, voller Patina oder vernagelt.
“Schmuck”, wie der Reiseführer die Altstadt lobte, könnte sie sicher sein, wenn sie ein behutsam restauriert, und, vor allem, wieder belebt würde. Die rurale Renaissance, die viele Dörfer in Frankreich erleben, ist hier noch nicht angekommen.
Wer genau hinschaut, findet aber so manch ein Schmuckstück. Und leckere regionale Köstlichkeiten wie die crespells, die der Bäcker jeden Morgen frisch in Fett ausbackt.
Die Überraschung
Früher als geplant brachen wir auf. Doch kaum war ich einige Meter gefahren, trat ich auf die Bremse und parkte das Auto. Irritiert blickte mich meine Tochter an. Was wollte ich hier? Ich zeigte ihr die Hauswand. Und das Schild. Guckte in den Reiseführer. Und fand nichts.
Le Moulin verriet das Schild! Meine Neugier war geweckt, meiner Tochter war ich peinlich. “Mama, Du kannst da doch nicht einfach reingehen!” Doch. Denn eine freundliche Dame sagte: “Entrez!”
Das Erbe der Weber
Ich folgte ihr und erreichte eine Halle voller alter Webstühle. Am Ende der Halle verriet ein Film auf der rückwärtigen Wand, was es mit dem Komplex auf sich hatte. 1911 hatte Georges Camo (1879-1947) in Arles-sur-Tech sein Textilwerk Les Grands Tissages d’Arles mit Unterstützung von Alexandre Anrich und Joseph et Léon Cantaloup gegründet.
Kaum waren die sechs mechanischen Webstühle in Betrieb, sorgte der Erste Weltkrieg für unerwartete Umbrüche. Léon Cantaloup verließ das Team, um eine Schokoladenfabrik aufzubauen. Auch Alexandre verabschiedete sich. Joseph verstarb. Übrig blieb Angèle Camo. Madame zögerte nicht, übernahm die Führung und baute das Textilwerk aus.
Sie ließt jetzt nicht nur die Stoffe und Tressen für Espadrilles fertigten, sondern auch Tischwäsche, Meterstoffe und Sprungtücher. Verarbeitet wurde Baumwolle aus Ägypten und den Vereinigten Staaten sowie einheimisches Leinen.
1949 richtete sie im ersten Stock der Textilfabrik eine Schneiderei ein. Vorhänge, Taschen, Decken und Tischwäsche in leuchtenden Farben nähten dort die Saisonkräfte. Meist waren es Frauen aus dem Dorf.
Der Siegeszug der Bayadère
Die berühmten Streifenstoffe – “bayadère” – der Katalanen kamen erst 1954 nach Arles-sur-Tech. Denn Ney László (1900-1965) hatte in Arles in der Provence nicht nur seine Frau, sondern auch diese Textiltradition entdeckt.
László war begeistert. Er holte sie nach Arles-sur-Tech und erneuerte die Produktion. Als Sonnenstoffe der Katalanen eroberten sie die Kaufhäuser von Paris. Printemps, Galeries Lafayette und Bon Marché bestellten sie bei ihm in Arles-sur-Tech.
Und dank der Schwester von Pierre Muchart, der ab 1950 die Fabrik leitete, sogar die Luxusboutiquen des Faubourg Saint-Honoré. Sogar Brigitte Bardot zeigte sich in den Streifenstoffen am Strand von Saint-Tropez.
Industrie-Erbe & aktuelle Kreation
1981 erwirtschaftete das Textilwerk mit seinen 40 Mitarbeitern noch 30 Millionen französische Franc. 2002 standen die Webstühle still. 2011 kaufte die Kommune den Backsteinkomplex und revitalisierte es als Kulturzentrum.
Seitdem vereint es auf faszinierende Weise das Industrie-Erbe von einst und das künstlerische Schaffen von heute vereint. In der Maschinenhalle lebt die Tradition des Textilstandorts weiter. In 18 Werkstätten entsteht Kreatives von heute.
Wen ihr in Le Moulin entdecken könnt? Den Schmied Simon Marill, die Messerschmiede Aurélie Marquès und Morian Theuns, die Glaskünstler Karine und Jérôme vom Atelier Bulle de Verre, die Maler Jacques Maurin, Gérard Lopez und André Wintergerst.
Am Ende des Fabrikgeländes finden ihr einen verwilderten Garten. Auch er fungiert als Kreativraum und Ausstellungsfläche. Zurück am Eingang schließlich vereint eine Boutique Gastkünstler und andere Kreative der Stadt, die kein Atelier in Le Moulin haben.
Draußen haben die Kreativen von Le Moulin ein paar Tische und Stühle auf Kopfstein, wo ihr Getränke genießen könnt – stärkt euch! Und nutzt, falls nötig, dort auch das WC.
Folgt dann dem Sentier des Arts et de l’Artisanat. Von Le Moulin des Arts et de l’Artisanat in Arles-sur-Tech lährt er als voie verte zur Entdeckungsreise auf den Spuren der Kunsthandwerker.
Vorbei an Rivemale führt er bis nach Palalda. Sein Symbol ist eine Bärentatze aus Eisen. Denn auch in Arles-sur-Tech ist die Erinnerung an die Bären lebendig und lebt alljährlich zum Ende des Winters bei der Fête de l’Ours auf.
Arles-sur-Tech: meine Reisetipps
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Ich habe mir diesen Artikel gerade gespeichert – le Moulin ist ja ein toller Fund!!