Mythos am Mittelmeer: die Côte d’Azur
La Côte d’Azur: Sie ist ein blaues Wunder mit Glanz und Glamour, Stars und Sternen: Die azurblaue Küste inszeniert filmreif Träume von Glück. Seit 200 Jahren ist die Côte d’Azur Ort der Sehnsucht, an dem sich der Jetset trifft. Doch der Boom der südfranzösischen Riviera sorgt auch für Schattenseiten. Nachhaltige Entwicklung ist heute das Ziel.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war Frankreichs azurblaue Küste noch ein armer, abgelegener Landstrich. Zu den ersten, die ihn als Urlauber entdeckten, gehörte 1763 der englische Schriftsteller Thomas Smollett, der sie auf seiner grand tour durch Europa besuchte und zwei Jahre später in Reisen durch Frankreich und Italien vorstellte.
1834 flüchtete sein Landsmann Henry Lord Brougham vor der Cholera in das Fischerdorf Cannes. Der Adlige war begeistert vom milden Winter, kaufte ein Stück Land und ließ die erste prachtvolle Villa erbauen. Die Côte d’Azur als Winterrefugium: Mit Brougham begann der Boom. Und nicht nur Briten kamen. Schon bald tummelte sich die gesamte bessere Gesellschaft der damaligen Zeit an der französischen Riviera: Kaiser und Könige, Großbürger, Industriebarone und berühmte Kurtisanen.
Queen Victoria reiste mit ihrer Jacht bis Cannes und „raste“ im Sonderzug mit 53 Kilometern pro Stunde nach Nizza, wo auch König Leopold von Belgien und später der Aga Khan Hof hielten. Künstler wie Matisse und Monet, Schriftsteller und Komponisten belebten die Szene, angezogen vom magischen Licht und der mediterranen Landschaft. Hier begann, was später als Belle Époque Geschichte machte.
Europas Nummer eins zwischen Cannes und Menton war um 1860 Nizza. Hier war alles noch edler, noch teurer und noch anspruchsvoller als anderswo an der Küste. Unglaublich verschwenderische und gewagte Bauvorhaben entstanden. Türmchen, Dome und Kuppeln, Fayencen und Fresken, Marmor, Glas und Gold verzierten kühn die Villen.
Je extravaganter und opulenter, umso besser. Ein wahres Wettbauen begann – und jeder versuchte, mit seiner Villa alle anderen in den Schatten zu stellen. Die Villa Grècque Kérylos in Beaulieu, die Villa Éphrussi der Rothschilds am Cap Ferrat und Palasthotels wie Cap-Eden Roc in Antibes, Martinez in Cannes oder Négresco in Nizza spiegeln jene Jahre bis heute wider.
Am exklusiven Cap Ferrat ließ Émile Crozet-Fourneyron, Industrieller der Lyoner Stahlwerke und Freund von Léon Gambetta, 1898 die Villa La Vigie errichten. Sie wurde nach seinen eigenen Plänen in Zusammenarbeit mit dem Architekten Charles Bermond entworfen, da er ein rundes Haus wollte. 360-Grad-Landschaft sollte es eröffnen: auf die Bucht von Nizza und das Esterel-Massiv im Westen, das bergige Hinterland im Norden, Beaulieu und seine Bucht bis hin zur italienischen Küste im Osten und im Süden das Mittelmeer.
1865 eröffnete das Casino von Monte-Carlo – und machte das bis dato arme Fischerdorf zum Spielplatz internationaler Vermögen. Als „Côte d’Azur“ verewigt 1887 der Winzer-Dichter Stephen Liégard die Küste im Lied – und gab ihr den werbewirksamen Namen, den sie noch heute führt.
Nach der Oktoberrevolution 1917 flüchteten gut betuchte Exilrussen an Frankreichs Riviera. Fast 20 Jahre lebte der Malerpoet Marc Chagall in Saint-Paul-de-Vence und malte seine „Himmlische Botschaft“. Zum Sommerziel stieg die Côte d’Azur erst in den années folles auf, als 1924 ein US-amerikanisches Glamourpaar an die vom 1. Weltkrieg gezeichnete Küste kamen – Scott Fitzgerald, seine Frau Zelda und ihre kleine Tochter Scottie.
Sie hatten ihr Haus auf Long Island verlassen, um in Südfrankreich billiger zu leben und Ruhe zum Schreiben zu finden. Heraus kam Weltliteratur: The Great Gatsby und Tender Is the Night entstanden an der Côte d’Azur.
In How to Live on Practically Nothing a Year für die Saturday Evening Post erzählte Francis Scott von seiner Reise. Das Paar mietete Villen, übernachtete in Hotels am Meer, nahm Sonnenbäder, tauchte nackt und lebte – hedonistisch, frei und völlig exzentrisch. Die Küste wandelte sich vom Winterrefugium zum Spielplatz der Schönen und Reichen.
Der Alkohol floss in Strömen. Im Hôtel de Paris von Monaco genoss das lebenshungrige Paar so lange Gin Fizz und Mint Juleps, bis beide sturzbetrunken waren. Was gab es dann für Szenen! Auch sie sorgten für Schlagzeilen. Und neue Mythen.
Hinter vorgehaltener Hand tuschelte die Society, in Saint-Paul-de-Vence sei die eifersüchtige Zelda beim Besuch der Auberge La Colombe d’Or die Treppe hinuntergestürzt, nachdem Scott betrunken mit der Tänzerin Isadora Duncan geflirtet hatte.
Die Fitzgeralds machten das Schwimmen en vogue, Coco Chanel die Sonnenbräune zum Trend. Vor ihr galt vornehme Blässe als das einzig Wahre. Colette verliebte sich in Saint-Tropez und holte Cocteau, Jeff Kessel und andere berühmte Franzosen an die Südküste.
Bereits 1895 hatten die Brüder Lumière einen Zug bei der Einfahrt in den Bahnhof von La Ciotat gefilmt. La Côte wurde zum Vorreiter der Filmgeschichte. Pagnol, Truffaut, Godard, Vadim und andere weltberühmte Regisseure machten die Städte und Strände der azurblauen Küste weltberühmt, Schauspieler wie Brigitte Bardot oder Jean Dujardin zu ganz großem Kino.
Bei den internationalen Filmfestspielen von Cannes zeigt sich auch Hollywood auf dem roten Teppich. George Clooney und Keira Kneightly stellen sich dann auf den Stufen des Palais des Festivals et des Congrès dem Blitzlichtgewitter der Fotografen.
Vor dem kantigen Klotz aus Beton und Glas haben Filmstars wie in Hollywood ihre Handabdrücke und Unterschriften hinterlassen – Richard Gere, Catherine Deneuve und auch Jodie Foster. Die 58-Jährige erhielt 2021 die Goldene Ehrenpalme für ihr Lebenswerk und eröffnete das 74. Festival.
Bis heute geben die Stars ihr sommerliches Stelldichein an der Côte d’Azur. B.B. lebt in Saint-Tropez, Beyoncé ankert fast jeden Sommer mit ihrer Jacht vor dem weltberühmten Städtchen am Golf. Trotz Massentourismus und Billigfliegern hat die Côte d’Azur Chic und Exklusivität bewahrt – mit Jachtclubs und Sternelokalen, Casinos und Luxusboutiquen, Beach Clubs und Bars, wo man sieht und gesehen wird.
Doch der schöne Schein trügt. Nur wenige der 1,5 Millionen Einwohner der 46 Kommunen, die zur Côte d’Azur gehören, residieren wirklich in prunkvollen Villen mit Meerblick in luxuriösen Stadtteilen wie La Californie in Cannes. Und nur die vielen Pensionäre, die dort das Alter genießen, haben die Zeit für Bridgeturniere und ausgedehntes Sonnenbaden.
Das Gros der Bewohner lebt in alten Häusern mit einfachem Komfort und pendelt wie anderenorts zur Arbeit. Sie quälen sich mit ihren Fahrzeugen durch enge Straßen, stauen sich auf Schnellstraßen und fahren so zahlreich auf den Autobahnen, dass an der Riviera das Tempolimit von 130 km/h auf 110 km/h gedrosselt wurde. Und nach dem Willen von Politikern noch weiter gedrosselt werden soll.
Wer von den Fahrschneisen, die ungehemmt zwischen die Häuser gesetzt wurden, aus dem Fenster schaut, blickt nicht auf einen Küstentraum. Sondern auf ein Trauma: hemmungslos urbanisiert und zugebaut, mit Street-Art-Tags auf heruntergekommenen Fassaden, Müll und obdachlosen Menschen.
Während der Sommermonate arbeiten mamadous als fliegende Händler auf den Promenaden. Fast alle Straßenhändler sind Afrikaner aus dem Senegal – mit Aufenthaltserlaubnis und angemeldetem Reisegewerbe. Auf Tüchern und am Arm bieten sie Sonnenbrillen und Stofftiere, Tücher und Hüte, Souvenirs und Schnickschnack an.
Von früh bis spät sind sie in der Sommerhitze unterwegs, schlafen gemeinsam in einfachen, billigen Absteigen und schicken ihr Erspartes an ihre Familien in der Heimat, die sie oft jahrelang nicht sehen können.
Flugtickets sind teuer, und die Einnahmen sinken. Denn seit dem Anschlag von Nizza vom 14. Juli 2016 sind große Taschen und Rucksäcke an belebten touristischen Orten verboten. Für die Straßenhändler bedeuten die Auflagen das langsame Aus.
Dies ist politisch durchaus gewollt. Ihre Gegenwart passt nicht zum Image der Goldküste von Südfrankreich, die heute Millionen Euro investiert in die eigene Zukunft. 60 Millionen Euro schwer ist der jüngste Kreditfonds.
Im März 2021 haben ihn die wichtigsten Wirtschaftsakteure der französischen Riviera – die Caisse d‘Épargne Côte d’Azur, Industrie- und Handelskammer Nizza-Côte d’Azur, Gemeindeverband Nizza und die Europäische Investitionsbank (EIB) – gemeinsam aus der Taufe gehoben. Pro Jahr sollen damit zehn bis 15 Projekte im nachhaltigen und verantwortungsvollen Tourismus finanziert werden. Damit auch künftig la Côte erste Klasse bleibt.
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Liebe Hilke,
ich bin kein grosser Kommentarschreiber, aber ich muss einmal sagen, dass Ihre Fotos wirklich wunderbar und jedes Mal ein Genuss sind – von den informativen Texten ganz zu schweigen!
Bisous, Michael
Merci, cher Michael – auch solche Worte freuen mich! Bises, Hilke
Auch wenn ich mein Herz an das Périgord verloren habe, gibt es im Hinterland der Cote d’Azur traumhaft schöne Orte. Z.B. lohnt Bormes-les-Mimosas oder Collobrières immer einen Abstecher. Der Weg dort hin ist von alten Korkeichen gesäumt, die ein Verweilen verschönern
Liebe Christina, genau dort habe ich am Wegesrand Korkstücke gefunden, die nun als kleine Schale dienen! Bises, Hilke
Liebe Christina!
Auch mein Mann und ich sind oft in Bormes les Mimosas und fühlen uns in diesem Paradis unglaublich wohl und glücklich.
Sehr schön von Ihnen zu hören das es Ihnen ebenso geht.
Ganz herzliche Grüsse aus München
Und in riesiger Vorfreude auf unseren baldigen Urlaub in Bormes les Mimosas.
Ich,werde an Sie denken und einen Cup de Champagne auf Sie trinken.
Herzlichst Henriette Hildebrandt
Hallo Jürgen,
dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen! ‚Mein Frankreich‘ ist auch meine liebste Website und ich freue mich jedes Mal sehr, wenn wieder ein Beitrag in meinem E-Mail-Postfach ist. Danke Hilke!
Liebe Grüße, Christine
Wieder einmal ein wirklich toller Beitrag über „meine“ Côte d’Azur 🙂
Dieser Blog ist meine liebste Website, weil man da so schön von Frankreich träumen kann, auch wenn man mal nicht dort ist.
Danke, lieber Jürgen! Frankreich hat so viele schöne Ecken, ich könnte am liebsten nur dort immerfort reisen….! Schöne Zeit Dir! Hilke
Liebe Hilke, vielen Dank wieder für den schönen Artikel. Ich freue mich jeden Mittwoch über die bekannten und unbekannten Orte und Gegebenheiten in deinem Blog. Seit 1968 bereise ich Frankreich und lebe in der Zwischenzeit mehrere Monate im Jahr auf meinem Boot und bereise die Flüsse und Kanäle. Irgendwann werde ich auch einmal einen Beitrag schreiben über Gegenden die Du noch nicht so häufig bereist hast.
Viele Grüße
Jürgen
Lieber Jürgen, danke – da freue ich mich schon jetzt auf Deinen Bericht! Bises, Hilke