Die villes sanctuaires von Frankreich. Abendmesse in Lourdes. Foto: Hilke Maunder
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Villes Sanctuaires: Frankreichs Pilgerorte

Frankreich ist ein Land mit einer reichen Pilgertradition, die weit über den berühmten Jakobsweg hinausgeht. Die sogenannten villes sanctuaires (Wallfahrtsstädte) bilden ein Netzwerk bedeutender Pilgerorte, die sich gemeinsam für die Förderung des spirituellen Tourismus engagieren. Seit 1998 lädt die Association des Villes Sanctuaires en France (Vereinigung der Heiligtumsstädte in Frankreich) ein, diese einzigartigen Pilgerorte zu entdecken. Diese villes sanctuaires sind Orte, an denen Heilige wirkten, Marienerscheinungen stattfanden und jahrhundertealte Traditionen lebendig sind.

Jeder dieser Orte erzählt eine eigene Geschichte. Eine Reise zu den villes sanctuaires ist eine Entdeckungstour zwischen Himmel und Erde, von imposanten Kathedralen bis zu bescheidenen Heiligtümern, die Gläubige und Kulturinteressierte gleichermaßen anziehen und tiefe Einblicke in die französische Spiritualität gestatten.

Frankreichs Villes Sanctuaires

Alençon: Die Wiege der heiligen Thérèse

In einem schmalen, zweistöckigen Backsteinhaus in der Rue Saint-Blaise 50 im Zentrum von Alençon erblickte am 2. Januar 1873 Thérèse von Lisieux das Licht der Welt. Ihr Elternhaus gewährt hautnah Einblicke in das Leben der tiefgläubigen Familie Martin.

Im Erdgeschoss seht ihr die Wohnräume und das Arbeitszimmer von Louis Martin, der als Uhrmacher tätig war. Im ersten Stock liegt das Elternschlafzimmer, in dem Thérèse geboren wurde und ihre Mutter Zélie 1877 starb. Nebenan befinden sich ein kleines Mädchenzimmer und ein Gästezimmer. Die 1920 angebaute Kapelle beherbergt ein Reliquiar ihrer Eltern, die 2015 als erstes Ehepaar gemeinsam heiliggesprochen wurden.

Nur wenige Gehminuten entfernt ragt die gotische Basilika Notre-Dame d’Alençon empor. Ihr filigraner gotischer Portalvorbau von 1506 scheint die Point-d’Alençon-Spitze, heute ein immaterielles Welterbe, in Stein zu übersetzen. In diesem Gotteshaus heirateten Thérèses Eltern 1858, hier empfing Thérèse die Taufe.

Etwa acht Kilometer nördlich von Alençon entfernt liegt in Semallé das Haus von Rose Taillé – jener Amme, die der dreimonatigen Thérèse das Leben rettete. Als lebensgefährliche Magen-Darm-Probleme den Säugling plagten, fand sie hier Heilung und blieb 15 Monate in liebevoller Obhut. Mehr zu Alençon erfahrt ihr hier im Blog.

Lisieux: der „kleine Weg“ zur Heiligkeit

Nach dem Tod ihrer Mutter zog die Familie Martin nach Lisieux, heute nach Lourdes der zweitgrößte Pilgerort Frankreichs. Elf Jahre lang lebte das Mädchen dort in der Villa Les Buissonnets, einem Haus etwas außerhalb der Stadt, das heute als Museum ihre Kindheit dokumentiert.

Es war ihr „süßes Kindheitsnest“, obwohl sie diese Zeit auch als die „schmerzhafteste Periode ihres Lebens“ bezeichnete. Hier erblickte sie am 13. Mai 1883 das Lächeln einer Marienstatue – eine Vision, die zu ihrer wundersamen Genesung führte.

Mit 15 Jahren trat Thérèse in das Karmeliterinnenkloster von Lisieux ein, wo sie bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 1897 mit nur 24 Jahren lebte. Ihre Reliquien ruhen heute im Karmel von Lisieux neben einem gisant, einer kunstvollen Liegefigur aus Marmor, der ihren Frieden im Tod symbolisiert.

In der gotischen Kathedrale Saint-Pierre besuchte Thérèse regelmäßig die Messe und entdeckte ihre Berufung zum Ordensleben. Ihr „kleiner Weg“ der Spiritualität, geprägt von Demut, Vertrauen und Liebe, fasziniert bis heute die katholische Welt – ihr posthum veröffentlichtes Werk Histoire d’une âme* erzählt davon.

Ars-sur-Formans: der Beichtvater

Ars-sur-Formans ist untrennbar mit Jean-Marie Vianney (1786-1859) verbunden, dem „Pfarrer von Ars“. 1818 übernahm der tiefgläubige Priester die kleine Pfarrei in dem damals gottfernen Dorf in der Nähe von Lyon. Er lebte in extremer Armut, schlief auf Holzbrettern und fastete regelmäßig, um für die Bekehrung seiner Gemeinde zu beten.

Vianneys Fähigkeit, die Herzen der Menschen zu berühren, machte ihn zu einem gefragten Beichtvater: Bis zu 17 Stunden täglich saß er im Beichtstuhl und hörte von den Sorgen seiner „Schäfchen“. In seinem letzten Lebensjahr pilgerten mehr als 100.000 Menschen nach Ars, um ihn zu erleben. 1925 wurde Jean-Marie Vianney von Papst Pius XI. heiliggesprochen. Seitdem gilt er als Schutzpatron der Priester.

Das Herz des Wallfahrtsortes bildet die Basilika Saint-Sixte, die erweiterte ehemalige Dorfkirche. Dort ruht der unversehrte Körper Jean-Marie Vianneys in einem gläsernen Schrein. Sein Pfarrhaus, heute ein Museum, zeigt eindrucksvoll die einfachen Lebensumstände des Mannes, der mit seiner spirituellen Kraft ein ganzes Dorf verwandelte.

Brive-la-Gaillarde: das heilige Duo

Brive-la-Gaillarde verdankt ihren Platz unter den villes sanctuaires zwei Männern, die hier wirkten: Martin von Brive und Antonius von Padua.

Martin von Brive, ein spanischer Christ des 5. Jahrhunderts, war ein Schüler des heiligen Martin von Tours und kam nach Brive, um das Christentum zu verbreiten. Mit missionarischem Eifer stellte er sich gegen heidnische Kulte, zerstörte Idole und predigte den Glauben. Sein Wirken endete im Martyrium: Am 9. August 407 wurde er gesteinigt und enthauptet. An der Stelle seines Todes entstand der Sanctuaire de Saint-Martin.

Mehr als acht Jahrhunderte später suchte Antonius von Padua, ein portugiesischer Franziskaner und Schüler des heiligen Franz von Assisi, in Brive im Jahr 1226 Zuflucht und zog sich in eine Naturhöhle zurück, die als Grottes de Saint-Antoine mit Kapelle und Kreuzweg heute ein Ort der Andacht ist.

Cahors: das heilige Tuch

Majestätisch erhebt sich die Kathedrale Saint-Étienne über den Dächern von Cahors und prägt seit neun Jahrhunderten mit ihren beiden imposanten Kuppeln mit je 16 Metern Durchmesser und einer Höhe von 32 Metern die Silhouette der Stadt.

1169 wurde sie an der Via Podiensis, einem der Hauptwege des Jakobswegs, errichtet – mit einem reich verzierten Kreuzgang im gotischen Flamboyant-Stil und einem Nordportal, dessen Tympanon die Himmelfahrt Christi und den heiligen Stephanus darstellt. Doch die meisten Pilger haben nur ein Ziel: la Sainte Coiffe, eines der angeblichen Grabtücher Christi. Die Legende erzählt, dass sie entweder von Karl dem Großen im Jahr 803 oder vom Bischof Géraud de Cardaillac nach den Kreuzzügen hierher gebracht wurde.

Cotignac: die gesamte Heilige Familie

Cotignac ist der einzige Ort weltweit, an dem der Überlieferung nach die gesamte Heilige Familie – Maria, Jesus und Joseph – erschienen ist. Am 10. August 1519 offenbarte sich die Jungfrau Maria auf dem Mont Verdaille dem Holzfäller Jean de la Baume. Begleitet von Erzengel Michael und Saint-Bernard de Clairvaux trug sie das Jesuskind in ihren Armen und forderte den Bau einer Kapelle.

Flugs wurde der Sanctuaire Notre-Dame de Grâces errichtet – bis heute ein Pilgerziel für Frauen und Paare mit Kinderwunsch. Unter ihnen befand sich im 17. Jahrhundert auch die Königin Anne von Österreich, die während ihrer langen Kinderlosigkeit in Cotignac eine ihrer drei Novenen betete, Gebete, die sie über neun aufeinanderfolgende Tage wiederholte. 1660 pilgerte Ludwig XIV. nach Cotignac, um Maria für seine Geburt zu danken.

Fast anderthalb Jahrhunderte nach der ersten Erscheinung, am 7. Juni 1660, erlebte der durstige Hirte Gaspard Ricard auf dem Mont Bessillon eine Begegnung mit dem heiligen Joseph. Dieser wies ihn an, einen schweren Stein zu bewegen. Darunter entsprang eine Quelle, die bis heute fließt. 1663 wurde ihm zu Ehren der Sanctuaire Saint-Joseph du Bessillon errichtet.

La Salette: die Jungfrau auf der Alm

Auf 1.800 Metern Höhe, umgeben von den schroffen Gipfeln der französischen Alpen, soll sich am Nachmittag des 19. September 1846 die Jungfrau Maria auf einer Alm oberhalb des Dorfes La Salette-Fallavaux den beiden Hirtenkindern Mélanie Calvat (15 Jahre) und Maximin Giraud (11 Jahre) offenbart haben.

Die „schöne Dame“, wie sie von den Kindern genannt wurde, saß zunächst weinend auf einem Stein und sprach später mit ihnen über ihren Sohn Jesus Christus. Sie betonte die Wichtigkeit des Gebets, der Sonntagsheiligung und der Umkehr. 1851 erkannte die katholische Kirche die Marienerscheinung offiziell an.

Bald initiierte der Bischof von Grenoble im Jahr 1852 den Bau einer Kirche in den Bergen, die 1879 zur basilica minor erhoben wurde. Mit ihren beiden massiven Türmen und einem kunstvollen Innenraum bildet die Basilique Notre-Dame de la Salette das Herzstück des Heiligtums. Lebensgroße Bronzestatuen wie „Maria in Tränen“ oder „Übergabe der Botschaft an die Kinder“ stellen die Szenen des denkwürdigen Herbstnachmittages nach.

Bis zu 300.000 Besucher zieht der Wallfahrtsort jährlich an. Viele weitere machen einen Abstecher von der Route Napoléon (N85) hinauf zum Heiligtum, erleben Messen und Prozessionen oder verbringen hier besinnliche Tage in spiritueller Einkehr, umgeben von einem grandiosen Alpen-Panorama.

Lalouvesc: der Hoffnungsträger der Armen

Gleich mit zwei Heiligen ist das nicht einmal 400 Seelen große Dorf Lalouvesc im Département Ardèche verbunden: Jean-François Régis und Thérèse Couderc.

Jean-François Régis (1597-1640), ein unermüdlicher Jesuitenmissionar, besuchte als „Apostel des Velay und Vivarais“ selbst die abgelegensten Dörfer. Mit glühendem Eifer stärkte er den Glauben und brachte den Armen Hoffnung. Am 24. Dezember 1640 erreichte er erschöpft Lalouvesc und starb kurz darauf. Mit den Worten „Ah, Bruder, ich sehe unseren Herrn und unsere Dame, die mir das Paradies öffnen!“ soll er verschieden sein. Heute birgt die Basilique Saint-Régis seine Reliquien – und feiert alljährlich am 16. Juni ein großes Pilgerfest.

Thérèse Couderc (1805-1885), die Gründerin der Kongregation Unserer Lieben Frau vom Cénacle, widmete ihr Leben der spirituellen Bildung von Frauen. 1970 sprach Papst Paul VI. sie heilig. Doch erst 2018 fanden ihre Reliquien den Weg zurück in die Basilika von Lalouvesc.

Der Mont-Saint-Michel: beim Erzengel Michael

Als Festkegel, mal umflutet vom Meer, dann eine einsame Landmarke im weiten Watt, erhebt sich der Mont-Saint-Michel an der Grenze der Normandie zur Bretagne, gekrönt von einer mittelalterlichen Abtei, deren goldene Statue des Erzengels Michael in 157 Metern Höhe über den Himmel zu wachen scheint.

Jede Tide wechselt sein Antlitz, jede Springflut begräbt die Brücke hinüber im Wasser. Früher machten diese unberechenbaren Naturgewalten die Pilgerreise lebensgefährlich. Viele ertranken im tückischen Schlick oder wurden von der rasend schnell zurückkehrenden Flut überrascht. La Merveille heißt seine Abtei, das Wunder – und spiegelt bis heute in ihrem Namen diese dramatische Inszenierung zwischen Erde, Wasser und Himmel.

Die Geschichte des Klosterberges begann im Jahr 708, als der Erzengel Michael dem Bischof Aubert von Avranches dreimal im Traum erschien. Er forderte ihn auf, auf dem Mont Tombe genannten Felsen ein Heiligtum zu errichten.

Als Aubert zögerte, brannte ihm der Erzengel der Legende nach mit seinem Finger ein Loch in den Schädel – ein drastisches Mittel der Überzeugung. Es funktionierte. Stolz präsentiert die Avranches die Basilique Saint-Gervais Auberts Schädel samt Loch im Reliquienschrein.

Der Mont-Saint-Michel wurde schnell zu einem der bedeutendsten Pilgerziele des christlichen Abendlandes. Heute ist er nicht nur ein Wallfahrtsort, sondern auch ein UNESCO-Weltkulturerbe, das jährlich Millionen von Besuchern anzieht. Erfahrt hier mehr!

Le Puy-en-Velay: Wo Maria auf Vulkanen ruht

Zu den berühmtesten villes sanctuaires gehört Le Puy. Bereits sein Panorama ist filmreif: Steil ragen plötzlich dunkle Vulkankegel aus der Ebene des oberen Loire-Tals empor. Auf drei dieser bizarren Felsen thront je ein göttliches Monument – die romanische Kathedrale Notre-Dame auf dem Mont Anis, die Kapelle Saint-Michel d’Aiguilhe auf ihrer Felsnadel und die Statue Notre-Dame de France auf dem Rocher Corneille.

Die 16 Meter hohe bronzene Marienstatue wurde 1860 aus 213 erbeuteten russischen Kanonen des Krimkriegs gegossen – Kriegsgerät, verwandelt in ein Symbol des Friedens. 110 Tonnen schwer blickt sie schützend auf die Stadt hinab. In ihrem Inneren führen eine Wendeltreppe und eine Trittleiter bis zum winzigen Ausblick im Kopf, von wo aus ihr einen atemberaubenden Rundblick genießt.

Das spirituelle Herz der Stadt schlägt in der die Cathédrale Notre-Dame. Eine monumentale Freitreppe mit 134 Stufen leitet hinauf und direkt unter dem Chor hindurch – eine architektonische Besonderheit, die es Pilgern ermöglicht, „unter dem Schutz Marias“ das Heiligtum zu betreten. Dort führt ihr Weg als erstes zur vierge noire, die alljährlich am 15. August zur Himmelfahrt der Heiligen die Kirche verlässt und bei einer großen Prozession durch die Stadt getragen wird.

Die Schwarze Madonna ist eine Nachbildung aus dem 17. Jahrhundert – das Original war während der Französischen Revolution zerstört worden. Danach legen Pilger andachtsvoll ihre Hände in die ausgehöhlte pierre des fièvres – jenen Stein, auf dem Maria im 5. Jahrhundert einer kranken Frau erschienen und sie geheilt haben soll.

Jeden Morgen versammeln sich Pilger in der Kathedrale zum traditionellen Pilgersegen, bevor sie sich auf den 1.600 Kilometer langen Weg der Via Podiensis machen, dem ältesten der vier französischen Jakobswege nach Santiago de Compostela.

Saintes-Maries-de-la-Mer: Wo Glaube das Meer trifft

In der Camargue erinnert Saintes-Maries-de-la-Mer mit seinem Namen an seine biblische wie dramatische Geschichte. Im Jahr 45 nach Christus landete ein Boot ohne Segel und Ruder hier an der Mittelmeerküste. An Bord: zwei Frauen auf der Flucht vor Verfolgung in Palästina nach der Kreuzigung Jesu. Es waren Maria Jakobäa und Maria Salome, zwei enge Verwandte des Messias. Begleitet wurden die beiden Marien von einer rätselhaften Gestalt – Sara la Noire. Die Roma-Gemeinschaft verehrt sie als Schutzpatronin.

Sie ruht in der Krypta der Église de Notre-Dame-de-la-Mer, einer romanischen Festungskirche aus dem 12. Jahrhundert. In der chapelle haute, der oberen Kapelle, ruhen die 1448 entdeckten Reliquien der beiden Marien in kunstvoll bemalten Schreinen, bis sie bei den jährlichen Pilgerfesten in feierlichen Prozessionen zur Küste getragen werden.

Die Pilgertraditionen folgen einem festen Rhythmus: Um den 24./25. Mai herum wird Sara la Noire, im Oktober Maria Salome geehrt. Am ersten Dezembersonntag findet die Translation der Reliquien statt – ein weiterer Höhepunkt im spirituellen Kalender dieser Stadt zwischen Sand und Meer.

Lourdes: Wo Himmel und Erde sich berühren

Eine kleine Felsgrotte am Fluss Gave de Pau veränderte 1858 die Geschichte eines unscheinbaren Pyrenäenstädtchens für immer. Hier, in der Grotte von Massabielle, erschien der 14-jährigen Bernadette Soubirous am 11. Februar erstmals die Jungfrau Maria. Was folgte, waren 17 weitere Begegnungen, die Lourdes zum weltweit bedeutendsten Marienwallfahrtsort machen sollten.

Die Erscheinungen entfalteten sich wie ein himmlisches Drama: Die „weiße Dame“ offenbarte sich dem armen, ungebildeten Mädchen als „Unbefleckte Empfängnis“ – ein theologischer Begriff, den Bernadette weder kannte noch verstand. Maria überbrachte eine zeitlose Botschaft: Umkehr, Buße, Gebet – und wies auf eine verborgene Quelle hin, deren Wasser bald mit erstaunlichen Heilungen in Verbindung gebracht wurde.

Die Grotte ist heute das pulsierende Herz des weitläufigen Heiligtums. Ehrfürchtig berühren Pilger den dunklen Fels, entzünden Kerzen und schöpfen Wasser aus der Quelle. In den schlichten Kabinen können sie wenig weiter in das legendäre Quellwasser eintauchen – für viele wurde das Bad zum Wendepunkt. Mehr als 70 medizinisch unerklärliche Heilungen hat die Kirche offiziell anerkannt, Tausende weitere werden berichtet.

Direkt über der Grotte wurde 1866 die weiße Basilika der Unbefleckten Empfängnis erbaut – und ab 1883 die Rosenkranz-Basilika mit Mosaiken, die das Marienleben in leuchtenden Farben erzählen. 1958 folgte der unterirdische Betonbau der Basilique Saint-Pie-X, um dem Ansturm der Pilgermassen gerecht zu werden.

Weitläufige Esplanaden verbinden die heiligen Stätten als Bühne des Glaubens und Promenade der täglichen Prozessionen.

Für Papst Benedikt XVI. war Lourdes der Platz, „den Gott erwählt hat, um dort einen besonderen Strahl seiner Schönheit leuchten zu lassen.“ Wenn abends Tausende Kerzen die Dunkelheit durchbrechen und der Rosenkranz in dutzenden Sprachen erklingt, spüren auch diejenigen, die nicht glauben oder zweifeln, die spirituelle Kraft dieser ville sanctuaire.

Nevers: Das stille Ende einer himmlischen Geschichte

Nach dem Wirbel der Erscheinungen wählte Bernadette Soubirous einen Weg der Stille. 1866, mit 22 Jahren, trat sie in das Mutterhaus der Sœurs de la Charité in Nevers ein – 700 Kilometer von Lourdes entfernt. „Ich bin nicht nach Nevers gekommen, um mich zur Schau zu stellen“, sagte sie den neugierigen Mitschwestern. Hier wollte sie einfach Schwester Bernadette sein, nicht die Seherin von Lourdes.

Das ehemalige Kloster Saint-Gildard, heute der Sanctuaire Bernadette Soubirous, erzählt vom zweiten Lebensabschnitt der Heiligen. In diesen schlichten Mauern pflegte die kränkliche junge Frau trotz ihrer immer schlimmer werdenden Tuberkulose Kranke.

Am 16. April 1879 starb Bernadette mit 35 Jahren. Doch ihre Geschichte endete nicht. Bei ihrer ersten Exhumierung 1909 war ihr Körper zum großen Erstaunen in keinster Weise verwest. Ein Wunder? Auch bei weiteren Untersuchungen zeigte sich ihr Leichnam unversehrt. Heute ruht sie in einem gläsernen Schrein rechts vom Hauptaltar der Kapelle, ihr Gesicht und ihre Hände mit einer feinen Wachsschicht überzogen. Sie erscheint, als schliefe sie nur.

Jährlich besuchen rund 200.000 Pilger Nevers, deutlich weniger als in Lourdes, doch die Atmosphäre ist intimer, persönlicher. Im Klostergarten erinnert eine Nachbildung der Grotte von Massabielle seit 1884 an jene Erscheinungen, die Bernadettes Leben für immer veränderten. Ein Museum bewahrt ihre wenigen Zeugnisse: ihre bescheidene Kleidung, ihren Rosenkranz, persönliche Briefe und ihre Reisetasche, mit der sie einst nach Nevers gekommen war.

Nevers bildet den stillen Kontrapunkt zum geschäftigen Lourdes. Hier vollendete sich Bernadettes Weg. Wer beide Orte besucht, erlebt die ganze Geschichte.

Paray-le-Monial: das heilige Herz Jesu

Im Süden Burgunds erzählt Paray-le-Monial von mystischen Begegnungen, die hier vor mehr als drei Jahrhunderten stattfanden. Zwischen 1673 und 1675 erlebte die junge Ordensfrau Margareta Maria Alacoque im Kloster der Heimsuchung vier Visionen.

Jesus offenbarte ihr sein flammendes Herz – brennend vor Liebe für die Menschen, aber verwundet durch deren Gleichgültigkeit. „Siehe dieses Herz, das die Menschen so sehr geliebt hat“, soll Jesus zu ihr gesagt haben. Die Botschaft war klar: eine Einladung zur Umkehr, zur liebenden Hingabe und zur besonderen Verehrung seines Herzens.

Diese vollzieht sich in der Basilique Sacré-Cœur, einem Juwel der Romanik aus goldgelbem Stein. Ursprünglich im 12. Jahrhundert als kleine Schwester von Cluny errichtet, wurde sie später dem Heiligsten Herzen Jesu geweiht.

Nur wenige Schritte entfernt liegt das Kloster der Heimsuchung mit der Kapelle der Erscheinungen. In diesem intimen Raum empfing Margareta Maria ihre Visionen. Heute knien Pilger an derselben Stelle, wo das Göttliche den menschlichen Alltag durchbrach.

Das angrenzende Museum bewahrt persönliche Gegenstände der Heiligen und dokumentiert ihren Weg – vom einfachen Mädchen zur mystischen Vertrauten des Herzens Jesu.

Rocamadour: Wo die Schwarze Madonna wacht

Mit geradezu überirdischer Kraft klammert sich Rocamadour an seine steile Felswand im Tal des Alzou: unten das Burgdorf, darüber die Heiligtümer und an höchster Stelle die Basilika – eine vertikale Stadt zwischen Himmel und Erde, verbunden durch 216 Stufen, die fromme Pilger seit Jahrhunderten auf den Knien erklimmen. Jede Stufe bringt sie näher zur Schwarzen Madonna, dem Herzstück von Rocamadour.

Die hölzerne Statue aus dem 12. Jahrhundert thront in der Chapelle Notre-Dame. Maria sitzt aufrecht, das Jesuskind fest auf ihrem Knie, ihr Blick geradeaus gerichtet – eine stille Königin, die seit Generationen Fürbitten und Hoffnungen entgegennimmt. Daneben hängt die sagenumwobene Wunderglocke, die der Legende nach von selbst läutet, wenn ein Wunder geschieht – wie bei jenem Seemann, der in Seenot gerettet wurde.

Die Basilique Saint-Sauveur, heute UNESCO-Weltkulturerbe, vereint romanische und gotische Elemente. Sieben weitere Kapellen, symbolisch für die sieben Sakramente, schmiegen sich an den Felsen. In der Crypte Saint-Amadour ruhen die Gebeine des Namensgebers, der der Überlieferung nach mit dem biblischen Zachäus identifiziert wird und die Schwarze Madonna geschnitzt haben soll.

Die Entdeckung seines unversehrten Körpers im Jahr 1166 machte Rocamadour zu einem der vier bedeutendsten christlichen Wallfahrtsorte neben Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela. Selbst König Ludwig IX., später als Heiliger verehrt, suchte hier spirituellen Beistand.

Vézelay: Maria Magdalena in Burgund

Auch Vézelay, eine der bedeutendsten villes sanctuaires Frankreichs, behauptet, seit dem 9. Jahrhundert die Reliquien von Maria Magdalena zu besitzen. Diese sollen aus Südfrankreich nach Burgund gebracht worden sein. Wissenschaftlich gesicherte Beweise für die Echtheit der Reliquien von Saint-Maximin-la-Sainte-Baume oder Vézelay gibt es jedoch nicht. So bleibt der Glaube. Und das Staunen über das, was er erschuf.

Majestätisch thront die Basilique Sainte-Marie-Madeleine auf dem heiligen Hügel von Vézelay. Wenn morgens die Sonne durch die östlichen Fenster bricht und das Hauptschiff in goldenes Licht taucht, wird klar, warum dieser Ort seit über tausend Jahren Pilger magisch anzieht. Zur Sommersonnenwende fallen Lichtstrahlen exakt auf den Mittelgang und bilden einen leuchtenden Pfad – ein kosmisches Schauspiel, das die Pilger als göttliches Zeichen deuteten.

Foto: Hilke Maunder
Es lohnt sich, in Vézélay die prunkvollen Steinmetzarbeiten einmal näher zu betrachten Foto: Hilke Maunder

Unter Abt Geoffroy erlebte der Magdalenenkult im 11. Jahrhundert in Vézelay seinen Höhepunkt, und die zwischen 1120 und 1150 errichtete romanische Basilika wurde zu einem der wichtigsten Wallfahrtsorte des Mittelalters.

In jener Zeit schrieb Vézelay auch politische Geschichte. 1146 hielt Bernhard von Clairvaux hier seine flammende Predigt, die den Zweiten Kreuzzug auslöste. König Philipp August und Richard Löwenherz trafen sich an diesem Ort, bevor sie zum Dritten Kreuzzug aufbrachen.

Die Gurtbogen vom Altar aus gesehen. Foto: Hilke Maunder
Die romanischen Gurtbögen von Vézélay vom Altar aus gesehen. Foto: Hilke Maunder

Besonders am 22. Juli, dem Festtag der Maria Magdalena, pilgern heute die Gläubigen nach Vézelay und feiern bei Prozessionen die Heilige. Seit 1979 gehören die Basilika und der Hügel von Vézelay zum UNESCO-Weltkulturerbe. Und genau hier beginnt auch die Via Lemovicensis, einer der Hauptrouten des Jakobswegs nach Santiago de Compostela.

Sainte-Anne-d’Auray: das spirituelle Herz der Bretagne

Die heilige Anna, Mutter der Jungfrau Maria und Großmutter Jesu, machte Sainte-Anne-d’Auray in den Hügeln des Morbihan zum spirituellen Herzen der Bretagne und zur wichtigen Etappe auf dem bretonischen Pilgerweg Tro Breiz.

1623 war die heilige Anna dem Bauern Yvon Nicolazic in seinem Heimatdorf Ker Anna erschienen und hatte ihn aufgefordert, eine Kapelle aus dem 6. Jahrhundert wieder aufzubauen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und erste Pilger strömen in die einzige ville sanctuaire der Bretagne.

Das heutige Heiligtum erstreckt sich auf sieben Hektar. Eine Basilika, von 1865 bis 1872 im neogotischen Stil errichtet, dominiert den Komplex. Farbenfrohe Glasfenster erzählen von den Erscheinungen und dem Leben der Heiligen.

1996 hielt Papst Johannes Paul II. hier eine Messe ab. Älter ist der Kreuzgang aus dem 17. Jahrhundert. Auf der Scala Sancta, einer Nachbildung der Heiligen Treppe in Rom, tun Gläubige bis heute auf Knien betend Buße.

Das Mémorial de Bretagne erinnert an 240.000 bretonische Soldaten, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben ließen – ein stummer Zeuge der tiefen Verbindung von Glauben und Identität. Alljährlich am 26. Juli, dem Festtag der heiligen Anna, folgen Tausende Pilger beim Grand Pardon dem Bildnis der Heiligen, das bei der Prozession durch die Straßen getragen wird.

Souvigny: das vergessene Jerusalem des Bourbonnais

In den sanften Hügel des Bourbonnais liegt Souvigny, ein kleines Dorf mit einem großen Titel: Sanctuaire de la Paix – Heiligtum des Friedens. Seine Wurzeln liegen im 10. Jahrhundert, als Souvigny als Tochterpriorat der mächtigen Abtei von Cluny gegründet wurde. Souvigny etablierte sich rasch als Kraftzentrum des Cluniazenserordens – dank der beiden Heiligen Mayeul und Odilon.

Diese bedeutenden Äbte von Cluny starben in Souvigny und wurden in der Abteikirche beigesetzt. An ihren Gräbern geschahen zahlreiche Wunder – zumindest berichten dies die mittelalterlichen Quellen. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich diese Nachrichten durch Europa. Die Reliquien der beiden Heiligen zogen Gläubige in Scharen an. Selbst Könige und Päpste pilgerten nach Souvigny.

Die imposante Abteikirche, den Aposteln Petrus und Paulus geweiht, stieg zum spirituellen Zentrum auf, und der kleine Ort blühte und gedieh im Schatten seiner heiligen Beschützer. Wer das Hauptportal der romanischen Kirche durchschreitet, entdeckt noch heute auf dem Boden die abgetretenen Stellen, wo einst Abertausende Pilger auf Knien rutschend die Gräber der Heiligen umrundeten – stille Zeugen einer Zeit, als Souvigny das „Jerusalem des Bourbonnais“ genannt wurde.

Heute ist es in Souvigny ruhig geworden. Doch die Weitwanderroute GR 300 verbindet die verschlafene ville sanctuaire mit dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela.

Vendeville: Pilgerort der letzten Hoffnung

Das Gros der villes sanctuaires konzentriert sich aus historischen Gründen in Zentral- und Südfrankreich. Doch mit Vendeville gibt es seit Septemper 2023 in Frankreich auch den ersten französischen Pilgerort nördlich von Paris, vom vom Netzwerk der französischen Wallfahrtsorte offiziell anerkannt wurde. Es ist eine kleine Kommune in der Region Hauts-de-France.

Schlank und spitz ragt der unscheinbare Backsteinkirchturm von Saint-Eubert über die Dächer von Vendeville, als Signal der Hoffnung inmitten der nordfranzösischen Ebene. Er weist den Weg zu Rita von Cascia, der Schutzpatronin der aussichtslosen Fälle.

Ihre Geschichte beginnt 1928 mit einem schlichten Dankesakt. Eine Frau aus dem nahen Lille, deren Gebet erhört wurde, stiftete der Kirche Saint-Eubert eine Statue der Heiligen. Zwei Jahre später empfing die Gemeinde eine wertvolle Reliquie der heiligen Rita direkt aus Cascia, ihrem italienischen Kloster. Dieser Moment markiert die Geburtsstunde einer Bruderschaft – und eines Pilgerstromes, der langsam, aber stetig wächst.

Zahllose Votivtafeln schmücken die Wände des neogotischen Gotteshauses, das Jean-Baptiste Leroy entwarf, und legen Zeugnis ab von der tiefen Dankbarkeit derer, die in ihrer Not Trost und Hilfe erfahren haben.

Und wer weiß, vielleicht findet der ein oder andere Pilger nach einem langen Gebet Trost und Erfrischung in einem Glas eisgekühlten Pastis – ein wahrhaft französischer Weg, Körper und Geist zu erfrischen. Am Stadtrandfülllt eine der größten Produktionsstätten des Ricard-Konzerns jährlich rund 18 Millionen Flaschen des berühmten Anis-Aperitifs ab. Santé !

Die Königin der villes sanctuaires von Frankreich: Lourdes. Foto: Hilke Maunder
Die Königin der villes sanctuaires von Frankreich: Lourdes. Foto: Hilke Maunder

Weitere Wallfahrtsorte

In Frankreich gibt es zahlreiche weitere katholische Wallfahrtsorte, die nicht zum offiziellen Netzwerk derVilles Sanctuaires de France gehören. Keine Mitglieder sind beispielsweise einige lokale Pilgerorte im Elsass wie Dambach-la-Ville, Dauendorf, Essert, Gambsheim, Geudertheim, Guewenheim und Cernay. Auch verschiedene kleinere Marien- und Heiligenwallfahrten in Lothrigen, Savoyen und Burgund,, die oft nur regional bekannt sind, gehören nicht dem offiziellen Netzwerk an.

Nicht mehr Mitglied der villes sanctuaires ist Saint-Maximin-la-Sainte-Baume, das eine der faszinierendsten Überlieferungen des Christentums erzählt. Hier soll Maria Magdalena ihre letzten Lebensjahre verbracht haben. 1279 „bestätigten“ Ausgrabungen dieses Gerücht. Damals wurde unter der alten Kirche ein antiker Sarkophag mit einem Schädel und einem Pergament aus dem 4. Jahrhundert entdeckt, das verriet: „Hier ruht Maria Magdalena“.

Diese Sensation veranlasste Charles II. von Anjou, ab 1295 die größte gotische Basilika der Provence zu errichten – 73 Meter lang, 29 Meter hoch, ein steinernes Monument für die biblische Frau. Das Gotteshaus ist bis heute unvollendet, denn Portal und Glockenturm fehlen. Im Dunkel der Krypta ruht in einem vergoldeten Reliquiar der Maria Magdalena zugeschriebene Schädel, flankiert von den Sarkophagen für Saint-Maximin und Saint-Sidoine – nach Jerusalem und Rom der drittwichtigste christliche Grabort.

Die Legende erzählt, dass Maria Magdalena nach der Kreuzigung Jesu mit anderen Gefährten – darunter Martha und Lazarus – auf einem Schiff ohne Segel und Ruder der Verfolgung in Palästina entkam. Wie durch ein Wunder landete die Gruppe an der Küste der Provence und begann, den christlichen Glauben zu verbreiten. Während ihre Gefährten in anderen Orten wirkten, zog sich Maria in die Einsamkeit der Bergwelt zurück. Ein steiler Pfad führt zu einer 20 Kilometer entfernten Felsgrotte im Massif de Sainte-Baume, in der Maria Magdalena die letzten 30 Jahre ihres Lebens gelebt haben soll – in Gebet und Buße, fern der Welt. Bereits im 5. Jahrhundert wurde die Naturhöhle zur Kapelle umgestaltet.

Seit dem Mittelalter pilgern Gläubige aus ganz Europa nach Saint-Maximin und zur Grotte de Sainte-Baume. Könige wie Philippe VI., Gelehrte wie Petrarca, einfache Bauern und Handwerker – sie alle folgten dem Ruf der Heiligen, die als „Apostel der Apostel“ gilt, da sie als erste die Botschaft der Auferstehung verkündete.

Villes Sanctuaires de France: die Infos

Frankreich bietet eine große Bandbreite an Pilgerwegen und -zielen. Neben dem Jakobsweg (Chemins de Saint-Jacques-de-Compostelle) gibt es zahlreiche andere Wallfahrtsorte, die eigene Pilgertraditionen pflegen.

Die vier klassischen französischen Jakobswege (aus Paris, Vézelay, Le Puy-en-Velay und Arles) sind UNESCO-Weltkulturerbe und führen durch viele bedeutende Pilgerorte – aber nicht alle villes sanctuaires liegen an diesen Strecken.

So sind beispielsweise Le Puy-en-Velay und Vézelay wichtige Startpunkte auf dem Jakobsweg, während Orte wie Lourdes, Lisieux oder La Salette ganz eigene Pilgerströme anziehen, die nicht unmittelbar mit dem Jakobsweg verbunden sind.

www.villes-sanctuaires.com/villes-sanctuaires

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