Von der Fabrik zum Kunst-Raum
Für Kunst findet Frankreich immer wieder ungewöhnliche Orte. Alte Fabriken, Kraftwerke und Lagerhallen erwachen zu neuem Leben und verwandeln sich in pulsierende Zentren für Kunst, Kultur und Kreativität. Voilà eine etwas andere Landpartie durchs Hexagon.
Dunkerque: Kunst auf der Werft
In Dunkerque ist zum Ende des Kulturhauptstadtjahres 2013 der Fonds zur Förderung zeitgenössischer Kunst (Fonds régional d’art contemporain – FRAC) des Départements Pas de Calais in die ehemalige Schiffbauhalle AP2 gezogen. Seitdem fungiert sie als Schaufenster regionaler Kunst und Kultur.
Das Pariser Architektenbüro Lacaton & Vassal hat mit viel Pfiff und Respekt dafür die frühere Werft fast unberührt belassen. Ihr zur Seite stellte sie einen sechsstöckigen, transparent wirkenden Neubau.
Er ist der eigentliche Schauplatz. Mitten im ehemaligen Industriegebiet finden auf der revitalisierten Werft seitdem Performances, Konzerte und Workshops statt.
Hinzu kommen spannende Ausstellungen zur aktuellen Kunst. Sie verleihen dem regen kulturellen Leben der Region Ausdruck.
Dank des FRAC wandelten sich in ganz Frankreich ehemalige militärische oder industrielle Anlagen zu regionalen Zentren der Kunst. Das Ziel: die Dezentralisierung von Kultur zur Stärkung der Regionen.
Diese Idee steht auch hinter dem Louvre Lens. Mehr dazu findet ihr hier. Die französische Kunst von 1940 bis 1980 stellt in der Hafenstadt Dunkerque der Lieu d’Art et Action Contemporaine (LAAC) aus.
Toulouse: Das Trio
Kunst im Schlachthof…
1.000 Schafe, 500 Rinder: Das war die Kapazität des Schlachthofs von Toulouse, der von 1860 bis 1985 am linken Ufer der Garonne aktiv war. Bereits kurz nach der Schließung begann der FRAC Midi-Pyrénées (Fonds régional d’art contemporain) mit der Renovierung und weihte in einem Teil des Gebäudes 1993 den Espace Audoin als Raum für temporäre Ausstellungen ein.
Die Renovierungen gingen währenddessen weiter – und endeten zur Jahrtausendwende mit der Eröffnung von Les Abattoirs – Musée d’Art Moderne et Contemporain. 2004 ließen die Sammlungen von Daniel Spoerri und Daniel Cordier das Museum weiter wachsen. Heute sind Les Abattoirs die Adresse im Midi, um moderne und zeitgenössische Kunst in einem außergewöhnlichen Ambiente zu erleben.
…. in der Spulenfabrik von Borderouge
Toulouse vibriert. Das zeigt sich auch in seiner kreativen Dynamik und seinem künstlerischen Schaffen. Neben großen Museen wie Les Abattoirs zeigen Dutzende kleinerer Galerien und Kunstzentren das lokale Kunstschaffen. Zu diesen kleinen Katalysatoren mit großer Durchschlagskraft gehört das BBB Centre d’Art von Borderouge.
Kleiner Kunstraum mit Wirkung
Das BBB hat sein Domizil in der ehemaligen Fabrik für industrielle elektrische Spulen im Süden von Borderouge. Es ist weniger bekannt als andere Kunstzentren der Stadt. Und doch deutlich engagierter und einflussreicher in Politik und Gesellschaft. Seit 1994 unterstützt das BBB als Zentrum für zeitgenössische Kunst das aktuelle kreative Schaffen auf mehreren Ebenen von lokal bis international.
Es zeigt Ausstellungen in situ oder im öffentlichen Raum, bietet Kreativen aus aller Welt mit Künstlerresidenzen einen Ort auf Zeit zum Arbeiten und für Ausstellungen, finanziert neue Werke oder bedeutende Editionen, initiiert den künstlerischen Austausch und fördert die Vernetzung mit Fachveranstaltungen und institutionellen Partnerschaften.
Katalysator für junge Kunst
Jedes Jahr präsentiert daher das BBB auf 450 Quadratmetern vier Einzel- oder Gruppenausstellungen, die jeweils über mehrere Monate laufen. Zu sehen sind hauptsächlich aufstrebende Künstler, die im BBB oft zum allerersten Mal ihre Arbeiten in einer Einzelschau zeigen können. Oftmals leben und arbeiten die gezeigten neuen Talente als artists-in-residence im BBB Centre d’Art – oder waren einmal Gastkünstler dort gewesen.
Das Programm der Ausstellungen ist so breit gefächert wie die Kreativität der Künstler. Fotografie, Malerei, Skulptur, gehören ebenso dazu wie Video- und Audioinstallation oder Performances, die kreative Techniken verbinden. Auch Veranstaltungen, die die Begegnung und den Austausch mit dem Künstler ermöglichen, sind Teil des Programms.
Konzerte, Vernissagen, Lesungen, Workshops sowie Führungen zum Thema Kunst in Toulouse ergänzen das kulturelle Aktionsprogramm. Wer Lust bekommt, selbst einmal kreativ zu werden, kann in Workshops künstlerische Techniken wie Malen und Zeichnen, Linol- und Holzschnitt oder das Arbeiten mit Ton erlernen.
Für Künstler und Fachleute ist das BBB zudem Ressourcen-Plattform und Schnittstelle. Es berät, vermittelt, verteidigt die künstlerische Freiheit und verbindet alternative Szenen mit großen Institutionen.
… im Textilwerk von Bonnefoy
In Toulouse vibriert eine schier unerschöpfliche kreative Energie. Nicht nur in den Museen und Galerien, sondern gerade auch in den Stadtteilen. Die drei Vereine ALaPlage, Annexia und VolkSystem arbeiten seit den 1990er-Jahren daran, neue Talente in einem nicht kommerziellen Umfeld aufzuspüren und jungen Künstlern den Einstieg in die zeitgenössische Kunstszene zu erleichtern. Dazu kooperieren sie mit den Kunstschulen der Region und dem regionalen Kunstfonds Fonds régional d’art contemporain (FRAC) Occitanie. Im Frühjahr 2007 eröffneten sie im einstigen Textilwerk von Bonnefoy den Kunst-Raum Le Lieu-Commun.
450 Quadratmeter sind dort für Ausstellungen reserviert. Der Rest verteilt sich auf Werkstätten, Büros und Künstlerwohnungen. Experiment und Austausch prägen das Ausstellungsprogramm, das bewusst Genregrenzen sprengt. So sind neben lokalen, regionalen und französischen Künstlern auch immer wieder internationale Kreative zu sehen. Biennale-Künstler Boris Achour zeigte im Lieu Commun seine Installationen, Céleste Boursier-Mougenot aus Sète ihre ungewöhnliche Klangkunst. Die Bretonin Virginie Barré war mit Malerei zu sehen, Grégory Chatonsky mit digitaler Kunst. Pierre Huyghe hinterfragte in seinen Videos die Realitätsebenen des Films.
Straßenkunst von Space Invader, Skulpturen von Morgane Tschiember und Lawrence Weiner, Performances von Julie Vayssiere: Jede Ausstellung eröffnet neue Blicke auf die Kunst von heute. Zu entdecken waren dort auch schon Deutsche: der inzwischen verstorbene Bremer Klangkünstler Rolf Julius und die Malerin Katharina Schmidt aus Witten, die von 2004 bis 2016 an der Toulouser Kunsthochschule unterrichtete.
Ein halbes Dutzend Ausstellungen organisiert das Kunstzentrum jedes Jahr. Hinzu kommt ein breit gefächerter Veranstaltungskalender mit Konzerten, Workshops, Grunge-Kabarett und anderen ungewöhnlichen Veranstaltungen.
Sigean: vom Weinlager zum L.A.C – Lieu d’Art Contemporain
Ein riesiges altes Weinlager in einem Weiler am Étang de Sigean birgt seit 1991 die wohl aufregendste Adresse für zeitgenössische Kunst im Großraum Narbonne: das L.A.C – Lieu d’Art Contemporain.
Vor mehr als 30 Jahren wurde der rund 2.000 Quadratmeter große chai vom holländischen Maler Piet Moget und seiner Tochter Layla komplett umgestaltet, um die Werke zeitgenössischer Künstlern unterzubringen.
Eröffnet wurde mit einer Retrospektive von Geer Van Velde und Jacques Villon, Richard Long, Fred Sandback und Walter de Maria.
1993 zeigte die Ausstellung „Profil einer Galerie“ Werke von Robert Barrie, Niele Toroni, Jean-Michel Basquiat, Robert Combas, Carl Andre, Sol LeWitt und Agnes Martin.
Auch Anselm Kiefer war damals dort zu sehen. 1994 folgten Serge Charchoune, Richard Serra, David Tremlett, Yan Pei Ming, Matias Spescha und viele andere.
1997 widmete sich das L.A.C. den beiden deutschen Künstlern Wolfgang Laib und Thomas Ruff. 1998 waren einige Berliner Künstler im L.A.C. zu sehen.
Installationen des niederländischen Künstlers Carlijn Mens erstaunten, ebenso die Auswahl von Werken aus dem FRAC Fonds Régional d’Art Contemporain Occitanie. Jeder Besuch begeistert mich aufs Neue!
• 1, rue de la berre, Hameau du lac, 11130 Sigean, Tel. 04 68 48 83 62, www.lac.narbonne.art
LUMA Arles: Aktuelles unter Dampf
Die einstigen (Dampflok-) Bahnwerkstätten der SNCF in Arles haben sich in den letzten Jahren in den Parc des Ateliers verwandelt. Herzstück dieses Areals ist die Grande Halle, ein beeindruckender Ausstellungsraum, den seit 2013 die LUMA Arles Foundation von Maja Hoffmann bespielt.
Die Grande Halle, 1888 – 1894 erbaut, besticht durch ihre imposante Größe und lichtdurchflutete Architektur. Mit einer Fläche von 5.000 Quadratmetern und einer Höhe von 17,5 Metern bietet sie ein einzigartiges Ambiente für außergewöhnliche Kunstausstellungen.
Im Fokus stehen zeitgenössische Werke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Die Ausstellungen regen zum Nachdenken an, hinterfragen gesellschaftliche Themen und bieten neue Perspektiven auf die Welt.
Bordeaux: Videomapping im U-Boot-Bunker
Im einstigen deutschen U-Boot-Bunker von Bordeaux zeigt seit 2022 Culturespaces digitale Kunst von klassisch bis experimentell. Umgenutzt als Präsentationsfläche für allerfeinste Pixel-Kunst mit Multimedia wurden auch eine Werkstatt in Paris und ein ehemaliger Steinbruch in den Alpilles. Klickt hier für mehr Infos.
Schon gewusst?
Le 1 % artistique
In Frankreich ist der 1 % artistique Pflicht bei jedem öffentlichen Bauprogramm. Das bedeutet, dass ein Prozent der Baukosten in zeitgenössische bildende Kunst investiert werden muss. Seit seiner Einführung im Jahr 1951 hat der 1% artistique rund 12.400 Werke von 4000 Künstlern finanziert.
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Im Blog
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Im Buch
Klaus Simon, Hilke Maunder, Secret Citys Frankreich*
Gemeinsam mit meinem geschätzten Kollegen Klaus Simon stelle ich in diesem Band 60 Orte in Frankreich vor, die echte Perlen abseits des touristischen Mainstreams sind. Le Malzieu in der Lozère, Langogne im Massif Central, aber auch Dax, das den meisten wohl nur als Kurort bekannt ist.
Mit dabei sind auch Senlis, eine filmreife Stadt im Norden von Frankreich, und viele andere tolle Destinationen. Frankreich für Kenner – und Neugierige!
Lasst euch zu neuen Entdeckungen inspirieren … oder träumt euch dorthin beim Blättern im Sessel oder am Kamin. Wer mag, kann das Lesebuch mit schönen Bildern hier* bestellen.
Klaus Simon, Hilke Maunder, Roadtrips Frankreich*
Das zweite gemeinsame Werk mit Klaus Simon stellt euch die schönsten Traumstraßen zwischen Normandie und Côte d’Azur vor. 14 Strecken sind es – berühmte wie die Route Napoléon durch die Alpen oder die Route des Cols durch die Pyrenäen, aber auch echte Entdeckerreisen wie die Rundtour durch meine Wahlheimat, dem Fenouillèdes.
Von der Normandie zur Auvergne, vom Baskenland hin zu den Stränden der Bretagne und dem wunderschönen Loiretal laden unsere Tourenpläne ein, Frankreich mobil zu entdecken – per Motorrad, im Auto, Caravan oder Wohnmobil. Hier* gibt es das Fahrtenbuch für Frankreich!
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