Woinic & Co: Frankreichs riesige Tierskulpturen
Der Keiler Woinic, das Pferd Bayard, die Ochsen des Périgord und die Stahl-Stiere der Camargue: Zwischen den Ardennen und den Alpen, der Picardie und den Pyrenäen werben riesige Tierskulpturen für Frankreichs Regionen. Entdeckt die monumentalen Symbole, ihre Schöpfer und ihre Geschichte
Sanft schlängelt sich die Autobahn A34 durch die sanften Hügel der französischen Ardennen. Wald und Felder säumen kilometerweit das Asphaltband zwischen Charleville-Mézières und Belgien. Doch dann, kurz vor der Ausfahrt 14 bei Saulces-Monclin, etwa 14 Kilometer von Rethel entfernt, taucht plötzlich eine Silhouette am Horizont auf, die mich langsamer werden lässt. Ein kolossaler Eber, dunkel und massiv, thront auf einem künstlichen Hügel neben der Raststätte. Die Ohren gespannt, das Maul leicht geöffnet, die Beine fest verankert – voilà Woinic!
Mit einer Höhe von 8,50 bis 10 Metern, einer Länge von 14 Metern, einer Breite von fünf Metern und einem Gewicht von 50 Tonnen ist dieses monumentale Kunstwerk aus Stahl das größte Wildschwein der Welt – und stolzer Werbeträger des Département Ardennes.
Sein Name Woinic ist keine Erfindung aus der Mythologie, sondern eine sehr persönliche Hommage. Sein Künstler Eric Sleziak, 1960 in Bogny-sur-Meuse mit polnischen Wurzeln geboren, bildete den Namen aus den ersten Silben der Vornamen seiner Eltern: Woidouche und Nicole. Im Januar 1983 begann er in seiner Werkstatt in Bogny-sur-Meuse die Arbeit an diesem Projekt. Elf Jahre lang hielt es ihn in Atem.
In mehr als 12.000 Arbeitsstunden verarbeitete der Ardenner Bildhauer 50 Tonnen Metall und 6,5 Tonnen geschweißtes Material. Hunderttausende Metallstücke schweißte er zusammen, positionierte jede einzelne Platte mit eigener Hand, vollendete jede Schweißnaht mit Präzision und Hingabe.
Am 8. August 2008 schließlich erblickte Woinic offiziell das Licht der Welt. Mit einem Schwerlasttransporter verließ er das Maastal und reiste zur 55 Kilometer entfernten Raststätte an der Autobahn A34. Seit diesem Tag steht Woinic stolz an der Aire des Ardennes – anfangs noch recht einsam, heute das ganze Jahr besucht von Reisenden aus aller Welt, die hier halten, ein Selfie machen und Sticker auf die Infotafel kleben.
Zu Füßen des gigantischen Keilers Woinic findet ihr einige Picknicktische und Info-Chalets, in denen eine Zweigstelle des örtlichen Fremdenverkehrsamtes auch Souvenirs und regionale Produkte anbietet.
Das Wildschwein der Ardennen
Das französische Département des Ardennes ist die einzige politische Verwaltungseinheit in Europa, die ein Wildschwein als offizielles Wappentier führt. Die Wurzeln dieser Verbindung reichen tief in die Geschichte zurück: Einst waren die Ardennen der keltischen Jagd- und Waldgöttin Arduinna geweiht, deren heiliges Tier das Wildschwein war.
Heute ist das Wildschwein allgegenwärtig in der Region. Das regionale Gütesiegel Ardennes de France will überall im Département die Gewähr dafür geben, dass die Produkte unverfälscht und nach originalen, überlieferten Rezepten hergestellt sind. Mehr als 200 Produkte werden bereits unter dem Zeichen des Wildschweins vermarktet – vom Ardenner Schinken über Käse bis zum Cidre.
Doch die Realität des Wildschweins in Frankreich ist recht zwiespältig. Mehr als zwei Millionen dieser Tiere sind heute Frankreich daheim – und damit weit mehr als anderswo in Europa. Diese Population wächst rasant: Eine Muttersau wirft heute ein halbes Dutzend Frischlinge pro Jahr, womit sich die Familie in kurzer Zeit verdoppelt.
Landesweit werden in Frankreich jährlich etwas mehr als 800.000 Wildschweine erlegt. In einzelnen Départements sind die Zahlen besonders hoch: Allein im Département Moselle an der deutsch-französischen Grenze wurden im Jagdjahr 2021/2022 mehr als 24.000 Wildschweine geschossen.
Die Ursachen für die Explosion der Wildschweinbestände sind vielfältig: Klimaerwärmung, Maisanbau und – paradoxerweise – das Handeln der Jäger selbst. Manche Großgrundbesitzer füttern Wildschweine in ihren Wäldern gezielt an, um lukrative Jagdgesellschaften zu organisieren.
Das Ergebnis: Wildschäden in der Landwirtschaft, Unfälle auf den Straßen und ein ökologisches Ungleichgewicht. Das Wildschwein als Wappentier der Ardennen steht so nicht nur für Tradition und regionale Identität, sondern auch für eine der größten wildtierökologischen Herausforderungen Frankreichs.
Noch mehr riesige Tierskulpturen in Frankreich
Woinic ist kein Einzelfall. Frankreich hat eine besondere Vorliebe für riesige Tierskulpturen entwickelt, die weit mehr sind als Kunst – sie sind Identitätsstifter, Touristenmagneten und Symbole regionalen Stolzes.
Das legendäre Pferd Bayard – Mythos der Ardennen
Le Cheval Bayard ist ein magisches Pferd aus den mittelalterlichen Heldenliedern, besonders aus der Legende der Quatre Fils Aymon (Vier Haimonssöhne). Bekannt für seine Stärke und Intelligenz, besaß es die übernatürliche Fähigkeit, seine Größe an seine Reiter anzupassen und konnte alle vier Brüder gleichzeitig tragen.
Bayard stammt aus den chansons de geste des 12. Jahrhunderts und ist seit dem Mittelalter eine wichtige Figur im nordfranzösischen und belgischen Volkstum, besonders in den Ardennen, mit starken Verbindungen zu Orten wie Bogny-sur-Meuse, Dinant, Namur und Dendermonde.

Die Legende erzählt von Renaud de Montauban, dem ältesten Sohn des Herzogs Haimon, einem Vasallen Karls des Großen. Am Ende des Werks wurde Renaud gezwungen, Bayard an Karl den Großen abzugeben, der zur Strafe für die Heldentaten des Pferdes einen großen Stein an Bayards Hals band und das Pferd in den Fluss stoßen ließ. Doch Bayard zertrümmerte den Stein mit seinen Hufen und entkam mit einem riesigen Sprung über die Meuse (Maas), um fortan für immer in den Wäldern zu leben.
Seitdem streift das Pferd weiter durch die Ardennenwälder, wo sein Wiehern bei jeder Sommersonnenwende ertönt. In den Ardennen ist Bayard allgegenwärtig: Felsformationen werden ihm zugeschrieben, Wanderwege tragen seinen Namen, und in Namur steht eine berühmte Statue von Bayard mit den vier Haimonssöhnen. Die Legende ist so lebendig, dass markante Schieferfelsen bei Bogny an der Maas als die versteinerten Söhne des Ritters Haymon gedeutet werden. In Monthermé könnt ihr sogar auf seinen Spuren wandern!
Das Bresse-Huhn – kulinarisches Monument in Nationalfarben

Als Riese aus Stahl ragt es nördlich von Lyon an der A39 von Dijon nach Bourg-en-Bresse bei Dommartin-lès-Cuiseaux in den Himmel: ein Huhn. Oder, genauer gesagt, ein poulet de Bresse. Diese monumentale Metallskulptur markiert seit 1994 die Raststätte, an der sich alles um Frankreichs berühmtestes Huhn dreht.
Das Bresse-Huhn erhielt als einzige Hühnerrasse bereits 1957 Markenschutz. Schon äußerlich zeigt sich das Federvieh äußerst patriotisch: roter Kamm, weißes Federkleid, blaue Füße – eben bleu, blanc, rouge, die Nationalfarben Frankreichs.

Mehr als 15.000 poulets de Bresse werden dort jährlich zubereitet. Selbst die Einheimischen pilgern zur Raststätte, um dort Poularde, Hahn und Henne aus der Bresse zu genießen. Das Monument feiert nicht nur ein Tier, sondern ein ganzes kulinarisches Erbe – denn das Bresse-Huhn gilt als das beste Geflügel der Welt.
Die Skulptur ist mehr als Dekoration: Sie ist Botschafter einer Region, in der Qualität, Tradition und gastronomischer Stolz seit Jahrhunderten zusammenfließen. Jedes Jahr im Dezember finden die Glorieuses de Bresse statt, ein prestigeträchtiger Wettbewerb, bei dem die besten Hühner prämiert werden – ein Ereignis, das Feinschmecker aus aller Welt anzieht.
Der gallische Hahn – Frankreichs Staatssymbol

Während das Bresse-Huhn eine kulinarische Spezialität verkörpert, steht der gallische Hahn für nichts Geringeres als die französische Nation selbst. Le Coq Gaulois ist das inoffizielle Nationalsymbol Frankreichs – stolz, kampfeslustig und unübersehbar auf den Trikots der französischen Nationalmannschaften.
Die Verbindung zwischen Frankreich und dem Hahn geht auf ein antikes Wortspiel zurück: Das lateinische Wort „gallus“ bedeutet sowohl „Hahn“ als auch „Bewohner Galliens“. Bereits in der Antike erschien der Hahn auf gallischen Münzen. Im Mittelalter verschwand er zunächst, doch ab dem 14. Jahrhundert nutzten Frankreichs Feinde das Symbol spottend – ein Hahn, so schwach und ohne Kraft.
Doch die Franzosen machten aus dem Spott Stolz. Während der Französischen Revolution 1789 erlebte der gallische Hahn sein großes Comeback. Die Republikaner lehnten den royalistischen Ursprung Frankreichs ab und führten die Nation auf das antike Gallien zurück. Der Hahn wurde zur Personifikation der Gallier – der frühen Bewohner Frankreichs.
Sein Krähen zu Beginn jedes neuen Morgens machte ihn zum Symbol des täglichen Sieges des Lichts über die Dunkelheit. In der Dritten Republik wurde er quasi zum offiziellen Symbol: Das Ende des 19. Jahrhunderts gefertigte schmiedeeiserne Portal des Gartens des Elysée-Palastes ziert ein goldener Hahn, ebenso die 1899 geprägte 20-Franken-Goldmünze.
Napoleon allerdings verschmähte den Hahn. „Der Hahn hat keinerlei Kraft und eignet sich deshalb nicht als Sinnbild für ein Kaiserreich wie Frankreich“, erklärte der Kaiser und ersetzte ihn durch den Adler. Doch nach Napoleons Sturz kehrte der Hahn zurück: Ab 1830 musste er auf den Uniformknöpfen der Nationalgarde abgebildet sein und die Fahnen schmücken.
Heute prangt der gallische Hahn auf Sporttrikots und schmückt unzählige Karikaturen. Obwohl die französische Republik offiziell Marianne als Symbol bevorzugt, bleibt der Hahn – vor allem im Ausland – das bekannteste Emblem Frankreichs. Wachsam, kämpferisch und unverwechselbar französisch.
Tierische Symbole der Macht von Kaisern und Königen
Riesige Tierskulpturen wie Woinic sind die moderne Fortsetzung einer jahrhundertealten Tradition: Schon immer nutzten Herrscher Tiere als Symbole ihrer Macht. Frankreichs Könige und Kaiser hatten geradezu eine ganze Menagerie symbolischer Wesen geschaffen, die ihre Herrschaft legitimieren und ihre Visionen verkörpern sollten.
Franz I. : der Salamander

Überall im Schloss Chambord, dem prachtvollsten Loire-Schloss, begegnet ihr ihm: dem Salamander, auf mehr als 300 Decken und Wänden. Franz I. von Frankreich, der Renaissance-König, der das Schloss ab 1519 als Symbol seiner Macht errichten ließ, wählte den Salamander als sein persönliches Emblem.

Der Salamander war seit der Antike ein mystisches Wesen. Man glaubte, er könne im Feuer leben, ohne zu verbrennen – ja mehr noch: Er könne Feuer löschen. Diese Vorstellung machte den Salamander zum perfekten Symbol für einen König, der über die Elemente zu herrschen schien.
Franz I. verband den Salamander mit dem Motto Nutrisco et extinguo – „Ich nähre das gute Feuer und lösche das schlechte“. Der inmitten von Flammen dargestellte Salamander, mit zum Himmel gerichtetem Kopf und sich selbst berührendem Schwanz, symbolisierte die Kontrolle über das Feuer – und damit über die Menschen und die Welt. Der König wollte die Guten unterstützen und die Bösen auslöschen.

Die Herkunft dieses Symbols reicht tief in die Familiengeschichte: Bereits das Wappen des Grafen Jean d’Angoulême, des Großvaters von Franz I., enthielt einen Salamander. Doch erst unter Franz I. wurde das Tier zum allgegenwärtigen Herrschaftszeichen – nicht nur in Chambord und Fontainebleau, sondern auch in zahllosen Wappen französischer Städte, die ihre Loyalität zum König demonstrieren wollten.
Napoleon Bonaparte: die Bienen

Als Napoleon Bonaparte sich 1804 zum Kaiser der Franzosen krönte, stand er vor einem Problem: Er brauchte neue Insignien der Macht, die sich klar von den Bourbonen und ihrer allgegenwärtigen Lilie unterschieden. Die Kommission zur Vorbereitung der Krönung stieß in der Sammlung der Nationalbibliothek auf einen sensationellen Fund: die Grabbeigaben des fränkischen Königs Childerich I., der 481 oder 482 verstorben war.
1653 hatte man in Tournai sein Grab geöffnet und dabei fast 300 goldene Beschläge in Bienenform gefunden. Diese Bienen – oder möglicherweise Zikaden – galten als die ältesten Embleme der Herrscher Frankreichs und Symbole für Unsterblichkeit und Wiedergeburt. Napoleon war fasziniert.
Die Biene wurde zu seinem persönlichen Markenzeichen. Sie stand für Fleiß, Ordnung und eine Republik mit einem Chef – das perfekte Bild für Napoleons Kaiserreich. Bei der Krönungszeremonie am 2. Dezember 1804 in Notre-Dame de Paris wurden die Bienen exzessiv eingesetzt: Die Krönungsmäntel des Kaisers und der Kaiserin Joséphine waren mit goldenen Bienen bestickt, ebenso Teppiche, Vorhänge und Banner.

Nur dem kaiserlichen Hofstaat und handverlesenen Offizieren war es gestattet, das Symbol zu tragen. Städte, die Napoleon besonders zugetan waren, erhielt den Status einer bonne ville de l’Empire français – einer guten Stadt des französischen Kaiserreichs – und durften drei goldene Bienen im roten Schildhaupt führen. Zu diesen Städten gehörten nicht nur französische Kommunen, sondern auch deutsche Städte wie Mainz und Aachen. Heute halten die Städte und Orte, die eng mit Napoleon verbunden waren, als villes impériales das Erbe des Kaisers hoch.
Selbst im Exil auf Elba blieb Napoleon den Bienen treu: Die Fahne der Insel zeigte drei goldene Bienen auf rot-weißem Grund. Mit den Bienen schuf Napoleon eine Verbindung zu den merowingischen Ursprüngen Frankreichs und unterstrich damit seine Legitimität als Nachfolger der ersten fränkischen Könige – eine geniale PR-Strategie, die Tradition und Innovation verband.

Riesige Tierskulpturen: warum solche Symbole?
Die Faszination für riesige Tierskulpturen wurzelt tief in der menschlichen Psyche. Sie markieren Territorium, erzählen Geschichte und schaffen Identität. In einer globalisierten Welt, in der Regionen zunehmend austauschbar erscheinen, bieten solche Monumente Orientierung und Unterscheidbarkeit.
Sie verbinden Tradition mit Moderne: Das Wildschwein erinnert an die keltische Göttin Arduinna, steht aber gleichzeitig als Gütesiegel für zeitgenössische Regionalprodukte. Das Bresse-Huhn feiert jahrhundertealte Zuchttraditionen und markiert zugleich eine moderne Autobahnraststätte. Bayard lebt in mittelalterlichen Legenden, prägt aber heute noch Wanderrouten und touristische Angebote.

Und sie funktionieren. Millionen Besucher strömen jährlich zu diesen Monumenten, machen Selfies, kaufen Souvenirs und tragen die Geschichten der Regionen in die Welt. Woinic, Bayard und das Bresse-Huhn sind mehr als Stahl und Kunst – sie sind gebaute Erzählungen, die Identität schaffen und Zukunft versprechen.
In einer Zeit, in der Regionen um Aufmerksamkeit und Touristen wetteifern, sind riesige Tierskulpturen zu einer modernen Form der Mythenbildung geworden. Sie sind Botschafter ihrer Heimat – unübersehbar, unvergesslich und tief verwurzelt in der lokalen Kultur. Von den Ardennen zum Löwen von Belfort, über das Geflügel der Bresse bis zu den Ochsen des Périgord und den Stieren der Camargue: Überall dort, wo Stahl zu Tier wird, entsteht mehr als nur Kunst. Es entsteht Heimat zum Anfassen.
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Mehr zu Land und Leute erfahrt ihr in der Kategorie So tickt Frankreich. Weitere Reisetipps aus den Ardennen gibt es hier.

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