Atomkraft? Mais oui! Frankreichs Energiewende
Atomkraft, mais oui ! Die Energiewende in Frankreich verläuft so ganz anders als in Deutschland. Die wichtigsten Unterschiede, Strategien und Macrons Neubewertung von Atomkraft stelle ich euch hier kompakt vor.
Der Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sondern beleuchtet streiflichtartig die wichtigsten Punkte. Ich freue mich auf eure Ergänzungen und Kommentare! Bitte achtet auf die Netiquette. Merci !
Völlig anders strukturiert
Frankreich besitzt ein völlig anders strukturiertes Strom- und Energiesystem als Deutschland. Als Zentralstaat plant das Land zentral die essenziellen Infrastrukturprojekte. Es setzt dabei auf Großprojekte, während Deutschland dezentrale Initiativen und das Engagement der Zivilgesellschaft fördert.
Dem deutschen Strommarkt mit mehr als 800 Stromversorgern steht ein französisches Staatsunternehmen (EDF) mit wenig Konkurrenz gegenüber.
Vollständige Verstaatlichung
Der französische Staat ist direkt mit 84 Prozent am größten französischen Energieversorger EDF (Électricité de France) beteiligt und hat angekündigt, auch die restlichen 16 Prozent für 9,7 Milliarden Euro aufzukaufen.
Dazu hat dieser ein vereinfachtes öffentliches Übernahmeangebot eingereicht. Es markiert den ersten Schritt, um EDF von der Börse zu nehmen.
Heizen und kühlen mit Strom
Strom hat zudem einen ganz anderen Stellenwert in Frankreich. Das Land heizt mit Strom. Im Sommer drehen sich – vor allem im Süden – die Klimaanlagen. Anstiege bei den Strompreisen wirken sich – viel stärker als in Deutschland – direkt auf den Alltag der Menschen aus.
Zum Alltag in Frankreich gehören auch die alljährlichen winterlichen Energieeinsparungen. Sie sind nicht nur bei privaten Haushalten, sondern auch bei Unternehmen geübt.
Zahlreiche Unternehmen fahren dann freiwillig Lasten herunter und erhalten dafür eine Entschädigung. Dieser eingeübte Weg hilft, Stromspitzen abzufedern im Winter.
Staatliche Strompreise
Wie hoch der Strompreis der EDF ist, legt der Staat fest. Die Tarife der wenigen freien Anbieter wie Engie schwanken. Sie sind teilweise teurer, teilweise günstiger als die EDF. Für einkommensschwache Bürger gibt es einen Sozialtarif. Der Vertragsnachweis von EDF dient – ähnlich wie die Handyrechnung – als Wohnsitznachweis.
Gedeckelte Strom- und Gaspreise
Im Herbst 2022 sind die Strompreise auch in Frankreich stark gestiegen. Flugs sprang 2022 der Staat mit rund 16 Milliarden Euro ein, um die Differenz zwischen den gedeckelten Verbraucherpreisen und den Großmarktpreisen zu decken.
Seit knapp einem Jahr ist bereits der Gaspreis in Frankreich auf dem Stand von Oktober 2021 eingefroren. Der Strompreis wurde bei einer Steigerung von vier Prozent gedeckelt. Das gilt nicht nur für private Haushalte, sondern auch für kleine Unternehmen. Auch 2023 soll die staatliche Preisbremse greifen.
Energie sparen!
Die Devise der Stunde lautet: Energie sparen! Dazu läuft seit Herbst 2022 eine große Aufklärungskampagne. Die Kampagne zum plan de sobriété énergétique ist gekoppelt an ein Maßnahmenpaket für private Haushalte, Staatsbetriebe und die Privatwirtschaft. Im Vergleich zu 2019 soll der Energieverbrauch in diesem Winter um zehn Prozent sinken.
Die große Energiesparkampagne hat in Frankreich zu einer Art Öko-Klassenkampf geführt. Die Superreichen werden darin als Klimakiller gebrandmarkt. Diskutiert wird unter anderem, die Nutzung von Privatjets zu regulieren. Auch die Senkung der Stromintensität im Netz steht zur Disposition.
Kernkraftgestützte Energiewende
Hauptstromlieferanten in Frankreich sind Atomkraftwerke und große Wasserkraftwerke. Angesichts massiver Probleme mit seinen Atomkraftwerken muss Frankreich derzeit massiv Strom einkaufen, und das doppelt so teuer wie Deutschland. Nur der staatliche Preisdeckel verhindert, dass die Endverbraucher dies bereits spüren.
Während Deutschland dabei auf einen Atomausstieg setzt, propagiert Frankreich eine kernkraftgestützte transition écologique. Die Erneuerbaren Energien dienen dabei als Brückentechnologie.
Weltweite Nummer eins bei Atomkraft
Kein Land der Welt deckt seinen Strombedarf so sehr aus Atomkraft wie Frankreich. 70,7 Prozent stellt die Kernenergie am französischen Energiemix. Belgien folgt auf Platz sechs im globalen Ranking. Der Anteil ist seit dem Jahr 2000 unverändert. Und soll in Zukunft noch weiter steigen.
71 Atomkraftwerke stehen im Land. Aktiv sind jedoch nur 56 nukleare Reaktoren mit einer Kapazität von 61.370 MW, so die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA), einsatzbereit nur 28… Ein Reaktor befindet sich derzeit im Bau. 14 Reaktoren sind dauerhaft abgeschaltet.
Symbol der Souveränität
In Frankreich genießt die Atom- oder Kernkraft eine viel höhere Akzeptanz als in Deutschland. Das ist historisch bedingt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Charles de Gaulle den Ausbau dieser Technologie massiv vorangetrieben.
Sie war für ihn Symbol für die Unabhängigkeit Frankreichs – auch militärisch. Heute steht die Rückkehr der Atomkraft für die „Souveränität der Energieversorgung“, so Macron.
Vom Ausstieg zu „Neu Erfinden“
Als Präsident Emmanuel Macron im Jahr 2017 seine erste Amtszeit antrat, wollte er zunächst unter dem Eindruck der nuklearen Katastrophen der jüngsten Jahre einige Meiler bis 2025 vom Netz nehmen und den Anteil von Atomstrom verringen. Noch im selben Jahr ruderte die Regierung zurück und verschob dies auf 2035. Das Argument: Ohne Kernkraft sei bis 2050 keine CO₂-Neutralität zu erreichen.
Im Oktober 2021 stellte Macron seinen 30 Milliarden Euro schweren Investitionsplan 2030 für Innovation und Forschung vor. Darin propagierte er, die Atomkraft neu zu erfinden. Dafür gehören für ihn weniger Atommüll, eine verbesserte Weiterverarbeitung sowie neue, modernere Atomkraftwerke. Als wichtiger Baustein zur CO₂-Neutralität will Frankreich zudem von der EU seine Investitionen in die Kernenergie als „grüne Investitionen“ anerkannt sehen. 50 Milliarden Euro investiert Frankreich in die Renaissance der Nuklearenergie.
Massive Probleme mit alten Meilern
Heute steht Frankreichs Atomindustrie vor massiven Problemen. Dies zeigte sich besonders im Hitzesommer 2022. Rund die Hälfte der alten Atomkraftwerke hat Wartungsprobleme und/oder Korrosionsschäden.
Während der Hitzewellen des Sommer 2022 musste zudem die Produktion gedrosselt werden, weil die Entnahme und Rückführung von Kühlwasser in die Flüsse nicht mehr möglich war.
Anhand dieser Probleme muss EDF die Produktion immer weiter reduzieren. Die derzeitige Leistung von 61 Gigawatt entspricht nur 55 bis 60 Prozent der Kapazität, während bei normaler Funktion 80 Prozent erreicht werden, so Yves Marignac von der Umwelt-Organisation négaWatt. EDF hat daher bereits seine Prognose der Jahresproduktion von 330 bis 360 auf 295 bis 315 Terawattstunden nach unten korrigiert.
Längere Laufzeiten
Ein Großteil der 56 AKW steht in Frankreich vor dem Ende der 40-jährigen Betriebszeit. Im Zuge der Energiewende verlängerte Frankreich die Laufzeit seiner Atommeiler auf 50 Jahre. Die Bedingung: umfangreiche Sanierungen bei den bestehenden Meilern.
Sechs neue Druckwasserreaktoren
Bis 2050 sollen zudem neue Kernkraftwerke errichtet werden. Als Großprojekte sind sechs European Pressurized Reactors (EPRs) in Planung. Weitere acht Bauvorhaben werden geprüft. 2028 soll Baubeginn sein, 2035 der erste neue Meiler Strom erzeugen.
Fertiggestellt werden soll nun auch endlich der Meiler Flamanville 3. Der Druckwasserreaktor mit einer Leistung von 1.650 MW sollte ursprünglich schon 2012 ans Netz gehen. Die Baukosten sind mittlerweile von 3,3 Milliarden Euro auf 12,4 Milliarden Euro explodiert.
Das AKW Flamanville könnt ihr besichtigen. Eine E-Mail an visiteredf-flamanville@edf.fr oder eine Voranmeldung unter Telefon 02 33 78 70 17 genügen.
Neue Mini-Reaktoren
Eine Milliarde Euro sollen aus dem Investionsprogramm in die Erforschung und Nutzbarmachung kleiner Mini-Reaktoren fließen. Diese Small Modular Reactors (SMR) sollen – ähnlich wie die Gas- und Kohlekraftwerke – mit ihrer Leistung von <300 MW die schwankende Verfügbarkeit von Wind- und Sonnenenergie ausgleichen. So sollen Stromfresser wie Landwirtschaft, Transport und Schwerindustrie kostengünstig und sauber Energie erhalten.
Jobmotor für Grand Est
Arabelle heißt die Turbine, die für die neuen Kernkraftwerke bestimmt ist. Sie soll künftig bei General Eletric in Belfort gebaut werden. EDF hat bereits die Turbinenproduktion GE Steam Power vom US-Unternehmen GE zurückgekauft. Wir erinnern uns: Als Macron noch Wirtschaftsminister gewesen war, hatte er gegen den Einspruch der Opposition den Verkauf der Energiesparte von Alstom an GE genehmigt.
Bei einem Diskussionsabend, der Mitte November 2022 in Belfort stattfand, schätzte Hervé Maillart als Vertreter der Atomindustrie, dass bis 2030 etwa 300 000 Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, bei einem Rhythmus von 10.000 bis 15-000 Neueinstellungen pro Jahr.
Zweites Leben für alte Brennstäbe
Um seinen Atommüll zu verringern, will Frankreich seinen Brennstäben ein zweites Leben verleihen. Dazu arbeitet es an einem EU-Forschungsprojekt mit.
Sein Ziel: in neuartigen Reaktoren der vierten Generation künftig gebrauchte Brennstoffe durch Beschuss mit Neutronen zu spalten. Dabei soll Energie gewonnen und die Halbwertszeit der radioaktiven Isotope von einigen Millionen auf einige hundert Jahre verringert werden. Eine erste Testanlage soll dazu in Belgien entstehen.
Wohin mit dem Atommüll?
Kein Land in Europa produziert so viel Atommüll wie Frankreich. Zwar unterhält das Land auf der normannischen Halbinsel Cotentin die Wiederaufbereitungsanlage La Hague, doch damit ist das Problem nicht gelöst.
Wie Greenpeace 2021 aufdeckte, entsorgt Frankreich daher seinen Uranmüll auch gerne in Russland. Von Le Havre bringt ein Atomschiff den strahlenden Abfall nach Ust-Luga bei St. Petersburg.
Im Januar und Februar 2021 beispielsweise wurden mehrere Dutzend Tonnen Uran an Bord des Schiffes Kapitän Lomonosov nach St. Petersburg verschifft.
Bereits 1991 hatte das französische Parlament ein Gesetz zur Endlagersuche beschlossen. Seit 1998 wird in einem Untertagelabor in Bure bei Nancy die Einlagerung in Tonschichten getestet und erforscht.
Ein neues Endlager
Die Ergebnisse waren so vielversprechend, dass die Regierung den Bau eines Endlagers nördlich des Untertagelabors bekannt gab. 25 Milliarden Euro soll seine Anlage kosten. 2025 soll die Pilotphase, zehn Jahre später der Regelbetrieb erfolgen.
80.000 Kubikmeter Atommüll an wiederaufbereiteten Brennelementen sollen dann in Stahlbehältern in 500 Meter Tiefe in einer Tonschicht gelagert werden. Zwar entspricht dies nur 0,2 Prozent der Masse des französischen Atommülls, aber aufgrund der hoch radioaktiven Elemente 98 Prozent der gesamten Radioaktivität.
Informieren
Bereits 2006 gründeten Deutschland und Frankreich das Deutsch-Französische Büro für die Energiewende. Sein Direktor Sven Rösner erhielt für sein starkes Engagement 2022 einen Verdienstorden (ordre de merit). Das Büro veranstaltet zur Energiewende zahlreiche Veranstaltungen sowie Webinare.
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