Das Cannes von Christine Cazon
„Alles, was ich beschreibe, ist dann weg.“ Immer wieder sagt Christine Cazon diesen Satz. „Alles verschwindet, was ich entdecke“. Die alte Glaserei in ihrem Viertel, die Ravioli-Manufaktur. Kirchen wandeln sich zu Schulen, andere zu Wohnraum.
Kaum hat sie etwas aufgespürt, in ihren Krimis verarbeitet, geschieht der nächste Mord. Die Abrissbirne zerstört ein Haus des alten Cannes, der nächste Bagger walzt einen Winkel von früher fort.
So sind ihre Bücher inzwischen auch Chroniken, Erinnerungen an das Cannes von einst. Sie ist keine Cannoise, keine Einheimische. Sondern ein Deutsche, die heute auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt. Und in Cannes zur Krimi-Queen der Côte d’Azur aufstieg.
„Eher per Zufall“, wie sie erzählt, wurde sie 1962 in Heidelberg mit dem bürgerlichen Namen Christiane Dreher geboren, ist sie in der Nähe von Frankfurt und Darmstadt groß geworden.
Im nahen Mainz besuchte sie die Uni, verfasste ihre Magisterarbeit in Buchwissenschaft über eine österreichische Kinderbuchautorin und Verlegerin, zog der Liebe wegen nach Göttingen, der Arbeit wegen nach München und landete schließlich als Herstellerin bei dem Verlag, bei dem sie heute als Autorin unter Vertrag steht: Kiepenheuer & Witsch (KIWI).
Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point
In den Kleinanzeigen von Schrot & Korn fand sie einen Sommerjob. In Frankreich. Dass er ihr Leben auf den Kopf stellen würde: Hat sie das vielleicht damals schon geahnt? Sie, die urbane Powerfrau, jobbte auf einem Bauernhof, packte bei allem an.
Und kündigte bei KIWI. In den Pensées von Blaise Pascal fand sie Verständnis, Erklärung und Mut. Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point – Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt. Besonders dieser Aphorismus gab ihr Vertrauen in völlige Veränderung ihres Lebens.
Der Sommer auf einem Hof im Hinterland von Nizza dauerte ein ganzes Jahr. Und endete mit einer neuen Liebe. Patrick, der eine Auberge besaß. Nun bewirtschafteten sie sie gemeinsam. Was sie so alles erlebte, veröffentlichte sie auf French Connection, einem Blog auf Brigitte.de.
Voller Begeisterung über Südfrankreich und das Landleben flott geschrieben, fiel er ihrem alten Arbeitgeber auf. KIWI packte ihre Erlebnisse in Zwischen Boule und Bettenmachen* zwischen die Buchdeckel. Nach dem Tod ihres Freundes verließ Christine die Berge, suchte sich eine kleine Wohnung in Cannes und machte Übersetzungen.
Ihr erster Auftraggeber wurde ihr heutiger Mann: Monsieur Cazon. Und wieder kam KIWI auf sie zu: „Wollen Sie nicht eine Krimireihe aus Südfrankreich verfassen?“ Christine fand die Idee reizvoll – und lässt seitdem Commissaire Léon Duval die Verbrechen an der Côte d’Azur aufklären.
Dabei fällt sie angenehm aus der Riege der Klischeeschreibern von Regionalkrimis heraus. „Ich sehe Südfrankreich realistischer und weniger sehnsuchtsvoll, da ich hier lebe“, sagt die Deutschfranzösin. Sie zeigt mir Berge von Unterlagen. „Für jeden Krimi lege ich Recherchemappen an. Sie werden immer dicker!“
Immobilienhaie, fliegende Händler, Drogendealer, Jachtbesitzer, Fischer und im fünften Krimi sogar Wölfe: Was Südfrankreich gesellschaftliche Spannungen beschert, sorgt für Nervenkitzel in ihren Krimis.
Das andere Cannes
Einen Nachmittag lang will mir Christine Cazon das andere Cannes jenseits des Glanz und Glamour der Croisette zeigen, jenes Cannes, das die Schnellstraße vom touristischen Trubel trennt. Ein Cannes, oft kleinbürgerlich, mitunter sogar dörflich, das sich zwischen kastigen Klötzen versteckt.
Das Cannes der Cannois, die – wie sie – montags zur Markthalle von Forville pilgern, um in Erinnerungen zu stöbern, alten Postkarten, Porzellan von einst zu bestaunen, Großvaters Mützen, Großmutters Mode, Urgroßmutters Möbel zu Preisen von heute.
Christine Cazon stöbert am liebsten in alten Postkarten, auf denen noch bunte pointus, Fischerboote, die weite Bucht bevölkern, Damen mit Spitzenschirmchen und Reifrock mit Krinoline flanieren und noch keine Grand Hôtels die Croisette säumten.
Dienstag bis Sonntag weichen Tand und Trödel einem üppigen Obst-, Blumen- und Gemüsemarkt. Dort decken sich die Cannois mit frischen Lebensmitteln ein. Und frischem Fisch aus dem lokalen Fang.
Das Brot zum Essen holt Christiane bei einem Drive-In-Boulanger. „Unzählige Bäckereien wurden inzwischen in aufgegebenen Tankstellen eingerichtet. Das lieben die Franzosen. Bis vor die Tür mit dem Auto fahren, ihr pain holen und dann weiter.“
Ihre Apotheke, ihre Postfiliale, und alles, was sie für den täglichen Bedarf benötigt, findet sie in ihrem Viertel, und oft sogar direkt an ihrer Straße. Doch ihr Metzger Boucherie La Belle Aurore Chez Fred ist inzwischen auch verschwunden.
Ist sie zu Fuß unterwegs, nimmt sie die Abkürzungen à la Cannes: Treppenwege wie den Escalier Continental, an deren Stufen im Februar die Mandelbäume blühen.
Unter Einheimischen
Auch das neue Lieblingslokal des Commissaire Duval Le fou de la reine liegt hier, der Hofnarr der Königin. „Es ist kein Bling-Bling-Lokal, sondern total bodenständig, einfach, mit großen Portionen grundsolider Küche. Hier sind nur Einheimische, Arbeiter, ist Cannes wie ein Dorf.“
Und ist neben Treppenwegen auch durchzogen von Schleichwegen. Einer führt hinüber zu La Croix des Gardes. Im Februar gleicht der ausgedehnte Naturpark auf einem Hügel einem Mimosen-Urwald.
Das restliche Jahr lockt eher der Blick aufs Meer die Einheimischen an, die hier ihre Hunde ausführen. Christine Cazon lässt hier ihren Commissaire joggen.
Ob er dabei auf den Friedhof Le Grand Jas blickt, gleich gegenüber, wo Klaus Mann sein einsames Grab gefunden hat? Zur Beerdigung sei die Familie nicht erschienen, erzählt Cristine. „Klaus war Stammkunde in der Zanzibar, einer legendären Schwulenbar von Cannes, der ersten Europas“.
Durch das République-Viertel, wo Teestuben die Nähe zum Maghreb verraten, Jugendliche herumlungern, Nordafrikaner dealen, Arabisch die Landessprache scheint, kurvt Christine durch enge Gassen, die auf und ab die Hügel erobern, zurück Richtung Meer, hin zur Pointe de la Croisette.
Die Wiege der Croisette
Ein Kreuz auf einer Stele, geschützt von einem Oratoire, einem Gedenkstein. Eine Bank, Kiesel, der Blick zur Île Sainte-Marguerite, zur rechten eine Ikone von Cannes: das Palm Beach Casino von 1929, eine Theaterkulisse im Art-Déco-Prunk.
Lange Zeit verlassen und heruntergekommen, erwachte sie die Bauruine inzwischen wieder zu neuem Leben.
Nur um Haaresbreite entging sie dem Schicksal vieler anderer Orte, die Christine Cazon in ihre Krimis aufgenommen hat: Sie wurden geschlossen. Zunächst vom Abriss gefährdet, hat sich das Schicksal des legendären Gebäudekomplexes jedoch gewendet.
„Eine neue Zukunft für das Kasino…“ schreibt Nice-Matin. Christine holt die Ausgabe vom März 2018 aus einer Mappe hervor. Als Christine mich im Winter 2020 dorthin führte, wurde bereits gehämmert, aus- und umgebaut.
Als Luxus-Resort ohne Spielcasino wird das Haus der neue Stern an der Felsspitze der Bucht von Cannes, aufgebaut im Stil des ersten (legendären) Palm Beach Clubs.
In dem Gebäudekomplex befindet sich bereits der zur Zeit sehr angesagte Gotha Club – jünger und mehr sexy als das Baoli. Während des Filmfestivals 2023 tanzte auch Leonardo di Caprio im Gotha Club.
Gegenüber des Casinos baute ein Scheich einst sein mehrstöckiges Ferienhaus. Er plante, einen unterirdischen, privaten Zugang dorthin graben lassen. Die Kommune sagte Nein. Der Scheich meidet seitdem gekränkt die Stadt. Sein XXL-Haus steht seither leer.
Und sie erzählt von der Bergbahn, die sich als einzige der Küste hinauf schwang zur Hügelspitze über La Californie, dem Villenviertel der Superreichen. Bis 1966. Dann fiel sie wegen Unrentabilität in einen Dornröschenschlaf, bis sie 1989 wiederum von einem Scheich gekauft wurde.
Tausende solcher Geschichten kennte Christine aus Cannes. Sie schnappt sich den Wagenschlüssel und saust mit ihrem hellblauen Toyota hin zum nächsten vergessenen Viertel: Le Moure Rouge. Fischer hatten hier einst ihre Katen. Inzwischen wurden sie fast vollständig von uniformen Zweitwohnsitzwohnblöcken ersetzt. Quadratisch, praktisch, teuer.
Legendärer Boule-Platz
Henri Salvador hat auf der Place de l’Étang die Boules gelegt. Der sandige Kugelspielplatz gehört zu den letzten Winkeln, die den Hunger der Immobilienhaie überlebt hat. An einer Ecke liegt Fred L’Écailler.
Christine hat ihn im zweiten Duval-Krimi verewigt: ein Fischer, der mit seinem Restaurant Stammgäste begeistert. Und Christine enttäuscht hat. So wie Commissaire Duval, der sein „absolutes“ Lieblingsrestaurant in Théoule-sur-Mer gefunden hat. Wie auch Christine Cazon.
Langsam senkt sich der Abend über den Strand von Moure Rouge. Im Winter versteckt sich der letzte Naturstrand von Cannes unter dicken Algenbergen. Gischt spritzt auf die Straße. Die Croisette beginnt zu leuchten.
„Lust auf einen Apéro?“ Ich nicke, freue mich über den göttlichen Vin Orange, der hausgemacht ist. Und staune über die mehr als 5000 Krimis, die ihr Mann Thierry sammelt. Christine hat im Parterre ihr Paradies.
Die Erdgeschosswohnung im Altbau mit Blick auf den Vorgarten ist eine inspirierende Schreibstube. Voller Bücher, Erinnerungen, Sprüchekarten und dicken Mappen mit Material für neue Krimis. Alljährlich im Frühjahr erscheint der nächste Band ihrer Krimireihe.
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Im Blog
Ihr Frankreich und ihre Bücher: Noch mehr zu Christine Cazon findet ihr hier im Blog!
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liebe Frau Gazon,
mein Mann und ich sind grosse Fans Ihrer Bücher. Wir haben uns vor 2 Jahren ein Haus bei Vidauban gekauft, 60 km von Cannes entfernt. Ihre Bücher benutzen wir unter anderem als Reiseführer und kommen aus dem Staunen nicht heraus. Wir danken Ihnen für Ihre wunderschönen Bücher.
Mit herzlichen Grüssen
Christiane aus Berlin und Vidauban
Das war jetzt aber ein herrlicher Artikel. Ich habe bis jetzt alle Duvalkrimis gelsen und werde mir gleich Nummer 7 bestellen. Danke auch für die wunderbaren Bilder.
Auch Nummer sieben ist klasse, liebe Christiane. Viel Spaß beim Lesen!!
Ich liebe ihre Bücher! Hab die Krimis verschlungen!!
Christine Cazone schreibt tol!. Ich habe jetzt noch eine deutsche Autorin entdeckt, die ebenfalls in Frankreich lebt: Anne Chaplet aka Cora Stephan. Hab gerade „In tiefen Schluchten“ verschlungen!
Salut Hilke, vielen Dank für den Ausflug in ein mir unbekanntes Cannes und den Rundgang mit Christine Cazon. Das war sehr „spannend“ und macht Lust auf die Krimis von ihr. Ich werde wohl mit dem neuesten Werk von Christine und Monsieur Duval beginnen, das Thema spricht mich aktuell besonders an. Merci, Claudia
Liebe Claudine, das freut mich! Und las mal hören, wie Dir der Band gefallen hat! Bises, Hilke