
Mit seinen hügeligen Landschaften und den grünen Wiesen gilt das Pays d’Auge zwischen den Flüssen Touques und Dives als Quintessenz der Normandie. Rotbunte und schwarzbunte Milchkühe lagern zwischen Gänseblümchen und Löwenzahn im hohen Gras. Rot blühende Geranien lockern die fast würdevolle Strenge des normannischen Fachwerks mit seinen parallelen, dunklen Holzstreben und seinem hellweißen Putz auf.

Moos und Flechten haben die tönernen Dachziegel erobert. Enten und Gänse schnattern hinter wettergegerbten Holzzäunen. Stille Beschaulichkeit liegt über dem Land. Unvergänglich und ursprünglich ist es bis heute.
Bezauberndes Apfelland
In unzähligen Kehren verbindet ein Netz schmaler Straßen und holpriger Landwege die kunstvollen, oft wehrhaften Manoirs, Herrenhäuser von Gutsherren und Geistlichen, mit alten Marktflecken wie Crèvecœur, Cambremer und Beuvron-en-Auge.

Im Frühling legen die Blüten der knorrigen Apfelbäume einen rot-weißen Schleier über das Pays d’Auge. Im Herbst reifen kleine, feste Äpfel an ihren Ästen. Mitten durch das Apfelland zwischen Cabourg und Lisieux führt die Route du Cidre als 40 Kilometer lange Rundstrecke zu rund 20 Produzenten des Lieblingsgetränks von Franz I. Bei ihnen lässt sich der cidre fermier noch frisch aus dem Fass, naturtrüb und unvergoren vor Ort probieren. Für den Export muss das Nationalgetränk der Normandie pasteurisiert werden.

Köstliches Pays d’Auge
Jérôme Bansard schätzt den Cidre in der Küche. Minutenlang lässt der Michelin-Sternekoch den Kabeljau im fruchtigen Sud schmoren, ehe er ihn mit Erbsen garniert im Le Pavé d’Auge in Beuvron-en-Auge serviert.
Aus den mehr als 2.000 Apfelsorten der Normandie wird auch ein berühmtes Lebenswasser gebrannt: der Calvados. Bernsteinfarbenen bis cognacbraun, räumt der samtige Cidrebrand zwischen den Gängen eines Menüs den Magen auf und schafft Platz für die Desserts. Faire un trou normand nennen dies die Einheimischen.

Die Äpfel aus der Normandie galten zudem als heilkräftig und linderten Jahrhunderte lang als Umschlag oder Brandsalbe so manche Schmerzen. In der Renaissance schließlich lieferten die Äpfel des Pays d’Auge den Rohstoff zum geschätzesten Kosmetikartikel der Zeit: der Pomade.
Bilderbuchdorf: Cormeilles
Ein typisch normannisches Dorf im Pays d’Auge ist auch Cormeilles. Fachwerkhäuser und Blumen prägen das Straßenbild. Auch eine alte Flachstrocknerei und das Waschhaus am Ufern der Calonne sind erhalten.
17 Antiquitätenhändler verwandeln die Rue de l’Abbaye und Rue de Pont-Audemer in eine reiche Fundgrube für Möbel, Gemälde, Glaskunst, Kitsch und Krimskrams vergangener Zeiten bilden. Wenn euch beim Bummeln ein leichter Apfelduft in die Nase dringt, produziert die Distillerie Brusnel als einer der wichtigsten Hersteller in der Normandie wieder Cidre und Calvados.
Auf den Spuren des Calvados
Wie, verrät eine Ausstellung in der Maison d’Auge. Dort erfahrt ihr auch, das bereits 1606 die erste normannische Brennerei-Gilde entstand. Der Name Calvados hat seinen Ursprung in den lateinischen Worten calva für „kahlköpfig“ und dorsa, Küste.

Da sie so bar war, wurde einst die Felsküste zwischen Arromanches und Asnelles als calva dorsa bezeichnet. 1790 wurde der Name für das Département übernommen. Nach der Französischen Revolution wurde der Apfelbrand der Normandie über die Landesgrenzen hinaus bekannt und Calvados zum gängigen Ausdruck für Branntwein aus Äpfeln. Seit 1942 besitzt der Calvados Pays d’Auge eine geschützte Herkunftsbezeichnung. Der Calvados domfrontais, der neben Äpfeln auch Birnen enthält, ist seit 1997 als AOC geschützt.
Die Calvados-Experience
Noch mehr Calvados für alle Sinne vermittelt eine Erlebniswelt, die zwischen Caen und Rouen am 1. März 2018 in Pont-l’Évêque eröffnete: die 3000 Quadratmeter große Calvados Experience. Hinter dem Projekt steht mit der Gruppe Spirit France (Calvados Père-Magloire, Boulard und Lecompte) ein Schwergewicht der Branche.
Der alte Stammsitz von Père Magloire, an dem schon vorher Führungen und Verkostungen angeboten wurden, verwandelte sich in ein „typisch normannisches Dorf“, das Kultur und Kulinarik, Leben und Legenden widerspiegeln will.
In der Salle Pomme taucht ihr mit einem Baum und einem 180-Grad-Bildschirm in einen normannischen Apfelhain ein und erlebt drei Minuten lang den Jahresrhythmus von der ersten Blüte bis zur Ernte. Dann wackelt der Boden unter der Last der Erntefahrzeuge!
Danach folgt der Parcours den Verarbeitungsschritten von der Pressung und Fermentation des Cidre weiter zur Fassreife und Flaschenabfüllung. Danach erlebt ihr die Calvados-Herstellung mit Licht- und Toneffekten. Den Abschluss bildet eine Verkostung. Für Kinder steht Bio-Apfelsaft bereit.

Vom Model zur Marianne
Im nahen Pont-Audemer, das der Risle mit seinen Seitenarmen in ein „normannisches Venedig“ verwandelt hat, erblickte im Mai 1978 als zweites von drei Kindern ein Mädchen das Licht der Welt. Im Jahr 2000 wurde es nach Brigitte Bardot, Cathérine Deneuve und Inès de la Fressange von einer Jury von 420 der insgesamt 36.000 Bürgermeistern des Landes zur Millenniums-Marianne gewählt: Laetitia Casta.
Als Verkörperung der Französischen Revolution und ihrer Ziele Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit stand die nach ihr geformte Nationalbüste vor fast jedem französischen Rathaus. Bis im Herbst 2003 die Fernsehmoderatorin Evelyne Thomas aus Perpignan als Nachfolgerin für die Symbolfigur gewählt wurde.

Das Käse-Quartett
Die Ortsschilder im sanft gewellten Innern des Pays d’Auge erinnern an eine gut sortierte Käseplatte: Livarot, Pont-Leveque und Camembert. mAm Anfang der normannischen Käseproduktion stand der quadratische Weichkäse Pont-Leveque, der seit dem 12. Jahrhundert im Pays d’Auge aus roher Kuhmilch produziert wird.
Doch erst durch das mehrmalige Waschen der Rinde in Salzlauge erhält er sein unverwechselbares Aroma. Während der Französischen Revolution erwuchs ihm sein größter Konkurrent: der Camembert.

Als Erfinderin des berühmtesten normannischen Käses gilt Marie Harel. Die Bäuerin hatte 1791 einen rebellischen Priester aus der Region Brie bei Paris, wo der gleichnamige Käse hergestellt wird, bei sich versteckt.
Zum Dank unterrichtete der Priester die Bäuerin in der Kunst des Käsemachens. Sie probierten und experimentierten. 1793 gelang es ihnen schließlich, den einfachen Käse, den die normannischen Bauern seit dem 11. Jahrhundert fertigten, zu einer Delikatesse zu verfeinern. Nach dem Ort seiner Entstehung nannten sie den milden Käse Camembert.

Zum Durchbruch verhalf ihm Napoleon III. Er war geradezu süchtig nach dem Käse und ließ ihn allen Gästen servieren. Heute stellt nur noch die Fromagerie Durand in Camembert den berühmten Käse noch ganz handwerklich aus Rohmilch her. Das verleiht dem Käse seine unnachahmlichen Aromen, die sich während der Reifung von jung zu alt tagtäglich verändern. Welch ein Käseglück für Genießer!
Hof und Boutique sind nicht zeitgeistig schick, sondern zeugen von der Arbeit, die im Käse steckt. Infotafeln an den Wänden und Fenster, die Blicke in die Käserei eröffnen, gewähren auch außerhalb der Öffnungszeiten Einblicke in die Herstellung des Käses, der ein Kind der Französischen Revolution ist. Im Dorf erzählt die Maison du Camembert alles rund um den berühmten Käse – samt Verkostung!
Das Brot der Armen

Fünf Binsenstreifen halten den Livarot zusammen. Der runde Käse mit rötlicher Rinde war im 19. Jahrhundert der beliebteste Käse der Bevölkerung des Pays d’Auge. Da er so geschmackvoll und nahrhaft war, wurd er auch „Brot der Armen“ genannt.
Ein Käse zeigt Herz

Als helles Herz präsentiert sich der Neufchâtel aus dem Pays de Bray am Nordufer der Seine. Hersteller und Historie des milden Weichkäses mit weißem Edelpilz aus dem Département Seine-Maritime präsentiert die dortige Route du Fromage, die ganze Käse-Vielfalt der Normandie der Käsemarkt in Livarot.
Hin zum Markt!
Nicht verpassen solltet ihr auch die zahlreichen Wochenmärkte des Pays d’Auge, die bis heute den Rhythmus der Städte und Dörfer bestimmen. Für die Normannen gleicht der morgendliche Marktbesuch einem Kurzurlaub.
Sie klönen mit den Händlern, können die besten lokalen Produkte kosten und kaufen, treffen sich mit Freunden oder beschließen den anstrengenden Einkaufstag im Marktcafé, wo sie zur Zeitungslektüre einen café calva genießen, den kleinen Koffeinkick mit einem großen Schuss Calvados.

Pays d’Auge: meine Reisetipps
Der Geist des Calvados
Destillerien
Ob als Aperitif, als trou normand während des Essens oder als Digestif: Calvados mundet immer. Der beste Apfelbrand kommt aus dem Pays d’Auge, der dort als einziger der drei AOC aus der Normandie zweimal gebrannt wird. Wie das edle Destillat aus Cidre gewonnen wird, zeigen Schaubrennereien. Meine Favoriten:
• Distillerie Busnel, route de Lisieux, Cormeilles, Tel. 02 32 57 38 80, www.distillerie-busnel.fr
• Château du Breuil, Breuil-en-Auge, Tel. 02 31 65 60 00, https://spiriterie.com
Calvados Experience
• Route de Trouville, 14130 Pont-l’Évêque, Tel. 02 31 64 30 31, www.calvados-experience.com

Alles Käse
„Wie kann man nur ein Land regieren, das für jeden Tag einen Käse hat?“ soll Charles de Gaulle geseufzt haben. Einblicke in die Vergangenheit und Gegenwart der Produktion von Livarot und Pont-l’Évêque gewährt Le Village Fromager (42, rue du Général Leclerc, Livarot, Tel. 02 31 48 20 10) mit Betriebsführung und Käsemuseum. Das Land des Livarot habe ich hier vorgestellt.
Alles Wissenswerte rund um berühmtesten normannischen Käse präsentiert das Musée du Camembert in Vimoutiers (10, avenue du Général de Gaulle, Tel. 02 33 39 30 29). Kaum bekannt ist der Pavé de Plessis, ein aromatischer Weichkäse in einer quadratischen Spanschachtel. Seit 1949 wird er von der Fromagerie du Plessis in kleinen Mengen gefertigt (Fromagerie du Plessis, Noards, Tel. 02 32 20 27 20).

Schlafen & schlemmen
Hôtel-Restaurant Maison du Vert
Das grüne Haus im Dörfchen Ticheville ist nicht nur für Liebhaber der vegetarischen und veganen Küche ein Kleinod. Debbie und Daniel Armitage begrüßen ihre Gäste inmitten eines über 1.000 m² großen Gartens und verwöhnen sie mit einer Küche, die vor allem eines ist: natürlich bunt!
Die Gerichte des Restaurants werden zum großen Teil mit Zutaten aus dem eigenen Gemüse- und Obstgarten zubereitet. Neben dem Restaurant laden drei Zimmer und die Ferienwohnung „La Petite Maison Blanche“ zum Verweilen ein.
• 61120 Ticheville, Tel. 02 33 36 95 84, www.maisonduvert.com
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Glücksorte in der Normandie*
Steile Klippen und weite Sandstrände, bizarre Felslandschaften und verwunschene Wälder, romantische Fachwerkstädtchen und moderne Architektur – die Normandie hat unzählige Glücksorte zu bieten.
Gemeinsam mit meiner Freundin Barbara Kettl-Römer stelle ich sie euch in diesem Taschenbuch vor. Wir verraten, wo die schönste Strandbar an der Seine liegt, für welche Brioches es sich lohnt, ins Tal der Saire zu fahren, und wo noch echter Camembert aus Rohmilch hergestellt wird.
Unser Gemeinschaftswerk stellt euch insgesamt 80 einzigartige Orte vor, die oftmals abseits der eingetretenen Pfade liegen. Wer mag, kann es hier* bestellen.
Normandie: 50 Tipps abseits der ausgetretenen Pfade*
Die Netflix-Serie „Lupin“ hat die Normandie zu einem touristischen Hotspot gemacht. Garantiert keine Massen triffst Du bei meinen 50 Tipps. Sie sind allesamt insolite, wie die Franzosen sagen – ursprünglich, authentisch und wunderschön.
Die Landpartie durch die andere Normandie beginnt im steten Auf und Ab der Vélomaritime, führt zu den Leinenfeldern der Vallée du Dun, zu zottigen Bisons und tief hinein ins Bauernland des Pays de Bray, Heimat des ältesten Käses der Normandie.
Im Tal der Seine schmücken Irisblüten auf hellem Reet die Giebel alter chaumières, und Störche brüten im Marais Vernier. Von den Höhen vom Perche geht es hin zur Normannischen Schweiz und bis zur Mündung des Couesnan an der Grenze zur Bretagne. Hier* kannst Du den handlichen Führer bestellen.
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Braeuchte Jahre um all Ihre guten Vorschlaege betreffend Frankreich und seine Kueche zu erkunden. Calvados ist einer meiner
Lieblingsschnaepse,doch ist es schwer,einen richtig guten zu finden, wenn man nicht gerade in der Region Pay d’Auge ist…schade