Flavie Vincent-Petit: die Retterin der Glasfenster
Flavia Vincent-Petit
Das Département Aube in der südlichen Champagne ist das Land der Kirchenfenster. 9.000 Quadratmeter nehmen dort die bemalten vitraux aus dem 13. bis 19. Jahrhundert ein.
Nirgendwo in Frankreich sind mehr zu sehen. Allein die Kathedrale Saint-Pierre-et-Saint-Paul in Troyes schmückten leuchtende Glasfenster auf 1500 Quadratmetern!
Ihr Blütezeit erlebte die Glasmalerei im Belle Seizième. Ihre Hauptstadt wurde Troyes, wo zwischen 1480 und 1580 nicht weniger als 29 Glasmaler wirkten. Sie verwandelten die großen Fenster der gotischen Kirchen in farbig leuchtende Bilderbücher der Bibel. Und verzierten Stadtpalais aus Stein mit kleinen Fensterbildern, die Wappen, Stadtansichten, Berufe, Portraits, Blumen, Tiere oder Allegorien zeigten.
Ihr Erbe führt heute in Troyes die Glaskunstmeisterin Flavie Serrière Vincent-Petitfort. Sie restauriert die historischen Meisterwerke – und belebt die alte Kunst kreativ.
Akribisch wie ein Präzisionsuhrmacher geht sie dabei ans Werk. Sie verwendet Materialien und Techniken wie einst. So erweckt sie alte Glasmalereien wieder zum Leben. Und das seit 1998.
Ihre Leidenschaft für Kunst und Geschichte, gepaart mit einer innigen Liebe zu Glas, führte die Restaurierung auch zur Glasgestaltung. Bei einem renommierten Restaurator wurde sie zu einer inspirierten Designerin.
Eine der Retterinnen von Notre-Dame de Paris
Jetzt gehört die renommierte Kunsthandwerkerin aus Troyes zu dem kleinen, feinen Kreis jener Experten, die die Glasfenster von Notre-Dame de Paris nach dem großen Brand vom April 2019 retten. Die enorme Hitzeentwicklung während des Brandes führte zu einer starken thermischen Belastung der Fenster. Viele Glasscheiben barsten oder wurden verzogen.
Zudem lagerte sich eine dicke Rußschicht auf den Fenstern ab, die die Farbigkeit und Transparenz beeinträchtigte. Durch herabfallende Trümmer und das Zusammenspiel von Hitze und Kälte entstanden mechanische Schäden an den Fenstern. Bleibandungen wurden gerissen und einzelne Glasscheiben lösten sich. Das Löschwasser und die hohe Luftfeuchtigkeit während der Löscharbeiten führten zu weiteren Schäden an den Fenstern. Salze und andere Verunreinigungen setzten sich ab und verursachten Korrosion an den Bleibandungen.
Neben Flavia Vincent-Petit und ihrem Team sind zahlreiche weitere Experten an der Restaurierung beteiligt, darunter diie Kölner Dombauhütte. Sie hat eine lange Tradition in der Restaurierung von Glasfenstern und ist für die Restaurierung von gleich mehreren Notre-Dame-Fenster verantwortlich.
Der lange Weg zur Expertin
Flavie ist ein Kind der Region. 1973 erblickte sie in Troyes das Licht der Welt und ging als pensionnaire mit 14 Jahren nach Paris, um am Lycée Notre Dame de Sion ihr Baccalaureat (=Abi) zu machen. Schon damals interessierte sie sich für mittelalterliche Geschichte. Und das Geheimnis der leuchtenden Glasfenster.
Was folgte, war ein beeindruckender Bildungsmarathon. 15 Jahre dauerte er – und endete mit drei Master-Abschlüssen. Der erste: ein Master in Mittelalterlicher Geschichte nach dem Studium des Faches Maitrise d’Histoire an der Université Paris X – Nanterre.
Danach ließ sich Flavie als erste weibliche Studierende des Fachs Conservation Restauration des Biens Culturels an der Université Paris 1 – Panthéon Sorbonne als Restauratorin ausbilden – und damit an einer Hochschule, die erst in ihrem Geburtsjahr gegründet worden war.
Danach zog es Flavie nach Nancy. In der Hauptstadt des Jugendstils studierte sie Glas, Design und Architektur an der École nationale supérieure d’architecture de Nancy und machte 2010 den Master-Abschluss Nummer drei.
Handwerk & Wissenschaft verbinden
Doch all das akademische Wissen reichten Flavie nicht. „Ich wollte Werkstatt und Uni, Handwerk und Wissenschaft verbinden und praktisch wissen, wie sich Glas verändert“, erzählt sie und schiebt ein Werkstück in den Ofen. 620-650 Grad Celsius ist er heiß, und damit deutlich kühler, als ich gedacht hatte.
Dann legt Flavie den Arm auf eine lange Holzleiste, die an beiden Enden auf 5 cm hohen Holzkeilen ruht. Auf ihr lagert Flavies Arm, während sie mit feinen Pinselstrichen die Farbe aufträgt. Und dabei weiter von ihrem Werdegang erzählt.
„Schon während des Studium begann ich, in Troyes bei Glasmaler André Vinum zu erarbeiten. Ab 1997 lernte ich dort die Glasmalerei – so, wie André es einst auch von seinem Vater gelernt hatte.“ Heute arbeitet sie eng mit Andrés Sohn Alain zusammen, der die Glasmalertradition der Familie weiter fortführt.
Altes Glas, neue Kreation
Mit ihrem Mann wagte sie 2012 den Sprung in die Selbstständigkeit, kaufte ein ehemaliges Metallwerk und gründete ihre eigene Werkstatt. Hier entwirft sie neue Glasfenster – und restauriert historische Fensterbilder. Dank ihres Können erstrahlen in den Kathedralen von Troyes, Metz und Strasbourg die alten Glasfenster wieder in neuem Glanz.
Restaurieren und neu entwerfen: Da nährt das eine das andere, und zwar in beide Richtungen. Wenn man ein Kirchenfenster restauriert, steht man wirklich im Dienst eines alten Werks, um ihm eine Lesbarkeit zurück zu geben und dabei seine Authentizität zu wahren. Es ist ein sehr ruhiger, meditativer Moment. Wenn man etwas kreiert, dann ist das viel stressiger, man geht ein Risiko ein. Meine Kreation wird sehr vom alten Kirchenfenster inspiriert; sie ist in einer technischen und ikonografischen Vergangenheit verankert, allerdings völlig neu interpretiert. Das alte Kirchenfenster ist eine meiner kreativen Triebfedern.
Flavie Vincent-Petit
Für den Chor der Kirche von Serqueux schuf sie neue Glasfenster in sanften Gelbtönen, für die Kirche von Fey-en-Haye eine Welle des Schocks, die an den Ersten Weltkrieg (1914-1918) erinnert. Auch für ein ehemaliges Kloster in Paris (15. Arr.), das VINCI in ein Wohngebäude verwandelt, hat sie die Fensterbilder geschaffen.
Je nach Projekt unterstützen sie 18-20 Mitarbeiter. Sie kommen nicht nur aus Frankreich, sondern aus aller Welt. So wie Rose.
Die US-Amerikanerin lernt bei Flavie hands-on, was amerikanische Schulen ihr nicht vermitteln konnten. „Aus Mangel an echtem historischen Material“, lacht Rose und fügt altes Glas in einen Rahmen aus Blei ein.
Glasmalerei in Frankreich: ein kleiner Exkurs
Bleiglasfenster
Im Mittelalter machte Blei das Bild. Denn das Einfassen von Flachglas mit Bleiruten, deren Kanten verlötet wurden, war damals die einzige Möglichkeit, große Glasflächen herzustellen.
Für die Bildfenster der Gotik wurden so unterschiedlich gefärbte Glasflächen miteinander verbunden. Um Konturen und Schattenwirkungen zu erzielen, wurden die Scherben mit Schwarzlot bearbeitet.
Hergestellt wurde das mittelalterliche Glas aus Buchenholz- oder Pottasche und Sand, die im Verhältnis 2:1 bei 1500 Grad Celsius miteinander verschmolzen wurde. Dieses Glas war nahezu klar. Farbig wurde es durch die Zugabe von Metalloxiden, in Form gebracht durch Absprengen mit einem heißen Eisen.
Grisailles
Keine Farben! Keine biblischen Figuren! Und keine Kreuze! All dies war den Zisterziensermönchen verboten. So entwickelten die Mönche des Mittelalters einen ganz eigenen Stil und brannten als Farbe Schwarzlot in das drei bis vier Zentimeter dicke Glas. Mit der Grisailles-Technik schufen sie Fensterbilder in Grau, Weiß und Schwarz, später auch mit Brauntönen (Brunaille) und Grüntönen (Verdaille). Flechtbandmuster und Blattornamente prägten die Fenster.
Grisailles-Fenster findet ihr heute u.a. hier:
• Kölner Dom
• Kathedrale von Bourges
• Kathedrale von Chartres
• Kathedrale von Tournai
Jaune d’Argent
Bis ins 14. Jahrhundert dominierten bei den Glasfenstern zwei Farben: der Lokalton und das Schwarzlot. Im 14. Jahrhundert gesellte sich immer mehr als Auftragfarbe das Jaune d’Argent, das Silbergelb, hinzu.
Als Pulver, gemischt mit Lehm oder Ocker, trugen die Glasmaler Schwefelsilber auf die Scherbe, brannten sie, und freuten sich, dass die Glut das Gemisch in intensive Gelbtöne verwandelte.
Je nach Dicke des Glases und Dauer im Feuer leuchteten sie mal feurig gelborange, dann sonnengelb oder ganz zart zitronengelb. Die neue Gelb bescherte nicht nur himmlisches Licht, sondern war für die Ewigkeit gemacht. Da es eingebrannt war im Glas, konnten Wind und Wetter ihm nichts anhaben. Daher wurde Silbergelb gerne zur Außenseite aufgetragen.
Gotische Fensterkunst
Immer größter, immer farbiger wurden die Fenster zur Gotik und wandelten sich zu farbigen Wänden aus Glas, die den Gläubigen belehrten. Christus mit seinen Vorfahren, Geschichten und Personen des Alten und Neuen Testaments, Heiligenlegenden und Heiligenfiguren verwandeln die Fenster in himmlische leuchtende Bilderbücher der Erbauung und Belehrung.
Der Raum zwischen den senkrechten Stäben, den Pfosten und Sprossen gab genug Raum für große figürliche Darstellungen, das Maßwerk für ornamentalen Schmuck: himmlisch leuchtende Fensterrosetten.
• Kathedrale von Chartres
• Kathedrale von Reims
• Sainte-Chapelle in Paris
• Strasburger Münster (P. Hemmel von Andlau)
Zur bahnbrechenden Erfindung für die Farbigkeit der Fenster wurde das Überfangglas. Zunächst wurde es nur mit Eisenrot hergestellt.
Dazu wurde die Farbe auf eine klare Glasplatte aufgeschmolzen und durch Ritzen oder Ausschleifen wieder hervorgeholt.
Gemeinsam mit Schwarzlot und Jaune d’Argent konnten so erstmals vier Farben auf einer Glasscherbe vereint werden. Jaune d’Argent auf einer blauen Glasplatte erzeugte Grün.
Profane Fensterkunst
Neben den Kirchen sorgten auch bürgerliche Bauten für gefüllte Auftragsbücher bei den Glasmachern. Rathäuser, Zunftsäle, Schlösser und Stadtpalais wünschten sich schmückende Scheiben.
Wappen, Berufe, Stifter und Schutzheilige zierten die gemalten Fenster, aber auch Nymphen, Fabelwesen und wilde Kerle. Auch Ölgemälde wurden auf die Fenster übertragen.
Niedergang und neue Blüte
Die französische Aufklärung verabscheute die farbigen Verglasungen der Gotik. Im Siècle des Lumières waren Innenräume, die eingehüllt waren in dämmriges Licht, verpönt. Man wollte Klarheit. Auch in der Kirche.
Jean Godinot, Kanoniker der Kathedrale von Reims, ließ daher in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die farbigen Fenster des Erdgeschosses durch Blankverglasung ersetzen.
Auch der Protestantismus beförderte den Niedergang der Glasmalerei. Ging ein Glasfenster kaputt, flickte man es mit weißer Gaze oder schlichtem Glas. Modern wurde stattdessen die Malerei hinter Glas als Schmuck für Möbel oder Wanddekorationen.
Erst im 19. Jahrhundert, als man das Mittelalter romantisch verklärte und neogotisch zu bauen begann, erlebte auch die Glasmalerei wieder eine neue Blüte. Der Jugendstil schafft eine neue Formensprache, und Künstler wie Marc Chagall lassen in Kathedralen und Kirchen wieder die Fenster farbig leuchten.
Neue Glaskunst von heute
Und auch in Troyes könnt ihr neue Glaskunst bewundern. Dort hat Flavie Vincent-Petit für den Verwaltungssitz des Départements Aube eine Technik des 16. Jahrhunderts in 20. Jahrhundert transportiert und Glasfenster geschaffen, die nach innen eine andere Optik zeigen als nach außen: zartbunte Pollen hinter hellen Wellen.
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Les Triomphes de Petrarque*
In der Kirche von Ervy-le-Châtel in Aube erzählen ein Buntglasfenster vom Triumph Petrarcas. In diesem allegorischen Gedicht erzählt der italienische Dichter von einer Liebe zu Laura und dem Schmerz seiner Liebe. Dabei beschwört er viele historische, mythologische und religiöse Figuren. Das zweisprachige Mammutwerk (französisch-italienisch) präsentiert das Gedicht im Umfeld des frisch restaurierten Glasfensters.
130 Illustrationen lassen es im Buch leuchten und heben Details hervor, die ihr vielleicht sonst nicht bemerkt hättet. Sie machen das Buch von Paule Amblard (Kunsthistoriker), Jean-Yves Masson (Übersetzer, Dichter und Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Sorbonne) und der Restauratorin Flavie Vincent-Petit zu einem Gesamtkunstwerk. Leider arg teuer… Wer mag, kann das Buch hier* bestellen.
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Offenlegung
Die Werkstatt der Glasmacherin lässt sich nicht besichtigen. Umso mehr freut es mich, dass ich für euch einen Blick hinter die Kulissen werfen durfte. Merci, Flavie!
Merci!
oh, danke, gerne geschehen!
Hallo Karl, Flavie Vincent-Petit arbeitet eng mit dem Kölner Dombaumeister zusammen. Deutschland will Geld und Know-how beisteuern.