Briefe aus Saint-Paul: die Mauer
Le mur – die Mauer. Sie ist der Inbegriff Frankreichs. Und wurde nahezu überall im Land in den letzten Jahren erhöht. Sie ist das Bollwerk nach außen und schützt das Eigene, das Intime. Denn draußen ist potenziell jeder ein Feind.
Der Nachbar wie der Staat. Und so wurde nicht nur während der Pandemie in meinem Dorf eifrig gemauert. Ein paar Ziegelblöcke auf die alten Steinreihen, ein paar Natursteine mit Mörtel schnell zusammengeklebt. Gut weit über zwei Meter umfrieden solche Mauern jetzt Grundstücke und Gärten.
Die Maße der Mauer
Wie hoch gemauert wird, hat der Gesetzgeber bis ins Detail geregelt. An die gesetzlichen Maße halten sich akribisch auch all jene, die ihre Mauer illegal im Dunkel der Nacht hochziehen. Baugenehmigung? Bah! Il faut se protéger!
2,60 Meter hoch muss die Grundstücksmauer in allen Orten mit bis zu 50.000 Einwohnern mindestens sein. Bei mehr als 50.000 Einwohnern beträgt die Mindesthöhe sogar 3,20 Meter.
un mur bien chez moi
Ausdruck im Département Yonne für das eigene Heim
Die Rekord-Mauer
Die Mauer – nirgendwo ist sie so präsent wie im Hexagon. Unerreichte Rekorde sind auch die Mauerlängen. Stolze 32 Kilometer lang ist die Umfassungsmauer des Château de Chambord im Loiretal: Europarekord! 1542 begann ihr Bau. Durchschnittlich 3,50 Meter hoch, ruht sie auf einem 70 Zentimeter tiefen Fundament. Errichtet wurde sie aus kleinen, hellen Beauce-Kalksteinen.
Die Mauer hatte von Anfang an eine sehr praktische Funktion als Jagdrevier und Eigentumsgrenze und wurde mit einer hohen symbolischen Funktion ausgestattet. Sie sollte die Grenzen der idealen Stadt, des Territoriums der Utopie, festlegen. Von Anfang an war der Schlosspark hinter der Mauer als ein von Franz I. gewollter Garten Eden konzipiert. Heute ist Chambord die einzige Nationaldomäne Frankreichs, die noch ihre ursprünglichen Ausmaße besitzt.
Umso größer ist das Staunen, wenn man durch Aquitanien reist: keine Mauern, keine blickdichten Hecken. Sondern Rasen, der am Trottoir endet. Und wenn ein Zaun, dann offen, mit Gitter oder Latten. In solchen Details zeigt sich das englische Erbe dieser französischen Region.
Das kleine Glück
Doch im restlichen Land signalisiert die Mauer: Hier beginnt das Private, das Heiligtum des Intimen, in das nur Freunde eindringen dürfen. Als Bollwerk schützt die Mauer das private Glück. Und jenes ist in Frankreich genau umrissen: guter Ehepartner, liebe Kinder, die eigene Familie, Gesundheit und Geld genug zum Leben.
Abweisend nach außen, intim im Innern. Die Fensterläden auch im kühlen Winter am helllichten Tage verschlossen. Und während ich in Hamburg von der Hochbahn aus tiefe Einblicke in die norddeutsche Wohnkultur gewinnen konnte, bleibt in Paris der Blick am schweren Vorhang vor den Fenstern hängen. An vielen Klingelschildern fehlen Namen.
Und wie groß war das Erstaunen, als ich mich – frisch ins Dorf gezogen – ordentlich in der mairie anmelden wollte. „Wir wissen doch schon längst, dass Sie jetzt auch hier leben“, lachte die Sachbearbeiterin. „Eine Meldebescheinigung benötigen Sie nicht. Da genügt der Nachweis von der EDF.“
Der Clash am Berg
Propriété privé (Privateigentum): Inmitten der Wildnis der Pyrenäen am Col de Jau hängt dieses Schild plötzlich im Bergwald und stoppt den Wanderer. Groupama besitzt mit der Domaine de Cobazet seit 1992 rund 1.900 Hektar Land auf dem Madrès-Massiv der katalanischen Pyrenäen.
Alte Buchen prägen den Bergwald – und dienen als „Sicherheit“ im Portfolio der französischen Versicherungsgruppe. Champignons zu sammeln ist dort untersagt. Umso lieber veranstaltet Groupama dort private Jagden.
Jahrhunderte altes Gewohnheitsrecht versus Eigentumsrechte: Am Fuße des Gipfels des Pic des Madrès prallen zwei Vorstellungen aufeinander. An der Küste hat der französische Staat diesen Konflikt gelöst. Das Gesetz Nr. 1285 vom 31. Dezember 1976 legt eine Mindestdienstbarkeit von drei Metern entlang jeder Küstenlinie im öffentlichen Seegebiet fest.
Dies bedeutet: Jede private Bebauung – Häuser, Hotels, private Anlegestellen – muss in diesem Bereich den freien Zugang der Bürger zur Küste ermöglichen. Das Prinzip wurde 1986 im Gesetz über die Entwicklung, den Schutz und die Aufwertung der Küste bestätigt.
Die Mauer im Kopf
Die Mauer. Nicht nur konkret und hoch gebaut. Sondern auch in den Köpfen. Sie hat den franco-algerischen Sänger Patrick Bruel zu einem seiner erfolgreichsten Chansons inspiriert: Combien de Murs*.
D’abord une pierre qui vole en éclats
Une drôle de poussière, puis un fracas
Sortez de chez vous, réveillez tous les gens
Qui ont rendez-vous depuis si longtemps
Un mur est tombé, un homme se retourne
Est-ce qu’il a rêve ? Est-ce une page qu’on tourne ?
Déjà la rumeur qui court de ville en ville
On s’embrasse, on pleure, il reste immobile
Est-ce que c’est lui qui perd la tête, qui devient fou…
Même si son cœur est à la fête ses yeux sont flous
Combien d’armures, combien de masques, combien de tombes?…
Das Chanson könnt ihr hier anhören in der Live-Version von 1994: www.dailymotion.com/video/x1tk8z8.
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Im Blog
In meinen Briefen aus Saint-Paul stelle ich Momentaufnahmen aus meiner zweiten Heimat vor. Klickt mal hier!
„Denn draußen ist potenziell jeder ein Feind.
Der Nachbar wie der Staat.“
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Das erklärt manches.
Trotz der Bauauflagen zur Mindest(!)mauerhöhe scheint es ja nicht viel zu nutzen, wenn man die Erfahrungen von Jürgen Stumpf liest. Ich konnte jetzt nicht erkennen ober die Regelungen zum Mauerbau eine Baupflicht beinhalten…
Ja, das stimmt… ob es dort eine Baupflicht gibt … da muss ich leider passen. Herzliche Grüße! Hilke
Die mangelnde Ästethik kann ich auch bestätigen.
„Unser“ Dorf im Aveyron dürfte sich durchaus als hässlichstes Dorf Frankreich bezeichnen.
Es gibt zwar einige schöne alte Häuser, jedoch sind die allermeisten mit Eternit gedeckt und alle neueren Gebäude bestehen aus rohen Bimsstein-Mauern.
Zwar handelt es sich hierbei meist um Zweck-Bauten des örtlichen Bauern, doch auch diese hätte man preiswert „in hübsch“ errichten können.
Der neueste Trend scheinen Kunststoff-Klappläden in Holzoptik zu sein. Die tauchen jedenfalls seit diesem Jahr auf.
An unserem Haus haben wir die alten Holzläden teilweise ersetzt, geschliffen und neu lackiert.
Das Eternit auf dem Dach wird demnächst durch rote Dachpfannen ersetzt.
Erhöhte Mauern sind hier keine zu finden. Im Gegenteil: Hier schließt keiner sein Haus oder Auto ab. Man ist immer willkommen und wird herzlich begrüßt.
Lieber Bernhard, ganz herzlichen Dank für Deine Eindrücke! Bises, Hilke
Da sprichst du ein interessantes Thema an, liebe Hilke. Wenn Franzosen bauen, wird immer zuerst der Swimmingpool aufgebaut, ist uns aufgefallen. Steht irgendwo ein einsamer Pool im Land, weiss man, hier wird demnächst gebaut. 🙂
Liebe Ingrid, ja, die Pools… das ist auch so ein Thema :-)… da entstehen manche flugs über Nacht. Und daher gibt es jetzt in Okzitanien dafür eigene Fliegerpatrouillen, die nach illegalen Pools Ausschau halten.
Viele Grüße, Hilke Maunder
Liebe Hilke,
die Mauern sind sicher auch ein Zeichen zur Abwehr gegen Einbrüche. Auch wir haben dies in Opoul im Laufe von 25 Jahren erleben können. Jedes neuerbaute Haus hat eine etwas höhere Mauer bekommen. Aus der Erfahrung von fünf „geglückten“ Einbrüchen in unsere Bergerie haben wir uns schließlich entschlossen, diese zu verkaufen und uns um einen sicheren „Alterssitz“ zu kümmern. Leider haben gute französische Freunde von uns, in einem Ort in der Nähe von Toulouse, auch die bittere Erfahrung eines Einbruchs in ihr permanent bewohntes Haus gemacht. Sicher gibt es keinen perfekten Schutz vor Einbrüchen und auch in Deutschland gibt es viele Einbrüche, aber man sollte schon etwas Verständnis für das berechtigte Schutzbedürfnis unserer französischen Freunde entwickeln.
Herzliche Grüße Jürgen
Lieber Jürgen, ganz herzlichen Dank, dass Du diesen Aspekt erwähnt hast. Ich wünsche euch, dass ihr vor Einbrüchen künftig verschont bleibt – das sind tragische Erlebnisse auch emotional. Viele Grüße, Hilke
Sofern die Mauern wenigstens aus Steinen bestehen, sind sie zwar nicht schön, aber ihr Anblick ist erträglich. In unserer Gegend (rund um Béziers) finden sich Lotissements mit rohen, unverputzten Hohlblockmauern, die wirklich abstoßend aussehen. Aber für die Franzosen scheint das normal zu sein ebenso wie Plastikrollläden und Aluminiumtüren in alten Natursteinhäusern ganz dem hiesigen Geschmack entsprechen.
Die Franzosen sind definitiv keine Ästheten, leider. Es ist ja auch so, dass man mit einer Mauer den eigenen Horizont beschränkt… :-/
Hallo Hilke, vielen Dank für den heutigen Newsletter. Eine kleine Anmerkung zu Deinem Brief aus Saint Paul und den Mauern: Die auf den Photos gezeigten Mauern sehen nicht aus, wie kürzlich erweitert oder hoch gemauert. Das zeigt mit, das die Mauern in den Köpfen der Menschen sich erweitern. Ursächlich dafür, ist die geschürte Angst und die mediale Panikmache zu allen aktuellen Themen. Bei mir in Franche-Comte in unserem 130 Seelen Dorf ist davon nichts zu spüren. Hier herrscht, genauso wie ich es aus Frankreich gewohnt bin, Offenheit und Interesse am Nachbarn. Ich wünsche mir, daß das so bleibt und andere gleiche Erfahrungen machen können. Schöne Grüße vom Doubs sendet Andreas
Hallo Andreas, das zweite Bild zeigt die Erweiterung der Mauer. Ich lebe ja in dem Dorf und habe gesehen wie sie im März/April gebaut wurde. Ich denke auch, dass die France-Conte vielleicht da anders gepolt ist, bedingt auch durch die andere Geschichte.Viele Grüße, Hilke
Ja,das ist sehr gewöhnungsbedürftig.Wirhaben eine Wohnung in einer Retorten-Ferienhausanlage und selbst dort werden die vorhandenen Mauern noch mal erhöht und stehen in groteskem Gegensatz zur Größe des Häuschens. Auch wenn das Haus gar nichts Besonderes ist, haben die Mauern und schmiedeeisernen Tore oft royales Ausmass. Jeder Sein König im eigenen Reich!
Liebe Verena, ja, die Tore…. Das ist Eigentlich ein schönes Thema für eine andere Betrachtung. Merci für die Inspiration und herzliche Grüße, Hilke