Saint-Sever: Tor zur Chalosse
Auf dem ersten Ausläufer der Pyrenäen thront die Stadt Saint-Sever über dem Fluss Adour und markiert seit mehr als zwei Jahrtausenden die Grenze zwischen der Ebene der Gascogne und den Hügeln des Terroirs von Chalosse.
Langsam erobert das erste Sonnenlicht die Arkaden der Place du Tour de Sol und huscht über eine Marmortafel. 43 Grad, 45 Minuten und 38 Sekunden nördlich des Äquators und zwei Grad, 54 Minuten und 42 Sekunden östlich von Greenwich verkündet sie in 99,272 Metern Höhe auf der Fassade einer Benediktinerabtei, die Saint-Sever im 11. Jahrhundert zum Pilgerziel machte. Penibel genau bemisst die alte Hauptstadt der Gascogne die Distanz zur französischen Kapitale: Paris 707 Kilometer. Jeder Stein atmet hier Geschichte, Jeder Schritt durch die kopfsteingepflasterten Gassen ist eine Zeitreise.

17 Kilometer südlich von Mont-de-Marsan, an der Grenze zwischen Gascogne und Chalosse, hat Saint-Sever überlebt, was andere Städte zerstört hat: Wikingereinfälle, Religionskriege, zwei Weltkriege. Die Stadt trotzte allem. Schon die Kelten erkannten die strategischen Vorzüge ihrer Lage.
Von der Butte de Morlanne aus überblickt ihr fast das gesamte Tal des Adour. Bereits in vorrömischer Zeit errichteten die Kelten hier ein Oppidum, das später von den Römern als Militärlager und Verwaltungssitz weitergenutzt wurde. Auf dem Landsitz Villa Gleyzia d’Augreilh lebten wohlhabende Römer und ließen sich kunstvolle Mosaiken legen.

Blut, Schweiß und Wikinger
Im Jahr 982 hatte Graf Guillaume Sanche ein Problem. Die Wikinger vor den Toren der Gascogne. Nach der Schlacht von Taller – einem Gemetzel, das die Chronisten mit drastischen Worten schildern – schwor der siegreiche Graf: Falls er überlebt, wird er Gott eine Abtei bauen. Er überlebte. Und hielt Wort. Das war die Geburtsstunde von Saint-Sever als religiösem Zentrum. Heute ist Saint-Sever Teil des UNESCO-Welterbes der französischen Jakobswege und nicht nur Pilger machen hier Station auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela.
Die Apokalypse der Mönche

1060 war ein Jahr wie jedes andere in der Abtei Saint-Sever. Bis Stephanus Garsia zur Feder griff. Der Buchmaler ahnte nicht, dass er gerade Kunstgeschichte schrieb. Gemeinsam mit anderen Schreibern schuf er unter Abt Grégoire de Montaner ein Manuskript, das Europa in Staunen versetzen sollte: den Beatus von Saint-Sever.
Das Werk ist ein reich illuminiertes Manuskript des Kommentars zur Apokalypse des Johannes, verfasst vom asturischen Mönch Beatus von Liébana im 8. Jahrhundert. Es enthält neben diesem berühmten Kommentar auch Ausführungen zu den Evangelisten, eine Genealogie Christi sowie den Daniel-Kommentar des Hieronymus.

600 Seiten Pergament, verziert mit 112 Miniaturen und mehr als 1400 farbigen Initialen: Die „Apokalypse von Saint-Sever“ ist ein Farbenrausch aus Gold, Purpur und Ultramarin. Apokalyptische Reiter galoppieren über die Seiten, fantastische Bestien recken ihre Häupter gen Himmel. Maiestas Domini nennt sich die berühmteste Illustration des Buches: Auf zwei Seiten lässt sie Christus in all seiner Herrlichkeit leuchten.
Von 27 erhaltenen Beatus-Handschriften weltweit ist dies die einzige, die in Frankreich entstand. Fast alle anderen stammen aus Spanien. Heute ruht das Original in der Pariser Nationalbibliothek. Doch im Jakobinerkloster von Saint-Sever widmet sich ein ganzer Saal des Musée d’art et d’histoire du Cap de Gascogne diesem Meisterwerk. Die Reproduktionen zeigen: Hier wurde nicht nur Geschichte geschrieben, sondern gemalt.


Krieg der Konfessionen
Das einstige Jakobinerkloster erzählt nicht nur im Museum von kriegerischen Zeiten. 1278 hatte Eleonore von Kastilien einen Plan. Die Ehefrau des englischen Königs Eduard I. wollte mit dem Bau eines Konvents außerhalb der Stadtmauern Einfluss auf das städtische Leben nehmen und ein Gegengewicht zur mächtigen Benediktinerabtei schaffen. Politisches Kalkül in Mönchskutten: Die Dominikaner (auch Jakobiner genannt) waren als Bettelorden stärker im Volk verwurzelt als die Benediktinern, die eher zurückgezogen lebten.

Die Rechnung ging auf – bis zur Reformation. Gabriel de Montgomery, Hugenottenführer und Schrecken der Katholiken, setzte Teile des Klosters in Brand. Was heute als Kreuzgang mit roten Backsteinsäulen beim Blumenmarkt eine schöne Kulisse bildet, ist das Ergebnis einer Wiederaufbau-Aktion im 17. Jahrhundert.
Während des Zweiten Weltkriegs besetzte die deutsche Wehrmacht das einstige Kloster und nutzte es als Kaserne. An die damalige Präsenz der Nazis erinnert bis heute die über der Ausfahrt des Klosters sichtbare deutsche Inschrift „Höhe“.

Wunder im Wohnzimmer
Der örtliche Richter Léopold Capdeville war im späten 19. Jahrhundert Eigentümer eines Stadthauses an der Place Verdun 9. Als 1870 bei Straßenarbeiten die Villa Gleyzia d’Augreilh entdeckt wurde, ließ er flugs die antiken gallo-römischen Mosaiken ausgraben und in sein Haus verlegen. Wenige Jahre später übernahmen Dr. Sentex und seine Familie das Haus und machten es zu ihrer Praxis und ihrem Wohnsitz.

Geometrische Muster in Rot, Schwarz und Weiß breiten sich unter den Füßen aus. Florale Ornamente winden sich um Säulen, Schachbrett- und Fischgrätmuster bedecken den Boden. Polychrome Rosetten für die Quadrate. Große achteckige Sterne trennen die einzelnen Flächen.
Diese Mosaiken aus dem 4. Jahrhundert erzählen vom Luxus der römischen Oberschicht in Aquitanien. Ein Privathaus als archäologisches Museum – in Saint-Sever könnt ihr es auf Führungen des Office de Tourisme und bei den Journées du Patrimoine im September besichtigen.

Welterbe am Jakobsweg
Die Place Verdun eröffnet den Blick auf den Chor und den eckigen Glockenturm der Stadtkirche, die Place du Tour de Sol auf das romanische Portal der Abteikirche von Saint-Sever. Auffällig schlicht ist es, geprägt von rundbogigen Archivolten, eingerahmt von einer Fassaden im kunterbunten Materialmix. Die heutige Kirche entstand im 11. Jahrhundert nach einem verheerenden Brand, wobei sie unter Abt Grégoire de Montaner (1028–1072) nach dem Vorbild von Cluny wiederaufgebaut wurde.

Ihre Fassade ist ein erstaunlicher Materialmix. Für die Mauern wurden vor allem Backstein, Kalkstein (bzw. Grès/Sandstein), Kieselsteine (Galet) und andere lokale Materialien verwendet. Mal liegen die Wände frei, anderenorts sind sie sorgfältig verputzt, und auch die Dächer bezeugen mit der Vielfalt ihrer Ziegel, wie oft am Gotteshaus gebaut und geflickt wurde. Als Spolien im Chor und Querschiff wurde Marmorsäulen wiederverwendet, die aus dem Palast des römischen Statthalters von Morlanne stammen.

Hinter der rotfarbenen Eingangstür erwartet euch im Inneren eine Schatzkammer der Romanik. 150 Kapitelle schmücken Säulen und Bögen, etwa 50 davon stammen noch aus dem Hochmittelalter. Hier winden sich Ranken um Säulen, dort erzählen biblische Szenen stumme Geschichten, dann blicken vier Löwen, jeder mit einem anderen Gesicht, von der Säule hinab. Pflanzliche und tierische Darstellungen wechseln sich ab mit figürlichen Motiven – jedes Kapitell ein kleines Kunstwerk für sich.



Die Kirche besaß im Mittelalter zahlreiche Reliquien, von denen die berühmteste der Kopf des heiligen Severus war. Diese Hauptreliquie wurde jedoch während der Hugenottenkriege im 16. Jahrhundert zerstört. Nach der Zerstörung suchten die Mönche nach Ersatz.
1714 erhielten sie vom Erzbischof von Bordeaux die Erlaubnis, einen Teil der Reliquien des heiligen Severus aus dem Schrein in Bordeaux zu überführen. Die feierliche Rückkehr dieser Reliquien nach Saint-Sever fand 1716 statt. Das heutige Reliquiar stammt aus dem Jahr 1783 und befindet sich in Kirchenschatz der Abteikirche, der im Kapitelsaal ausgestellt ist.

Doch das wahre Geheimnis der Kirche liegt verborgen. Am Altar könnt ihr eine hölzerne Klappe heben – und in Antike blicken. Unter euren Füßen breitet sich ein gallo-römisches Mosaik aus, ein stummer Zeuge der Zeit, als hier noch römische Legionäre patrouillierten. Geschichte überlagert Geschichte.

Ausgetretene Treppen führen vorbei an der tonnenschweren Kirchenglocke den Glockenturm hinauf zu einer kleinen Aussichtsplattform. Weit schweift der Blick über die roten Ziegeldächer der Altstadt, die grünen Hügel der Chalosse und die silberne Linie des Adour – Saint-Sever breitet sich aus wie ein lebendiges Gemälde. Von der Antike über das Mittelalter bis hin zu den Schlössern und Herrenhäusern des 17. bis 19. Jahrhunderts ist Saint-Sever ein Geschichtsbuch unter freiem Himmel.

Die Lebensart der Landes
Keine fünf Minuten vom Stadtzentrum entfernt findet ihr die Arena auf der Butte de Morlanne. Seit 1933 finden hier Stierkämpfe statt – allerdings in der Variante der Gascogne. Bei den courses landaises stirbt kein Stier. Er will die Dominanz des Menschen durch die Geschicklichkeit der Männer zeigen. Elegant weichen sie den Hörnern aus, springen über die Tiere hinweg. Blutig wird es selten.
Zurück in der Altstadt herrscht entspannte Gemütlichkeit. Im Lafayette wie bei La Muleta ist jetzt Zeit für den Apéro, und auch unter den Platanen auf der Place de Verdun werden die ersten Gläser gefüllt – samstags, zur Marktzeit, auch gerne schon am Vormittag.

Der Markt in den Halles lockt mit rillettes, confit, magret, foie gras und anderen Spezialitäten von der Ente, Pasteten mit Armagnac und frischen Austern aus dem Becken von Arcachon.
Wenige Schritte weiter schiebt Nicolas mittags Teller um Teller von der halb offenen Küche auf den Tresen: Zeit für das déjeuner. Zum Auftakt gibt es frischen weißen Spargel, tief verwurzelt im Département, kreativ verjüngt mit Guacamole.

Saint-Sever: meine Reisetipps
Hinkommen
Mit der Bahn
Die nächstgelegenen größeren Bahnhof befinden sich in Mont-de-Marsan oder Dax. Von dort fahren Regionalbusse weiter nach Saint-Sever.
Mit dem Bus
- Linie 452: Verbindet Mont-de-Marsan (Bahnhof) über Saint-Sever nach Hagetmau. Der Bus hält in Saint-Sever an der Place de la République. Es gibt werktags mehrere Verbindungen täglich.
- Linie 527: Verbindet Dax (Bahnhof und Zentrum) mit Saint-Sever. Auch hier gibt es werktags mehrere Fahrten, der Bus hält ebenfalls an der Place de la République.
Schlemmen und genießen
L’Art des Mets
In einem ehemaligen Weinkeller bietet Nicolas Fort raffinierte,hausgemachte Gerichte der Saison aus regionaler Produktion.
• 19, rue Louis Sentex, 40500 Saint-Sever, Tel. 05 47 87 90 41, https://lartdesmetsaintsever.com

Plaisir et Gourmandise
„Vergnügen und Gaumenfreuden“ versprechen Gérôme und Laëtitia bei einem Mahl in ihrem echten englischen Bus. Beide bieten auch Catering an.
• ZA Escales, 40500 Saint-Sever, Tel. mobil 06 65 41 65 42, www.plaisiretgourmandise-traiteur.fr
L’Atout fermier
Ein „Bauern“-Laden, der mehr als 60 Erzeuger vereint, die eine gemeinsame Liebe zu ihrem Beruf und ihrer Region verbindet.
• 7, ZA Escales, 40500 Saint-Sever, Tel. 05 58 06 35 37, www.latoutfermier.fr
Shopping
Pyrenex
1859 gründete Abel Crabos in Saint-Sever eine Firma, die sich auf das Sammeln, Reinigen und Veredeln von Gänse- und Entendaunen aus den Landes spezialisiert hat. Heute gilt Pyrenex als Premium-Mark für hochwertige Naturdaunen, die in Bettwaren, Schlafsäcken und seit den 1960er-Jahren auch in Outdoor-Bekleidung wie Daunenjacken und Parkas verarbeitet werden. 2020 wurde Pyrenex vom französischen Staat als Entreprise du Patrimoine Vivant ausgezeichnet und damit als Unternehmen des lebendigen Kulturerbes. Zweimal pro Jahr – meist im Februar und im November, locken Fabrikverkäufe die Schnäppchenjäger.
• 28, rue de Papin, 40500 Saint-Sever, Tel. 05 58 76 03 40, https://pyrenex.com

Veranstaltungen
Varietas Florum
Mitte April verwandelt sich der Innenhof des Jakobinerkloster in einen großen Markt für Blumen- und Pflanzenliebhaber.
Fêtes de Saint-Jean
Zur Mittsommerwende feiert Saint-Sever den Johannistag fünf Tage und Nächte lang mit Festen, Konzerten, Aufführungenen und gemeinsamen Mahlzeiten.
Vasconiales
Alljährlich am ersten Wochenende im August ehrt Saint-Sever seine mittelalterliche Vergangenheit mit Troubadouren, Tänzern, Rittern, feinen Damen, Aufführungen und Banketten.
Fêtes du quartier de Péré
Am letzten Augustwochenende feiert das Stadtviertel Péré an den Ufern des Adour, unter anderem mit einer Wagenparade auf dem Wasser.
Hier könnt ihr schlafen*

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