Der pot amical der Association Expo Créateurs Agly-Fenouillèdes im Innenhof des Chapitre von Saint-Paul-de-Fenouillet. Foto: Hilke Maunder

Le pot amical: ein Prost der Freundschaft

Le pot amical : Es gibt Momente in Frankreich, die mich immer wieder aufs Neue verblüffen. Einer davon ist dieses harmlos klingende Ritual, das jedoch tiefer in die französische Seele blicken lässt als jede Geschichtsstunde.

Alles beginnt ganz unschuldig. Eine Einladung flattert ins Haus: Der Bürgermeister lädt ein, der Verein feiert oder Kollegen nehmen Abschied. Und immer folgt auf den offiziellen Teil die verheißungsvolle Ankündigung: „Nous vous invitons à partager un verre de l’amitié.“ Wie nett das klingt! Ein kleines Glas zum Anstoßen, eine Geste der Höflichkeit, eine freundliche Umarmung in flüssiger Form.

Doch wer glaubt, es handle sich beim verre de l’amitié, wie der pot amical auch oft genannt wird, um ein schnelles Glas Wasser oder einen bescheidenen Schluck Wein, der täuscht sich gewaltig. Denn der pot amical ist kein einfacher Umtrunk – er ist ein gesellschaftliches Ereignis, das nicht selten eine eigene Dynamik entwickelt. Ein Glas bleibt selten allein. Kaum ist der erste Schluck genommen, füllt sich das Glas wie von Zauberhand erneut. Gespräche vertiefen sich, Stimmen werden lauter, Lächeln breiter. Man prostet sich zu, tauscht Geschichten aus und ehe man sich versieht, ist aus der freundlichen Geste ein ausgewachsenes Fest geworden.

Le pot amical: die Ursprünge

Die Ursprünge dieses Brauchs reichen weit zurück. Bereits im 12. Jahrhundert wurde das Wort pot, das im Deutschen einen runden Krug charakterisierte, ins Französische eingeführt, und schon bald wurde das Gefäß, das Flüssigkeiten oder Lebensmittel enthalten konnte, zum Synonym für feuchtfröhliche Geselligkeit –  und eine soziale Institution. Um 1910 griffen Studenten den Begriff auf und nannten so ihre geselligen Runden, bis sich das Ritual in die Geschäftswelt ausbreitete. Heute gibt es unzählige Anlässe für einen pot amical : Hochzeiten, Taufen, berufliche Abschiede, Vereinsversammlungen oder gar die Anschaffung eines neuen Autos. Alles kann, nichts muss – solange das Glas nie leer bleibt.

Als deutsche Neubürgerin in Frankreich hatte ich meine ersten Erfahrungen mit dem pot amical in gutem Glauben gemacht. Ich nahm an, es handle sich um ein kurzes Anstoßen mit anschließender Heimkehr. Ein fataler Irrtum. Denn wer glaubt, nach einem Glas diskret verschwinden zu können, wird schnell eines Besseren belehrt. Sobald man die Tür in Richtung Ausgang anpeilt, versperrt ein freundliches, aber bestimmtes „Mais, encore un petit verre !“ den Weg. Ein kleiner Schluck noch, eine letzte Runde, man kann doch nicht schon gehen! Die Geselligkeit hat eine magnetische Anziehungskraft, die sich nur schwer abschütteln lässt.

Und dann ist da noch die kulinarische Komponente. Denn ein pot amical kommt selten allein – begleitet wird er von kleinen Häppchen, die geradezu darauf ausgelegt sind, den Durst zu steigern. Salzige Erdnüsse, Oliven, herzhafte Häppchen – sie alle spielen ihre Rolle als stille Komplizen des Glases. Und wer nach mehreren Runden denkt, dass nun genug gefeiert wurde, wird eines Besseren belehrt: Die Franzosen verstehen es meisterhaft, immer noch eine Runde obendrauf zu legen.

Frankreichs flüssige Lebensphilosophie

Doch was, wenn man keinen Alkohol trinkt? Auch hier wartet eine Herausforderung. Wasser wird oft gar nicht erst angeboten. Wer sich an Limonade oder Fruchtsaft hält, sieht sich schnell in der unglücklichen Rolle des Außenseiters. Denn der wahre pot amical kommt mit ein paar Umdrehungen daher, sei es in Form von Wein, Pastis oder Champagner. Die Alkoholgehalte steigen oft proportional zur Dauer der Veranstaltung – und mit ihnen die Lautstärke und die Herzlichkeit der Gäste.

Natürlich birgt das alles auch gewisse Risiken. Denn während die Stimmung steigt, kann der Heimweg schwieriger werden. Wer einmal erlebt hat, wie sich ein vermeintlich kurzer Empfang in eine lange Nacht verwandelt, versteht, warum der pot amical mehr ist als nur ein Getränk – er ist eine französische Lebensphilosophie. Die Kunst besteht darin, sich mit Geschick aus der Runde zu verabschieden, bevor das Glas erneut gefüllt wird. Eine Gratwanderung, die viel Feingefühl erfordert.

Trotz aller Herausforderungen muss ich gestehen: Ich habe den pot amical lieben gelernt. Es ist ein Ritual, das die französische Geselligkeit in ihrer reinsten Form widerspiegelt. Eine Einladung, neue Menschen kennenzulernen, ins Gespräch zu kommen und einfach den Moment zu genießen. Und selbst wenn man sich am nächsten Morgen mit einem leichten Brummschädel wiederfindet – es war es wert. Also gut, noch ein kleines Glas – aber wirklich das letzte. Versprochen!

Mais … was passiert denn jetzt? Gerade, als es gefühlt am schönsten ist, wird plötzlich zusammengeräumt. Jeder, außer mir, scheint den Rhythmus eines pot amical genauestens zu kennen. Und zu wissen: Jetzt ist genug. Gemeinsam werden die Tische gesäubert, wird das Geschirr verstaut, den Abfall entsorgt. Au revoir – bis zum nächsten pot amical !

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Im Blog

In der Reihe „Briefe aus Saint-Paul“ stelle ich Beobachtungen aus meiner zweiten Heimat im Süden vor – Besonderheiten und Bräuche, Alltagserlebnisse und alles, was mir beim Leben in Frankreich auffällt. Hier könnt ihr die Momentaufnahmen nachlesen.

2 Kommentare

  1. Liebe Hilke,
    vielen Dank für diesen reizenden Artikel über das „verre de l’amitié“. Er ist einfach herrlich geschrieben und man freut sich allein schon beim Lesen auf die nächste Einladung zu diesem besonderen Ereignis.
    Herzliche Grüße
    Saskia

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