Cannes: Blick vom Croix de Gardes auf die Stadt. Foto: Hilke Maunder
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Die „Mamadous“ von Cannes

Ich freue mich, dass Krimi-Autorin Christiine Cazon immer wieder auch aktuelle Themen aufgreift. Und mir diesen Gastbeitrag geschickt hat zu den Mamadous, den Straßenhändlern von Cannes. Viel Spaß beim Lesen!

PS. Auf Fotos der Straßenhändler wurde bewusst verzichtet.


Cannes: Crhistine Cazon in ihrer Schreibstube. Foto: Hilke Maunder
Christine Cazon in ihrer Schreibstube. Foto: Hilke Maunder

„Ich lebe in Cannes.“ Kaum habe ich diesen Satz außerhalb Cannes‘ ausgesprochen, schon sehe ich das Funkeln in den Augen meiner Gesprächspartner. Cannes! Wow!

Mit prüfendem Blick wird schnell abgeklärt, ob ich vielleicht eine Berühmtheit bin, die inkognito unterwegs ist, aber selbst wenn nicht, so behandelt man mich doch ein bisschen aufmerksamer, es könnte sich lohnen, nett zu mir zu sein, denn sicher bin ich reich. Alle sind reich in Cannes, in dieser goldglänzenden Luxusstadt an der Côte d’Azur.

Der schöne Schein

Märchenland! Man besitzt Yachten, residiert in Villen und strahlt um die Wette mit den Stars während des Filmfestivals! Cannes! Die Croisette, die Luxusboutiquen, die Palmen, die Sonne und natürlich das Meer, dieses verführerisch leuchtende, türkisblaue Mittelmeer! Alle sind hier reich, das Leben ist süß, niemand arbeitet, alle verbringen ihre Tage mit Sonnenbaden, Golf-und Bridgespielen, Shoppen und Essengehen, und das Geld wächst auf den Bäumen. Alle glauben das. Und nicht nur die Menschen in den ärmeren Ländern jenseits des Mittelmeers. Ach, Cannes. Ich werde nicht müde, zu sagen, dass Cannes ganz anders ist, als man gemeinhin glaubt

Reich? Eine Minderheit

Natürlich gibt es Reichtum in Cannes. Aber nur eine kleine Schicht sehr wohlhabender Einwohner residiert wirklich in prunkvollen Villen mit Meerblick im luxuriösen Stadtteil La Californie oder ankert mit einer 85-Meter Jacht in der Bucht vor Cannes. Und nur die Pensionäre haben die Zeit für lange Bridgeturniere und ausgedehntes Sonnenbaden. Pensionäre gibt es hier zwar wirklich eine ganze Menge, aber dennoch stehen die allermeisten Menschen in Cannes, wie überall auf der Welt, jeden Morgen auf und gehen zur Arbeit.

Die Mamadous – meine Nahbarn

So auch ich, und so auch meine Nachbarn: die Mamadous. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem ich mein Büro habe, leben links in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung seit etwa 30 Jahren, sprich bereits in der dritten Generation, einige Afrikaner. Sie sind meistens fünf, manchmal auch nur zwei oder drei, aber fünf passt bei aller Enge gut, weil die Miete so für jeden hundert Euro beträgt. Offiziell wohnt hier natürlich nur einer, machen wir uns nichts vor. Früher dachte ich, es sei vielleicht auch nur einer wirklich en règle, das heißt mit offiziellen Papieren, aber ich weiß heute, dass sie alle en règle sind.

Sie haben einen Pass, eine Aufenthaltserlaubnis und ein angemeldetes Reisegewerbe. Sie sind nämlich Händler, Straßenhändler, um genau zu sein. Es sind genau die Afrikaner, die sich den ganzen Tag an den touristischen Orten Cannes‘ aufhalten, oder auch kilometerlang am Strand entlang laufen, um hier wie dort Sonnenbrillen, Tücher, Hüte, Stofftiere und bei Bedarf manchmal auch Regenschirme anzubieten. Man nennt sie hier nur les Mamadous (und sie selbst nennen sich auch so), vermutlich, weil einer von ihnen immer Mamadou heißt.

Freundlich und diskret

Meine Nachbarn sind sehr freundlich, sie lachen viel, aber unsere Unterhaltung reduziert sich aufgrund ihrer spärlichen Französischkenntnisse und vielleicht auch aufgrund einer gewissen Scheu auf eine Begrüßung, bei der gern mehrfach gegenseitig nachgefragt wird, ob es einem gut gehe. Bonjour, ça va ? „Guten Tag, wie gehts?“, frage ich etwa. Merci, ça va ! „Danke, gut“, wird mir geantwortet, und mit Vous ça va ? wird dann nach meinem Befinden zurückgefragt. Oui, merci, ça va, antworte ich.

Klar geht’s mir gut, etwas anderes will sowieso nie einer wissen, die Frage ist einfach eine Begrüßungsfloskel. Ça va ?, fragt manch einer höflicherweise noch einmal nach. Ça va, ça va, bestätige ich gern zum zweiten Mal. Alors, ça va .

„Dann ist‘s ja gut“, wird zufrieden genickt, und schnell ist man hinter seiner Wohnungstür verschwunden. Sie sind sehr diskret und leise. Man hört sie quasi nie, nur ab und an telefoniert jemand in einer fremden Sprache laut vor meinem Bürofenster: Afrika ist weit, die Verbindung vermutlich schlecht. Abends spät klappern irgendwann Töpfe und Pfannen, und dann riecht es bald im ganzen Haus lecker nach Curryhuhn.

Mystische Bruderschaft

Die Mamadous von Cannes sind Senegalesen, sie gehören alle der Bruderschaft der Mouriden an, einer mystischen Bewegung, deren spirituelle Inhalte sich auf die Formel „Beten und Arbeiten“ zusammenfassen lassen. Handel, etwas wofür die Senegalesen ohnehin bekannt sind, insbesondere der Straßenhandel im europäischen Ausland, ist heute der größte Erwerbszweig dieser Gruppe, die ihren religiösen Mittelpunkt in Touba hat: eine heilige Stadt im Inneren Senegals, ein Wallfahrtsort, vergleichbar mit Mekka.

Die Mouriden sind in Familien und Clans organisiert, und sie sind ganz generell ein großes Netzwerk. Man hilft sich gegenseitig. Alteingesessene Händler geben an Jüngere ihre Vertriebsstrukturen, ihre Erfahrungen und Tipps weiter. Sie bieten ganz konkret einen Schlafplatz, eine Art „Familie“ an, manchmal sogar etwas Startkapital, damit Neuankömmlinge ihr Geschäft beginnen können. Aber jeder bleibt, innerhalb seines Clans, selbständig.

Ein Job mit Renommée

Händler im Ausland zu sein hat einen guten Ruf im Senegal: Für junge Männer klingt es nach Freiheit und Abenteuer, und in Europa zu arbeiten und dem reichen Leben mit den ersehnten Konsumgütern nahe zu sein, klingt verlockend.

Wie hart das „süßes Leben“ dann ist, dass man in Clans eingebunden ist, wo man religiös und geradezu mönchisch lebt, und tagein, tagaus, wie gefordert, „betet und arbeitet“, kann man sich vorher nicht vorstellen. Aber genau deshalb sind die Händler auch stolz: Ihre Arbeit, so banal sie aussieht, kann eben nicht jeder machen.

Es braucht Kraft, körperlich aber auch seelisch, um jeden Tag aufs Neue seine Waren in großen Taschen oder Rucksäcken herumzutragen und in oft unfreundlichem Umfeld anzubieten. Sie schaffen es „mit der Hilfe von Gott“, wie sie sagen.

„Wir sind „gute Muslime“, beteuert mir mein Nachbar Sylla M’baye, „wir beten, und wir gehen einer ehrlichen Arbeit nach“, betont er. „Wir sind nicht kriminell, wir verkaufen keine Drogen, wir stehlen nicht.“ Man hört den Stolz in seiner Stimme. Sie verdienen ihr Geld buchstäblich im Schweiße ihres Angesichts, und alle ernähren damit zu Hause, im Senegal, eine große Familie.

Im Sommer in Cannes, im Winter in der Heimat

In der Regel arbeiten meine Nachbarn nur während der Sommersaison, grob gesagt von Mai bis Oktober, und sie verbringen den Winter zu Hause, im Senegal bei ihren Familien. Seit einigen Jahren aber läuft es nicht mehr so gut: die Krise, die die europäischen Länder schüttelt, macht sich auch für sie bemerkbar.

So lange die Menschen reisten und im Urlaub großzügig Geld ausgaben, fielen genügend „Krümel“ vom reich gedeckten europäischen Tisch und in ihre Hände. Mit diesen „Krümeln“ konnten sie mit ihren Familien jahrzehntelang gut leben. Die Touristen aber sind weniger geworden, und die wenigen sparsamer, alle, die vom Tourismus leben, haben daran zu knabbern, und die Mamadous am Ende der Kette, spüren es am meisten.

Die Einnahmen sinken

Sie reisen zunehmend später nach Hause und versuchen, selbst im November, trotz der wenigen Touristen, noch ein bisschen Geld zu verdienen, und neuerdings kommen sie auch früher wieder zurück. Ihre Wohnung ist in der Zwischenzeit an andere Afrikaner untervermietet, die es sich nicht leisten können, nach Hause zu fahren. Denn das gibt es auch.

Männer, die ihre Familien jahrelang nicht sehen, die ihnen vielleicht hin und wieder 50 Euro schicken können, aber nicht genug Geld für die Reise nach Hause haben. Denn nach Hause fahren bedeutet, neben den Kosten für ein Flugticket, dass man zusätzlich zum Geld auch Geschenke für alle mitbringt.

Die Mamadous sind zu Hause der Stolz der Familie, und Eltern, Brüder, Schwestern, Frauen, Kinder und sämtliche Cousins erwarten, dass sich etwas aus dem Füllhorn des goldglänzenden Cannes auch über sie ergießt. Sylla M’baye ist zusätzlich auch der Chef seines Dorfes, und bei ihm stehen, neben der Familie, auch die Dorfbewohner Schlange, um für sich oder für jemand anderen, etwas zu erbitten: ein Handy, eine Uhr, Werkzeug, Geld, ein Spielzeug für die Kinder, irgendwas von dem Schnickschnack, von dem man in Afrika glaubt, dass er hier kostenlos herumliegt. (Wenn man den Sperrmüll manchmal sieht, haben sie damit nicht ganz Unrecht!)

Stolz der Familie

Jeder braucht immer etwas, und sie sind doch jetzt reich. Und alle Mamadous geben gerne und voller Stolz, und sie mehren ihren Ruhm und ihren Ruf, reich und großzügig zu sein, und dann fahren die reichen Mamadous irgendwann völlig ausgeplündert zurück ins reiche Cannes, um dort noch ein bisschen Geld von den Bäumen zu pflücken. Und sie erzählen zu Hause nicht, wie mühselig und erniedrigend und wie verdammt einsam ihr kleines armes Leben im Märchenland ist.

Seit dem Attentat in Nizza am 14. Juli 2016, bei dem, nach heutigem Stand, 86 Personen getötet und mehrere Hundert verletzt wurden, hat sich ihre Situation noch einmal entschieden verschlechtert. Die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, die jetzt überall in Kraft getreten sind, sehen in Cannes beispielsweise ein Verbot vor, an touristischen Orten große Taschen und Rucksäcke zu tragen. Das kommt im Prinzip einem Verbot des Straßenhandels gleich. „Aber wir sind doch harmlos“ sagt mir Sylla M‘baye aufgewühlt, nachdem man ihn erneut kontrolliert und ihm eine Geldstrafe aufgebrummt hat.

Unter Druck

„Wir arbeiten und wir sind ehrlich. Wir sind gute Muslime. Wir tun nichts Böses. Wenn alle so wären, wie wir, wäre alles gut. Das wissen doch auch die Polizisten“, sagt er mir hilflos. „Die kennen uns doch!“ Sylla M‘bave ist seit dreißig Jahren in Cannes. Er ist en règle, er hat ein Reisegewerbe angemeldet, aber es hilft nichts. So wenig wie im letzten Jahr, hat er in all den Jahren noch nie verdient. Für die afrikanischen Straßenhändler in Cannes bedeutet das, neben steten Kontrollen und Strafmandaten, ein langsames Aus.

Schon lange interessiert mich das Leben der afrikanischen Mamadous-Straßenhändler in Cannes. In meinem vierten Kriminalroman Endstation Côte d’Azur* mit Kommissar Léon Duval habe ich sie erzählt.

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https://meinfrankreich.com/cazon/

 

5 Kommentare

  1. Liebe Hilke, ich war gerade eine Woche auf Korsika und konnte nicht rechtzeitig reagieren: Vielen Dank DIR, für die Anregung zu diesem Text, und die wie immer flotte und schöne Umsetzung auf deinem wundervollen Blog! Herzlich grüßt dich und deine LeserInnen aus Cannes, Christine Cazon

  2. Ich habe diese Krimireihe sehr genossen, besonders dieses Buch über die „Mamadous“. Eine Welt, über die man sich noch keine Gedanken gemacht hat.
    A liebs Grüßle
    Heide, die gerade die letzten Sachen für den nächsten Frankreich-Urlaub zusammenpackt

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