Mai 68: Ausstellung des https://berlin.institutfrancais.de/agenda/evenement/2018-01-25t170000-2018-01-25t213000-l-imagination-au-pouvoir

Der Sinn der Revolte: Was blieb vom Mai 1968?

Unter dem Namen Mai ’68 wurde die Pariser Revolte zum Synonym für die Jugend- und Studentenproteste, die in den Jahren 1967/68 fast überall in der ganzen Welt ausbrachen.

Was passierte 1968?

Hintergrund und Infos zu den Umbrüchen von vor 50 Jahren findet ihr in diesem Gastbeitrag von Ingo Kohlboom, den er – in dieser Form – für die Bundeszentrale für politische Bildung verfasst hat. Ausführlicher hat Kohlboom den französischen Mai 1968 im Handbuch Französisch“ (2. Aufl., Erich Schmidt Verlag Berlin 2008) vorgestellt.

Seid Realisten – verlangt das Unmögliche

Wie keine andere Revolte jenes Jahres brachte der französische „Mai 68“ eine Vielzahl einprägsamer Bilder, Symbole und Slogans hervor: Soyez réalistes demandez l’impossible – „Seid Realisten – verlangt das Unmögliche“, Il est inderdit d’interdire – „Es ist verboten zu verbieten“, Dire NON c’est penser – „NEIN sagen ist denken“! Die Sprache, die der Pariser „Mai“ über die Grenzen hinweg in Umlauf setzte, hob sich geradezu heiter von Parolen wie „Alle Macht den Räten“ oder „Was wir wollen – Arbeiterkontrollen“ ab, auf die beispielsweise Gruppen der westdeutschen außerparlamentarischen Opposition (APO) zurückgriffen.

Im französischen „Mai“ wurde, wenn auch nur kurzzeitig, etwas Wirklichkeit, was in anderen Ländern nicht über das Stadium leerer Worte und Parolen hinaus ging: das Zusammentreffen von studentischem Protest mit dem landesweiten Aufbegehren französischer Arbeiter. Eine Verbindung, die überall im Land zu heftigen sozialen Unruhen führte. Die Wirtschaft lag wochenlang lahm, Massendemonstrationen und Barrikaden im Pariser Quartier Latin riefen Erinnerungen an die revolutionäre Geschichte Frankreichs hervor und die gegen Demonstranten vorgehende Bereitschaftspolizei CRS wurde von Sprechchören und in Graffiti mit der SS verglichen.

Vom studentischen Protest zum Generalstreik

Zu Beginn des Jahres 1968 deutete in Frankreich nichts darauf hin, dass binnen weniger Monate der Staat an den Rand des Notstands getrieben würde. Nur vereinzelt wurden wegen der leicht angestiegenen Arbeitslosigkeit Anfang des Jahres Fabriken bestreikt. Ein Ende März an der neuen Universität im Pariser Vorort Nanterre ausgebrochener Konflikt zwischen Studenten und der Universitätsleitung um das Recht auf freie Meinungsäußerung sorgte vereinzelt für Aufsehen.

Doch als nach anhaltenden Protesten die literarische Fakultät in Nanterre geschlossen wurde, sprang der Funke nach Paris über. Studenten besetzten die Sorbonne. Am 3. Mai wurde die Universität mit Gewalt von der Polizei geräumt – ein Tabubruch. Binnen kurzem wuchs die allgemeine Empörung über die Brutalität der Einsätze soweit an, dass die Gewerkschaften für den 13. Mai zum eintägigen Generalstreik aufriefen.

Die einmal angelaufene Streikbewegung breitete sich über das ganze Land aus und erfasste nahezu alle Lebensbereiche (Am 24. Mai streikten neun bis zehn Millionen Menschen). Das politische Establishment der Republik war paralysiert. Auch die von Präsident Charles de Gaulle hastig vollzogene Ankündigung von Neuwahlen und eines Referendums über Reformen brachte keine Ruhe ins Land. Gleichzeitig aber begannen sich die Wege der teilweise aufständischen Protestgruppen und die der Gewerkschaften zu trennen.

Für Letztere blieben Streiks und Fabrikbesetzungen klassische Druckmittel, um Lohnerhöhungen und andere Forderungen in den Betrieben durchzusetzen. Auf Initiative von Premierminister Georges Pompidou kam es zu Verhandlungen, und am 27. Mai unterzeichneten Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung die Accords de Grenelle (Abkommen von Grenelle) über eine Erhöhung des Mindestlohns (35%), Tariferhöhungen, Verkürzung der Arbeitszeit, Mitbestimmung und andere arbeitrechtliche Verbesserungen.

Mit den Accords de Grenelle kam die Wende, beschleunigt durch die Auflösung der Nationalversammlung am 30. Mai, durch die Ankündigung von Neuwahlen für den 23. Juni und durch gaullistische Gegendemonstrationen im ganzen Land, die die Revolte erstmals in die Defensive brachten. Im Juni führten die Gewerkschaften, oft nicht ohne Schwierigkeiten, ein Ende der Streikbewegung herbei. Die Wahlen, die als „Angstwahlen“ in die Annalen eingingen, bestätigten die konservativen Regierungsparteien an der Macht. Nur in einigen Hochschulen und Fabriken gärte es noch einige Zeit weiter.

Deutungsversuche

War der „Mai“ nur ein rasch wieder verschwundener Spuk? Der Schriftsteller Bernard Pingaud, Augenzeuge der Ereignisse, notierte in seinem im Jahr 2000 publizierten Tagebuch: „Mai: es hat sich nichts ereignet.“ Diesen Eindruck hatte man in der Tat schon zwei Monate danach. Die „große Revolution“, die auf so viele rote und schwarze Fahnen geschrieben worden war, hatte nicht stattgefunden. Doch folgenlos ist der „Mai“ deshalb nicht geblieben. Nur in der Einschätzung der Folgen wie auch der Ursachen sind sich Beteiligte und Beobachter weiterhin uneins.

Die „funktionalistische“ Deutung versteht den Mai als überfälligen Prozess des Nachholens sozialer Reformen in einer blockierten Gesellschaft. Gegenüber vergleichbaren hochindustrialisierten westeuropäischen Ländern wie der Bundesrepublik war das unter de Gaulle in den 60er Jahren beschleunigt modernisierte Frankreich in einen sozialen Rückstand geraten.

Die Streiks vom Mai 1968 lagen somit im Interesse des gesamten Wirtschaftssystems, das von außen gezwungen werden musste, sozialen Reformen und einer Kaufkrafterhöhung zuzustimmen. Die heitere Feier der „Wünsche“ half demnach einer jungen Konsumgesellschaft zum Durchbruch, was durch das traditionelle Gesellschaftsbild des konservativen Gaullismus zuvor verhindert worden war.

Andere, voran viele Ehemalige der Mai-Revolte, bestehen auf dem vom Mai ’68 ausgegangenen Anstoß einer neuen politischen, sozial- und kulturrevolutionären Entwicklung hin zu mehr Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft. Obwohl es der Kommunistischen Partei (PCF) und der mit ihr verbündeten Gewerkschaft Confédération générale du Travail (CGT) gelungen war, eine Verbrüderung zwischen unkontrollierbaren Studentengruppen und den Fabrikbelegschaften zu vereiteln, setzte mit der Mai-Revolte der Niedergang des beträchtlichen kommunistischen Einflusses im Nachkriegsfrankreich ein. Aber auch „grüne“ und pazifistische Alternativbewegungen verkümmerten – im Gegensatz zur westdeutschen Entwicklung.

Unbestritten ist, dass sich der französische Mai ’68 unmittelbar in einen Umbau der Parteienlandschaft, der politischen Kultur und des Wertegefüges der Fünften Republik einfügte. Er beschleunigte den Niedergang des traditionellen Gaullismus – de Gaulle trat 1969 nach einem gescheiterten Referendum zurück – und zwang die konservativen Eliten sich zu modernisieren. Der Niedergang der Kommunistischen Partei vollzog sich zu Gunsten der Sozialisten, deren Erneuerung unter François Mitterrand zu dessen Wahltriumph 1981 führte.

Zugleich öffnete sich die traditionell zentralistisch eingestellte Linke für regionale Belange und Identitäten, was sich ab 1972 exemplarisch in der Bretagne ablesen ließ und in den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 seinen gesetzgeberischen Niederschlag fand. Und nicht zuletzt erlangten die Frauen Mitte der 70er Jahre unter dem Einfluss feministischer Bewegungen und der Gesundheitsministerin Simone Veil (UDF) bislang ungekannte Rechte.

Was bleibt vom ’schönen Mai‘?

Heute ist der joli mai („der schöne Mai“) von 1968 ebenso Geschichte wie das große Volksfest, mit dem im Mai 1981 die Wahl des Sozialisten Mitterrand zum Staatspräsidenten gefeiert wurde. Doch was schon das Gedächtnis der Französischen Revolution und anderer revolutionärer und sozialer Revolten in Frankreich für sich in Anspruch nahm, gilt auch für den „Mai 68“: die Erinnerung an die plötzlich hervorbrechende, durch den gewöhnlichen Gang der Dinge verschüttete Fähigkeit vieler Menschen, im gemeinsamen Nein zum Bestehenden zusammenzufinden und aus der bloßen Vorstellung besserer Zustände ein Fest zu machen. Dass diese Fähigkeit in Frankreich in besonderem Maße vorhanden ist, zeigen Geschichte und Kultur unseres Nachbarlandes.

Einen weiteren deutsch-französischen Aspekt des Pariser Mai ’68 gilt es festzuhalten: Wohl kaum ein anderes französisches Ereignis im 20. Jh. hat eine so faszinierende Wirkung auf jüngere Deutsche ausgeübt. Waren die konservativen und älteren Generationen der damaligen Bundesrepublik eher vom Charisma eines Charles de Gaulles fasziniert, so übte der Pariser Mai, dem ein deutsch-französischer Student namens Daniel Cohn-Bendit ein jugendliches Gesicht gab, eine nachhaltige Wirkung auf die damalige westdeutsche studentische Jugend aus.

Der Mai ’68 prägte ein neues, „linkes“ Frankreichbild einer ganzen Generation, zu der nicht zuletzt auch die ersten „Jahrgänge“ des Deutsch-Französischen Jugendwerkes gehörten: ein Frankreich der politisch-kulturellen Revolte, des sympathischen Ungehorsams, des kreativen Aufbegehrens. All zu schnell vergaßen spätere westdeutsche (heute etablierte) Protestbewegungen, dass ihre antinuklearen und ökologischen Lehrjahre einst in Frankreich lagen.

Wie in Deutschland ist die 68er-Generation nun auch in Frankreich von der aktiven politischen Bühne abgetreten. Ihr Erbe wird heute kritischer gesehen als vor 20 Jahren, als sie selbst noch über die Deutungshoheit verfügte. Das zeigte nicht zuletzt der Präsidentschaftswahlkampf 2007, in dem der spätere Wahlsieger Nicolas Sarkozy (*1955) mit den „Erben des Mai 68“ abzurechnen versuchte: dieses Erbe gelte es ein für allemal zu begraben.

Der Lästersong von Liliclub

Und die jüngere Generation? Wie steht sie zum Mai 1968? Seht euch dazu einmal den Clip der französischen Band Liliclub von Catherine Diran und Benoit Carré an. Auch sie inspirierte der Mai 1968 vor bereits zehn Jahren, 2008, zu dieser musikalischen, völlig überdrehten Satire, die auf dem gleichnamigen Album bei Underdog Records erschien.

 

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