Lesetipps zur Rentrée Littéraire: Die schönsten Sommerbücher aus Frankreich
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Lese-Tipps: frankophile Bücher-Perlen

Voilà wieder ein paar Lese-Tipps! Heute möchte ich euch einige der Bücher vorstellen, die im letzten Halbjahr erschienen sind. Es sind keine Titel, die in hohen Stapeln auf den Tischen der Buchhandlungen drapiert oder in den Regalen präsentiert wurden. Sondern Perlen. Überraschungserfolge der letzten Monate, aber auch Bücher, die nur ein kleineres Lesepublikum begeistern. Allesamt sind es Bücher, die auf ihrer Art einzigartig waren, mich fesselten und wert sind, gelesen zu werden.

Straus-Ernst-Zauberkreis Paris

Luise Straus-Ernst, Zauberkreis Paris*

Sie war eine promovierte Kunsthistorikerin, die Muse der Künstler wurde: Luise „Lou“ Straus-Ernst (1893 – 1944). Die Tochter eines jüdischen Kölner Hutfabrikanten wuchs in Köln am Rhein auf, lernte beim Studium in Bonn den Katholiken Max Ernst kennen und lieben, heiratete ihn gegen den Willen der Eltern und gebar 1920 ihren Sohn Hans-Ulrich, der in den USA später als Jimmy Ernst Karriere als Künstler machte. In der Wohnung der Familie Ernst traf sich die damalige Avantgarde.

Nach ihrer Scheidung vom Maler und Bildhauer Max Ernst 1926 entdeckte Luise ihre Leidenschaft für das Schreiben von Feuilletons, Reportagen und Erzählungen. Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen, flüchtete Luise nach Paris, wo ihr Mann sich bereits den Surrealisten angeschlossen hatte und mit Paul Éluard und seiner russischen Ehefrau Gala in einer ménage à trois lebte.

In Paris schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs durch und schreibt gelegentlich für die Neue Zürcher Zeitung und die Saarbrücker Deutsche Freiheit. 1934 erhält sie von der deutschsprachigen Emigrantenzeitung „Pariser Tageblatt“ den Auftrag zu einem Fortsetzungsroman mit dem Titel „Zauberkreis Paris“.

Stark autobiografisch geprägt, erzählt es das Schicksal eines Paares, das die  NS-Herrschaft auseinanderreißt. Peter, der als erster nach Paris flüchtet, reagiert auf das Exil mit Müßiggang und amour fou. Er verliebt sich in Paris in die Russin Borja und kann vorerst noch von seinen Ersparnissen leben. Ulla flüchtet erst einige Monate später. In Paris muss sie feststellen, dass ihre Liebe zerbrochen ist.

Anstatt zu resignieren, stellt sich Ulla den Widrigkeiten der Fremde: Das Exil wird für sie zu einer harten Schule, ihr Kampf um Existenzsicherung, um Anerkennung zu einem Prozess der Emanzipation und des wachsenden Selbstvertrauens. Peter hingegen gleitet immer mehr ab, gerät in kriminelle Machenschaften und begeht Selbstmord. Ulla hingegen gelingt es, sich im Exil neu zu (er)finden. Damit endet der Roman. Das hervorragende Nachwort von Armin Strohmeyr ordnet den Roman, dessen Duktus anfangs ungewohnt ist, ein, erläutert Fiktion und Wirklichkeit – und schreibt die Geschichte von Luise Straus-Ernst fort.

Der Nähe zur Résistance bezichtigt, wurde sie im Camp de Gurs am Fuß der Pyrenäen interniert, dort aber dank des Engagements  ihres damaligen  Lebensgefährten Fritz Neugass wieder entlassen. Nach Monaten in Cannes fand  sie bei Jean Giono im Hinterland der Côte d’Azur Zuflucht, wo sie ihre Autobiografie „Nomadengut“ schrieb. 1944 nahm die Gestapo die  schwer erkrankte 50-Jährige fest, deportierte sie mit einem der letzten Züge nach Auschwitz und ermordete sie an einem Tag im Juli 1944 in der Gaskammer. Wer mag, kann ihre Erzählung aus dem Pariser Exil hier* online bestellen.

Chloe Delaume Das synthetische HerzChloé Delaume, Das synthetische Herz*

Mit Le Cœur synthétique* eroberte Chloé Delaume 2020 die Herzen der Leser in Frankreich. Zwei Jahre später ist im Verlag Liebeskind die deutsche Übersetzung ihres Romans erschienen, der im Erscheinungsjahr mit dem Prix Medicis ausgezeichnet wurde. Die Heldin der modernen Großstadtgeschichte ist Adélaïde, schön, selbstbewusst und äußerst erfolgreich als Vermarkterin  der Autoren ihres Verlags.

Doch privat läuft es nicht rund für die Frau, die seit Jahrzehnten versucht, eine Liebe zu finden, beim Mann ihr Glück zu finden. Jetzt, Ende 40, hat sie ihren Mann Erik verlassen und tauscht das geräumige Heim der Zweierbeziehung gegen eine winzige Wohnung. Noch ahnt sie nicht, was ihr bevorsteht:

Dies ist die Geschichte einer Rose, die noch nicht weiß, dass sie zum Mauerblümchen wird. Adélaïde Berthel ist eine Frau wie viele andere. Für die mit sechsundvierzig Jahren das Ende der Mädchenträume eingeläutet wird.

Trotz der Erkenntnis, dass ihr Alter ein starker Abschlagfaktor an der Börse der Gefühle ist, ist Adélaïde geradezu besessen von der Idee, so schnell wie möglich  einen Mann zu treffen und wieder zu heiraten. Sie fühlt sich schuldig, weil sie mit ihrer Einsamkeit nicht so umgeht, wie es eine echte Feministin tun sollte.

Umgeben von ihren Freundinnen, die selbst in existenziellen Krise stecken, versucht sie, ihr Single-Dasein zu zähmen. Mit nüchterner Distanz, kurzen Sätzen und schneller moderner Sprache erzählt Chloé Delaume die Geschichte und lotet seelische Abgründe aus. Als Überschriften für ihre Kapitel fungieren Titel berühmter Romane oder Chansons. Ihr Resümee:

Liebe ist, wenn sich zwei Einsamkeiten ergänzen, ohne sich zu verschlingen.

Ich habe das 160 Seiten dicke Werk verschlungen. Und trotz des auf den ersten Blick traurigen Themas oftmals schallend gelacht. Denn das beherrscht Chloé Delaume meisterhaft: mit sachlichen Worten Situationen so absurd wirken zu lassen, Selbstbetrug und menschliche Interaktionen so charmant zu demaskieren, dass Wiedererkennen, Entsetzen, Erstaunen und Mitfühlen für ein Feuerwerk an Emotionen und höchsten Lesegenuss sorgen. Wer mag, kann die urbane comédie humaine hier* auf Deutsch und hier* auf Französisch bestellen.

Franck Bouysse_Rauer HimmelFranck Bouysse, Rauer Himmel*

Franck Bouysee ist ein Kind der Corrèze. Am 5. September 1965 in Brive-la-Gaillarde geboren, zog er nach dem Biologiestudium nach Limoges, um dort zu unterrichten. Als Lehrer an einem technischen Gymnasium veröffentlichte er seinen ersten Roman: La paix du désespoir*, in dem er sich bereits auf die Psychologie seiner Figuren konzentrierte.

Einige Jahre später, 2007, veröffentlichte er seinen ersten Kriminalroman. L’entomologiste* erschien bei Lucien Souny, einem Verlag aus Limoges. Mit Le Mystère H.* begann Bouysse eine Trilogie. Sie bildet eine Art Abenteuerroman und spielt nicht nur in Limoges, sondern auch in London, der im im März 2010 erschienene zweite Band LHondres ou les ruelles sans étoiles* angesiedelt ist.

2013 kaufte er in einem verlassenen Weiler der Corrèze ein Haus, nur wenige Kilometer von den Orten seiner Kindheit entfernt. Während der gut einjährigen Restaurierung nahm ein großes Romanprojekt in seinem Kopf Gestalt an.

2014 veröffentlichte Bouysse seinen Roman Grossir le ciel*– und wurde mit Preisen überschüttet: Prix Polar Michel-Lebrun 2015, Prix Polars Pourpres 2015 und Prix SNCF du polar 2017. Im Folgejahr heimste Plateau (2015) den Prix Chapel 2016 und den Prix des lecteurs de la ville de Brive 2016 ein.  Auch nach Glaise (2017) rissen die Auszeichnungen nicht ab: Prix Babelio de Littérature française 2019, Grand Prix des lectrices Elle – Policiers – 2019, Prix des libraires 2019 Prix Audiolib 2020 für Né d’aucune femme* und Prix Giono 2020 für Buveurs de vent*.

Trotz dieser vielen Preise ist Bouysse im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt. Doch seit Herbst 2021 liegt Grossir le ciel in der Übersetzung von Christiane Kayser nun auch auf Deutsch vor. Erschienen ist der Krimi im Stuttgarter Polar Verlag, der mit seinem kleinen, feinen Krimiprogramm immer mehr Leser begeistert.

Die Handlung spielt in Doges, einem kleinen Ort in den Cevennen, im Jahr 2006 – doch das Leben verläuft dort wie einst, zeitlos, verwurzelt im Rhythmus der Jahreszeiten, geprägt von Jahrhunderte alten Verbindungen unter den Menschen. Dort daheim sind Gus, sein Hund Mars und sein Nachbar Abel. Jeder für sich, doch bei Bedarf hilft jeder dem anderen. Mit Technik, Gespräch oder einem Glas Wein. Eines Morgens jedoch hört Gus einen Schuss und entdeckt Spuren im Schnee…

„Rauer Himmel“ ist ein gelungener Noir, ein harter Georges Simonon, bei dem das Leben von Bauern am Rande des Existenzminimums das eigentliche Thema ist. Dies macht sein Buch auch zur spannenden Lektüre für alle, die keine Krimis lieben, aber sich für die Lage der Bauern in den Cevennen interessieren. Wer mag, kann den Krimi hier* online bestellen.

Antoine Laurain_Eine verdächtig wahre GeschichteAntoine Laurain, Eine verdächtig wahre Geschichte*

Der französische Schriftsteller Antoine Laurain hat zwei große Leidenschaften: die Kunstgeschichte und den Film. So studierte er beides, drehte Kurzfilme, arbeite bei einem Pariser Antiquitätenhändler, durchstreifte  Auktionshäuser und Antiquitätenmessen – und ließ sich von der Welt der Sammler zu seinem ersten Roman Ailleurs si j’y suis* (Prix Drouot 2007) inspirieren. 2009 folgte Carrefour des nostalgies*, 2020 auf Deutsch als Glücklicher als gedacht* erschienen.

Le chapeau de Mitterrand* war die literarische Überraschung zum Jahresauftakt 2012. Der Roman wurde mit dem Prix Landerneau découverte und dem Prix Relay des voyageurs ausgezeichnet, in elf Sprachen übersetzt und unter dem The President’s Hat in England zum Kassenknüller
2015 verfilmte France 2 den Roman mit Frédéric Diefenthal und Michel Leeb. Unter dem Titel Der Hut des Präsidenten* erschien der Roman m 2016 im Atlantik Verlag.

Für La femme au carnet rouge* (2014) verkaufte Laurain die Rechte für die Verfilmung die UGC, für seine Rhapsodie française (2016) an die BBC. Als Die Melodie meines Lebens* brachte ihn 2017 der Atlantik Verlag heraus. 2018 folgte Millésime 54, zu deutsch Ein Tropfen vom Glück*. Noch nicht übersetzt ist das jüngste Werk, das 2022 bei Flammarion herauskam: Les Caprices d’un astre*.

Zuvor erschien 2020 in Frankreich Le Service des Manuscrits*. Seit Februar 2022 ist der Krimi in der Übersetzung von Claudia Kalschauer als Eine verdächtig wahre Geschichte beim Atlantik-Verlag im Programm. Die Hauptfigur Violaine Lepage ist mit ihren 44 Jahren eine der bekanntesten Verlegerinnen in Paris. Ihre Manuskriptabteilung hatte den richtigen Riecher gehabt – denn der jüngst vom Verlag veröffentlichte  Roman Les Fleurs de sucre ist ein echter Publikums- und Kritikererfolg, der für den Prix Goncourt infrage kommt.

Doch sein Autor ist unauffindbar. Nach zwei oder drei E-Mails ist das Phantom-Wunderkind verschwunden! Doch ein Unglück kommt nie allein. Violaine Lepage erleideet bei einem Flugzeugabsturz eine partielle Amnesie, während ein Mordfall in der Normandie ihren ohnehin schon komplizierten Alltag weiter erschwert, da die Polizei eine Verbindung zwischen den Verbrechen und Les Fleurs de sucre herstellt. Wer hat den Roman geschrieben und warum?

Geschickt jongliert Antoine Laurain mit den literarischen Genres und Sprachstilen und treibt den Lesefluss mit großem Tempo voran. Auch wenn man schließlich das Ende schon ahnt, so beschert er doch Lese-Genuss von der ersten bis zur 208. Seite. Wer mag, kann die raffinierte wie lustige Geschichte hier* bestellen.

Joseph Andras_KanakyJoseph Andras, Kanaky*

Dreimal hat bereits die südpazifische Inselgruppe Neukaledonien über ihre Unabhängigkeit von Frankreich abgestimmt. Bei jeder Abstimmung überwog knapp die Zustimmung zum Verbleib beim fernen Mutterland. Einer der führenden Figuren der kanakischen Unabhängigkeitsbewegung war Alphonse Kahnyapa Dianou.

Er war einer der Anführer, die den Angriff militanter Kanak-Nationalisten auf die Gendarmerie von Fayaoué in Ouvéa am Freitag, dem 22. April 1988, geplant hatten. Die Aktion misslang. Sie führte zum Tod von vier Gendarmen, gefolgt von der Geiselnahme der anderen Gendarmen.

Alphonse Dianou und sein Bruder Hilaire flohen in den Norden und fanden schließlich Zuflucht in der „heiligen“ Höhle von Wateö, nicht weit vom Stamm der Gossanah entfernt. Dreizehn Tage später, am 4. Mai 1988, startete die Elite der Streitkräfte ihren Angriff, bei dem Dianou ums Leben kam. Seitdem ranken sich die widersprüchlichsten Legenden um dessen Tod.

Joseph Andras beginnt nachzuforschen, er reist an den Ort des Geschehens, trifft Dianous Witwe, Vertraute und Zeitzeugen. Die Erzählung beruht auf Aussagen der Kanak und stellt ihr Wort in den Mittelpunkt des Buches. Es besteht aus einem doppelten Erzählrahmen: 45 Kapitel berichten die Suche anhand von Zeugenaussagen und werden von 14 chronologischen Sequenzen unterbrochen, die den Ablauf des Angriffs und der Geiselnahme vom 22. April bis zur Erstürmung der Höhle am 5. Mai 1988 rekonstruieren.

Die Sequenz der 13 Tage der Ereignisse (22. April bis 5. Mai) verwebt die Wiedergabe der Zeugenaussagen aus den 45 Kapiteln. Die Wahl der Komposition verleiht der Erzählung Intensität und Dichte. Der Schreibstil ist eng an die Realität angelehnt.

Seine Notizen, Gespräche und Begegnungen verbindet Andras zu einem fesselnden  Text, der in den Kern eines hier nur wenig bekannten Konflikts dringt. Andras erzählt vom Widerstand gegen die Kolonialmacht, von  einer verdrängten Kultur und  von einem Land, zerrissen im Kampf für einen unabhängigen Staat: Kanaky. Wer mag, kann den Doku-Roman hier* bestellen.

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2 Kommentare

  1. Hallo Hilke,
    na, wenn das nicht auch eine Empfehlung ist: „Hefeles und Rösers visuelle Bestandsaufnahme vergessener Orte mit ihren gestochen scharfen Fotografien in Verbindung mit ausgezeichneter Druckqualität, ergänzt durch die Texte der Frankreich-Kennerin Hilke Mauder, machen „Temps perdu“ zu dem schönsten Lost-Places-Buch der letzten Jahre.“
    Liebe Grüße
    Ralf

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