Maskottchen der JO 68: le schuss, hier als Naschwerk aus Schoko von Alexandre Gratian. Foto: Hilke Maunder
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JO 1968 Grenoble: Jahr der Premieren

JO 1968: Lohnen sich die Olympischen Spiele für Städte? Nicht nur Hamburg, Paris, Rom und Los Angeles diskutierten diese Frage in den letzten Jahren heftig und kontrovers. Eine französische Alpenstadt sagt aus tiefster Überzeugung: „Ja“ zu den Olympischen Spielen. Erratet ihr, welche?

Grenoble est entré dans la modernité avec les Jeux Olympiques.

Mit den JO 1968, den Olympischen Winterspielen des Jahres 1968, hat in Grenoble die Moderne begonnen. So lautet der erste Satz einer 28 Seiten dicken Broschüre. Sie enthält alle Informationen zu einem Festival, das die Stadt 2018 feierte: 50 Jahre Olympische Winterspiele in Grenoble.

Die Jeux Olympiques von 1968, kurz und trendig nur JO 1968 genannt, sind bis heute bedeutsam für die Stadt. Daran wurde auch mit Blick auf die JO 2024 in Paris erinnert.

Bauboom in Frankreich

Der Zuschlag für die JO 1968 beschert der alten Stadt an der Isère einen urbanen Wandel. Modernisierung durch Architektur war im Nachkriegsfrankreich eine Vision. Sie beflügelte besonders die Architekten Émile Aillaud (1902 – 1988), Michel Andrault (1926) und Pierre Parat (1928).

Mit subventionierten Darlehen, verfahrensrechtlichen Anreizen und unglaublich viel kreativer Freiheit für die Architekten ließ Frankreich ab den 1950er-Jahren grands ensembles in Plattenbauweise errichten, die sonst nur in den Ländern des ehemaligen Ostblocks zu finden sind.

Sechs Millionen Wohnungen schossen so in den Années Glorieuses, den „goldenen Jahren“ der 1950er- bis 1970er-Jahre, aus dem Boden.

Grenoble hatte den Boden für den architektonischen Sprung in die Moderne mit dem Plan Barnard 1962 bereitet. Die JO 1968 verliehen dem urbanen Wandel einen unvergleichbaren Turbo. Eine neue Stadt entstand – als nächste, neue „Haut“ einer Stadt, die seit ihrer Gründung als Cularo im Jahr 43 v. Chr. nie durch Krieg zerstört worden war.

Umgerechnet 460 Millionen Euro machte der damalige Staatspräsident Charles de Gaulle locker, um mit Grenoble bei den JO 1968 der Welt die Modernisierung Frankreichs zu zeigen.

Das Eisstadion, heute der Palais des Sports, im Bau für die JO 1968. Foto: Stadtarchiv Grenoble
Das Eisstadion der JO 1968, heute der Palais des Sports. Foto: Stadtarchiv Grenoble

Wahrzeichen für die Modernisierung Frankreichs

Neue Wahrzeichen wie der Palais des Sports, der neu gestaltete Parc Paul Mistral mit der markanten Tour Perret vom Stahlbau-Pionier Auguste Perret, die Avenue Marcelin Berthelot, die Maison de la culture (heute MC2) und das Malherbe-Viertel entstanden.

Ebenfalls errichtet wurde die Alpexpo. In nächster Nähe zum Olympia-Stadion wurde dort die Eröffnungszeremonie der JO 1968 abgehalten. Heute ist es ein Messe- und Kongresszentrum, in dem Wein-, Immobilien- und Bio-Messen ebenso stattfinden wie Konzerte und Shows.

Die Tour Perret im Parc Paul Mistral von Grenoble. Foto: Hilke Maunder
Die Tour Perret im Parc Paul Mistral von Grenoble. Foto: Hilke Maunder

Als Musterbeispiel, wie Flächenfraß im Gebirge eingedämmt werden könnte, entwarfen die Architekten Roger Anger und Pierre Puccinelli auf einer grünen Île Vert in einer Flussschleife der Isère Les Trois Tours – die drei Türme Tour Vercors, Tour Mont Blanc und Tour Belledonne mit insgesamt 504 Wohnungen auf jeweils 28 Etagen.

Vom Olympiadorf zum sozialen Brennpunkt

Vier Kilometer südlich der Stadt ließ Maurice Novarina (1907-2002) das Olympische Dorf der JO 1968 mit acht Wohntürmen, zwölf Riegeln und 25.000 Wohneinheiten vier Kilometer südlich der damaligen Stadt anlegen. Das Institut National de l’Audiovisuel, kurz INA, hat ein historisches Video aus seinem Archiv dazu ins Netz gestellt.

Heute gehört das einstige Olympiadorf zu La Villeneuve. Es gilt als sozialer Brennpunkt und sorgte 2010 weltweit für Negativ-Schlagzeilen. Nach tödlichen Schüssen auf einen Casino-Räuber war es zu Krawallen gekommen.

Autos brannten, Geschäfte wurden geplündert. Polizei wie Protestierende setzten Schusswaffen ein. Im Sommer 2017 ging eines der architektonischen Ikonen des Viertels in Flammen auf: das collège Lucie-Aubrac. Brandstiftung.

Das Eisstadion, heute der Palais des Sports
Das Eisstadion, heute der Palais des Sports

Welterstes Olympia-Maskottchen: Le Schuss

1968 wurde ein Jahr der Premieren. Nicht nur für Grenoble, sondern auch für den Sport. Erstmals wurden die Olympischen Spiele live im Fernsehen übertragen – und das sogar in Farbe! Ein unverwechselbares Gesicht musste her. Es wurde Le S(c)huss – das allererste Maskottchen in der Geschichte der Olympischen Spiele.

Aline Lafarque entwarf ihn als Rotschopf mit weiß-schwarzen Glubschaugen, der sich als Skirennläufer in Blau-Weiß auf die Piste wagt. Entworfen ohne Arme, hatte der stilisierte Wintersportler rasch einen anderen Spitznamen weg.

Nicht Le Schuss, sondern … skifahrendes Spermium! Groß vermarktet wurde es nicht; nur Anstecknadeln, Schlüsselanhänger und Kleinspielzeug gab es von der Figur.

Le Schuss hat auch einen Meister-Chocolatier inspiriert. Zum 50. Geburtstag fertigte Alexandre Gratian von der Patisserie Les Écrins das Maskottchen aus feinster Schokolade. 68 Gramm bringt der süße Athlet auf die Waage.

Premieren für Athleten

Auch für die Sportler bedeutete Grenoble Neuerungen. Erstmals gab es Geschlechtstests für weibliche Athleten. Zudem wurden Frauen wie Männer auf Doping kontrolliert.

Zum ersten Mal war Deutschland mit zwei Mannschaften dabei: BRD und DDR – marschiert wurde getrennt mit eigenen Mannschaften und eigenen Flaggen, aber zur selben Musik.

Gold! Gold! Gold!

Für die BRD holten Eisschnellläufer Erhard Keller und Langläufer Franz Keller Gold, für die DDR die Doppelsitz-Rodler Klaus-Michael Bonsack und Thomas Köhler.  Die beiden deutschen Staaten landeten damit auf Platz acht bzw. zehn.

Frankreich schafft es mit Jean-Claude Killy, der in allen drei Abfahrtsrennen Gold holte, auf Platz drei. Norwegen setzte sich – vor der Sowjetunion – mit sechs Goldmedaillen an die Spitze.

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2 Kommentare

  1. Danke für den Bericht über Grenoble. Im Februarheft des Magazins Écoute findet man ebenso weitere Infos, auch über Villeneuve – die Utopie Perdue.
    Die Stadt sollte man in der Vor- oder Nachsaison besuchen, weil die Luftverschmutzung der im Talkessel liegenden Stadt im Sommer enorm ist, kein Ort für Asthmapatienten! Deshalb wohl die selbst auf der Stadtautobahn nötige Crit‘Air Plakette, die wir nach 2 Wochen problemlos bekommen haben.
    Wir fahren im Frühsommer in den Vercors, von da aus kann man Grenoble gut besuchen.
    Grüße aus dem Münsterland!

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