
Per Zufall fiel mir eine kleine Broschüre in die Hand, die kostenlos im Rathaus auslag: Découverte du partrimoine de Perpignan, quartier par quartier. Das Erbe von Perpignan, Viertel für Viertel. Spannend, dachte ich mir – und nahm mir für jeden Sonntag ein Viertel vor.
Ruscino – Château Roussillon
Die historische Region Roussillon verdankt ihren Namen der antiken Siedlung Ruscino, die heute zwischen Perpignan und dem Mittelmeer in Château-Roussillon zu finden ist. Von der Eisenzeit bis zum Mittelalter war Ruscino besiedelt. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wird auf dem Plateau und den umliegenden Hügeln nach Zeugnisse jener Zeit gegraben.
Freigelegt wurden bislang Spuren eines großen Forums, das unter Augustus (20 v. Chr.-5 n. Chr.) erbaut wurde, sowie die Fundamente einer Siedlung aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert.
Im 11. Jahrhundert wurde eine romanische Kapelle im Herzen von Château-Roussillon erbaut. Im 13. Jahrhundert folgte der Bau des markanten Turms, der heute den Norden der Ebene dominiert – und von der Schnellstraße am Meer zu sehen ist.
Saint-Jean

Perpignan taucht ab 927 n. Chr. in den Annalen auf. Am Ende des 10. Jahrhundert lassen sich die Grafen von Roussillon in der Stadt nieder und machen Perpignan zur Hauptstadt. Rund um seine Keimzelle – Grafenschloss, Église Saint-Jean-le-Vieux und einige erste Straßen – wächst die Stadt rasch.

1324 beginnt der Bau der Kathedrale Jean-Baptiste. Ihr Kreuzgang Campo Santo dient zugleich als Friedhof.

Gesichert wird die blühende Siedlung Ende des 13. Jahrhunderts mit einer Stadtmauer, von der heute noch Le Castillet zeugt.

Saint-Jacques
Außerhalb der Stadtmauer legten die Könige von Aragon im 12. Jahrhundert auf einem Hügel – le Puig – dieses Viertel an. Anfangs nahm es alle Dinge auf, die man intra muros nicht haben wollte.

Die Leprakranken, die in einem Hôpital des Lépreux versorgt wurden, Färber und Tuchmacher, Juden und Gärtner und Gemüsebauern, die in Saint-Jacques die Felder bestellten.

Im 19. Jahrhundert brachte die Industrialisierung die Eröffnung einer Fabrik, in der Papier für Zigaretten gefertigt wurde – JOB.
Am stärksten jedoch prägten fünf Klostergemeinschaften, die sich sukzessive ansiedelten, das Viertel: die Dominikaner, die Dames de Saint-Sauveur, die Grands Carmes, die Minimes, und die Carmes Déchaux.
Und natürlich das Militär mit ihrem Pulvermagazin, der Akademie und der Kaserne „Caserne du Puig“. Alljährlich Anfang September sind sie allesamt Schaustätten für ein renommiertes internationales Fotojournalismusfestival. Was bei Visa pour l’image gezeigt wird, geht unter die Haut.

Heute ist das Viertel stark muslimisch geprägt. Auch zahlreiche Zigeuner leben hier. Ein Erlebnis: der Wochenmarkt auf der Place Joseph Cassanyes. An der nahen Église Saint-Jacques beginnt alljährlich um 15 Uhr am Karfreitag die große Büßerparade Procession de la Sanch.
La Réal

Das Réal-Viertel wird im Norden von den Straßen Rue des Augustin und Rue de la Fusterie begrenzt und endet gen Westen an der Rue Grande la Monnaie und Rue Petite La Réal. 1228 hatten die Pères de la Merci dort Land zu Bebauung erhalten.
Notre-Dame de la Réal wurde im frühen 14. Jahrhundert vollendet Charles Quint spendierte dem Viertel auf eigene Kosten das königliche Sainte-Claire-Kloster, das 1548-50 errichtet wurde.

Im Herzen des Pfarrviertels erhebt sich ein Monumentalbau, der seit seiner Errichtung (1274-1344) sich kaum verändert hat und immer noch das Flair der kurzen mallorquinischen Monarchie in Perpignan bewahrt hat: der Palast der König von Mallorca.
Die Festung, die den Palast der Könige von Mallorca umgibt, wurde jedoch erst zu Zeiten der französischen Besatzung (1463-1493) hinzu gefügt und später von Vauban modernisiert. Die südlichen Wallanlagen wurden leider um 1930 abgerissen, um Platz zu schaffen für neue Wohnhäuser.

Saint-Matthieu
Das Saint-Matthieu-Viertel entwickelte sich ab 1230 entlang des alten Chemin de Mailloles, wo Jacques I. le Conquérant als Regent der Könige von Aragon als jenen Land überließ, die versprachen, es zu bebauen.
Bis heute zeugt die ordentliche Anlage mit rechteckigen Parzellen von einer gesteuerten und kontrollierten Stadtentwicklung. Typisch für das Viertel sind die einheitlichen Fassaden zur Straßenseite.
Die 1305 errichtete Pfarrkirche wurde 1639 plattgemacht, um es den spanischen Königen zu ermöglichen, ihre Zitadelle besser zu verteidigen. Die Suche nach einem neuen Standort für das Gotteshaus des Viertels jedoch gestaltete sich unerwartet schwierig. Erst 1671 erklangen wieder die Glocken.
Das große Kloster der Franziskaner, die als einer der ersten Orden im 13. Jahrhundert nach Perpignan gekommen waren, lag einst im Norden von Saint-Mathieu – Ende des 17. Jahrhundert mussten die Mönche dem Militär weichen, das ein Krankenhaus errichtete und den Friedhof vergrößern ließ.
Saint-Assiscle & Bahnhofsviertel

Das Bahnhofsviertel wurde aus Sicherheitsgründen – in den Böschungen der Eisenbahn könnten sich ja Angreifer verstecken – mit dem Bahnhof von 1882 weitab vom damaligen Zentrum fertiggestellt.
Handwerk, Gewerbe und kleine Industriebetriebe siedelten sich an. Arbeiter zogen in rasch errichtete Mietshäuser, Reiche Händler und Industriebarone verpflichteten Viggo-Dorph Petersen und Raoul Castan als Architekten ihrer Domizile und zeigten ihren neuen Wohlstand mit prunkvollen Verzierungen am Bau.

Lange Zeit durch die Gleise von der restlichen Stadt getrennt, wird heute das in Verruf geratene Quartier Saint-Assiscle mit einem umfangreichen Stadtentwicklungsprojekt neu belebt. Auf 35 Hektar soll es sich zum Vorzeigeviertel des Wohnens und Arbeitens von morgen wandeln.
Seit 1994, dem Start des Projektes, wurden bereits das Hôtel de l’Agglomération sowie El Centre del Mòn fertiggestellt, ein riesiger Büro- und Shoppingkomplex, der auch den TGV-Bahnhof von Perpignan birgt.

Ville Neuve & Faubourg

Am Ende des 17. Jahrhunderts wollte Vauban die Schwachpunkte im Verteidigungswerk von Perpignan verstärken, die Mauer zur Têt verdicken und mit zwei Bastionen versehen. Doch die Arbeiten wurden nicht ausgeführt. Die Entwicklung der Neustadt kam erst mit dem Schleifen der alten Wallanlagen im Zweiten Kaiserreich in Gange.

Die südlichen Ufer der Têt wurden instand gesetzt, das Viertel besser vor Überschwemmungen geschützt, Anfang des 20. Jahrhunderts das erste Palmarium auf einer Terrasse oberhalb des Flusses angelegt.

Mit dem Schleifen der Wallanlagen wurde das Viertel zum Bindeglied zwischen Stadt und Bahnhof, und Händler eröffneten neue Läden. Seit 2011 sorgen das Théâtre de l’Archipel und die umliegenden Geschäfte für neuen Schwung.
Und das auch am Südufer, wo seit 2017 eine neue Promenade mit Trimm-Dich-Geräten und Ruhebänken das Flussufer säumt. Mittenmang: das Restaurant Têt, trendbewusste Eckkneipe und Tapas-Bar der Einheimischen.

Enceintes & Nouveaux Boulevards
Mit der Industrialisierung war das alte Perpignan zu klein geworden – Platz musste her. Edmond Bartissol ließ 1904-06 im Auftrag der Stadt die Wallanlagen im Norden schleifen. Die alten Tore machten großen Plätzen Platz, die breite Boulevards verbinden. Perpignan gewann Wohnraum mitten in der Stadt – und Platz für Kaufhäuser und Kulturstätten.
Zum Flanieren wurde 1809 eine Platanen-Promenade angelegt, die seit 2007 Avenue Maillol heißt. 2019 wurde die älteste grüne Oase der Stadt umfangreich renoviert. Seit 1970 erhebt sich ganz in der Nähe der klotzige Palais de Congrès Georges Pompidou – eine Bausünde, schade.
Le Vernet
Die Geschichte des Viertels im Norden von Perpignan, das ihr als erstes erreicht, wenn ihr von der Schnellstraße oder Autobahn aus nördlicher Richtung kommt reicht bis ins neunte Jahrhundert zurück, auch wenn moderne Wohnblöcke das nicht ahnen lassen.
Eine „Villa de Vernet“ und eine Sankt-Christopherus-Kirche werden 899 erwähnt als Besitz des adligen Stephanus und seiner Gattin Anna, um die sich ein landwirtschaftliches geprägtes Dorf entwickelt.
Bereits 1195 verband eine Brücke das Dorf mit der Stadt Perpignan, doch erst im 18. Jahrhundert ersetzte eine richtige Chaussee den alten Weg – die heutige Avenue du Maréchal Joffre gilt als erster moderner Straßenbau des Roussillon.
Das riesige Viertel – mit Le Bas, Le Moyen und Le Haut der Vernet – birgt heute einige der wichtigsten (Versorgungs-)Einrichtungen von Perpignan: das Centre Hospitalier Saint-Jean de Perpignan, das Lycée Aristide Maillol – und das Stade Gilbert Brutus, Heimstadion der Catalans Dragons, die als einziges Team außerhalb Englands in der Super League Rugby spielen.

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Le Pessebre Vivant: Beim Krippenspiel der Katalanen geht es zu Weihnachten gar teuflisch zu.
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Hallo Hilke, ich habe den Artikel gelesen und es stimmt, Perpignan ist immer wieder eine Reise wert. Die Reise durch die Geschichte und Gegenwart ist an jeder Ecke spürbar.
Besonders gut hat mir die lebendige Altstadt und der Palast der Könige von Mallorca gefallen. Viele Grüße, Claudia