Das Rathaus von Hesdin mit seiner bretèche Foto: Hilke Maunder
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Hesdin: das Tor zu den 7 Tälern

Hesdin. Kaum ein Reiseführer nennt dieses Städtchen in Hauts-de-France. Auf halbem Weg zwischen Amiens und Calais, rund 40  Kilometer von den Stränden der Opalküste entfernt, versteckt es sich – als Tour zu den sept vallées, der sieben Täler.

Sieben Flüsse gaben diesem bäuerlichen, nur wenig gewellten Landstrich seinen Namen: die Canche und ihre Nebenflüsse Authie, Ternoise, Planquette, Créquoise, Bras de Bronne und Embrienne.

Dünner als sonst ist besiedelt ist die „grüne Lunge des Pas-de-Calais“, und selbst in seiner Hauptstadt Hesdin leben nicht gerade mal 2.700 Einwohner.

Hesdin, eine charmante Kleinstadt im Herzen der sieben Täler. Foto: Hilke Maunder
Hesdin, eine charmante Kleinstadt im Herzen der sieben Täler. Foto: Hilke Maunder

Hesdin: Das könnt ihr erleben

Hesdin ist ein Agrarmarktzentrum mit Gerberei- und Strumpfwarenindustrie und einer jener Orte, die ein wenig abseits liegen. Und gerade dies macht den Charm von Hesdin aus. Die Stadt ist gerade deshalb herrlich ursprünglich und authentisch geblieben, stolz auf das Erbe. Und engagiert, hier und heute das Leben für alle ein wenig besser zu machen.

Hesdin wurde 1554 vom Heiligen Römischen Kaiser Karl V. gegründet und ist als Geburtsort des französischen Mathematikers und Astronomen Joseph Jérôme Lefrançois de Lalande aus dem 18. Jahrhundert bekannt.

Heimat von Abbé Prevost

Die Kassen sind knapp, Ideen und Tatendrang groß. Das bewies bereits vor mehr fast 330 Jahren Antoine-François Prévost. Am 1. April 1697 in Hesdin in großbürgerliche Kreise geboren, griff er bereits als Jugendlicher zur Feder. Doch nur ein einziges Werk machte ihn als Abbé Prévost weltberühmt: Manon Lescaut.

Die Büste von Abbé Prévost im Stadtmuseum. Foto: Hilke Maunder
Die Büste von Abbé Prévost im Stadtmuseum. Foto: Hilke Maunder

Im Liebestaumel

Er erzählt vom jungen Klosterschüler Chevalier des Grieux, der der hübschen, fürs Kloster bestimmten Manon Lescaut begegnet. Sie wird seine femme fatale. Gemeinsam brennen sie nach Paris durch, wo Manon sein Geld verschleudert und ihn mit anderen Männern betrügt.

Als Manon als Betrügerin nach Amerika deportiert wird, folgt ihr des Grieux treu – und erlebt für kurze Zeit echtes Glück. Doch viel zu schnell verstirbt Manon.

Das Geburtshaus von Abbé Prévost. Foto: Hilke Maunder
Das Geburtshaus von Abbé Prévost. Foto: Hilke Maunder

Des Grieux muss nach Louisiana ins Exil gehen, wo ihn sein alter Freund Tiberge wiederfindet und nach Frankreich zurückbringt, wo er ein sittlicheres Leben beginnt.

Welche ein Stoff! Sitten gefährdend, befand Frankreich und beschlagnahmte die erste Ausgabe 1733. Doch das beflügelte den Erfolg von Manon Lescaut nur. Prévosts Meisterwerk wurde vertont, verfilmt und zum Ballett. Stolz stellte Hesdin eine Marmorbüste von Prévost an den Eingang des kleinen Stadtmuseums im rechten Rathausflügel.

Le beffroi: der Welterbe-Turm

Der Belfried von Hesdin. Foto: Hilke Maunder
Der Belfried von Hesdin. Foto: Hilke Maunder

Ins Museum integriert sind zwei der übereinanderliegenden Kerker des Belfrieds. Der beffroi selbst indes muss dringend saniert werden – daher ist das Besteigen derzeit nicht möglich.

70 Meter hoch ragt er in den nordfranzösischen Himmel, dieser dreistöckige quadratische Turm mit seiner achteckigen Laterne, der dreimal zerstört und wieder aufgebaut worden ist.

Bereits 1563 war ein erster Komplex aus Rathaus und Belfried an der Stelle des Landhauses der Schwester Karls V., Maria von Ungarn, errichtet worden. 750.000 Backsteine wanderten allein in den Rohbau des Belfrieds!

Detail der Bretèche und Belfried von Hesdin. Foto: Hilke Maunder
Detail der Bretèche und Belfried von Hesdin. Foto: Hilke Maunder

Unter Beschuss

1576 am Sockel mit Schöffengefängnissen versehen, stand er 1639 unter starkem Beschuss. Bei ihrer Belagerung von Hesdin hatten die Franzosen zum ersten Mal Granaten eingesetzt. Der Belfried sackte zusammen – und wurde provisorisch aus Holz wieder aufgebaut.

1768 wurde der baufällige Turm abgerissen.100 Jahre lang bliebt Hesdin ohne Stadtturm – welch ein Imageverlust in Nordfrankreich, wo die Belfriede traditionell für Macht, Einfluss und Reichtum stehen.

Die bretèche des Rathauses. Foto: Hilke Maunder
Die bretèche des Rathauses. Foto: Hilke Maunder

Erst als Daniel Lereuil, Rechtsanwalt und Sohn des Bürgermeisters, in seinem Testament vom 10. Februar 1875 der Stadt die stolze Summe von 12.000 Goldfranken vermachte, keimte die Idee zum Wiederaufbau auf. Stadtarchitekt  Clovis Normand entwarf die Pläne, Bürgermeister Paul Lereuil übernahm den Rest der Baukosten auf eigene Rechnung.

1878 wurde der heutige Belfried eingeweiht. Drinnen birgt er eine zwei Tonnen schwere Glocke, die mit ihren Vornamen an die Spenderfamilie erinnert. Zu Ehren von Daniel Lereuil wurden die Initialen DL auf dem Balkon des zweiten Stockwerks geschmiedet.

Welch ein Theater!

Das Stadttheater im Rathaus von Hesdin. Foto: Hilke Maunder
Das Stadttheater im Rathaus von Hesdin. Foto: Hilke Maunder

Auf Anfrage zeigen die Mitarbeiter des Museums gerne den zweiten Schatz des Rathauses: das Theater. Wie Toulouse und Le Havre besitzt auch die Kleinstadt Hesdin in seinem Hôtel de Ville eine veritable Bühne. Sie ist ein wahres Schmuckstück mit dunklem Samt, falschem Gold und opulenten Fresken.

Ursprünglich diente der Saal im ersten Stock des Rathauses als Aufenthaltsort für all jene Händler, die während des Jahrmarkts in Hesdin waren. Der Speicher diente als Lagerraum für unverkauftes Getreide während der Märkte auf dem Platz.

Ende des 19. Jahrhunderts gestaltete der örtliche Architekt Clovis Normand den Raum in einen Festsaal mit einem italienischen Theater um. Die fünf Kassetten der Decks schmückte im Jahr 1902 ein Maler namens Cappelle mit neun Musen und Apollon. Die Staffagearbeiten stammen von Gaudré aus Lille.

Fünf opulente Gemälde in Kassetten schmücken die Decke des Stadttheaters. Foto: Hilke Maunder
Fünf opulente Gemälde in Kassetten schmücken die Decke des Stadttheaters. Foto: Hilke Maunder

Clovis Normand: der Architekt von Hesdin

Clovis Normand prägte im 19. Jahrhundert das Gesicht von Hesdin. Am 28. August 1830 in der heutigen Rue Daniel Lereuil 9 geboren, arbeitete er zunächst als Tischler. Er bildete sich selbst zum Architekten aus, wurde zum Stadtrat gewählt und später zum Baudezernenten. In seinen 40 Arbeitsjahren leitete er 670 Baustellen, baute 45 Kirchen – und legte sogar einen Entwurf für den Bau der Basilika von Montmartre vor.

Hesdin: Das einstige Sankt-Johannes-Krankenhaus birgt heute ein Altersheim, Foto: Hilke Maunder
Das einstige Sankt-Johannes-Krankenhaus birgt heute ein Altersheim, Foto: Hilke Maunder

In Hesdin selbst, wo er sein ganzes Leben lang wohnte und gewählt wurde, renovierte er das Rathaus und dessen schmückenden Vorbau der Bretèche, schuf das kleine Theater (Théâtre Clovis-Normand) und die Kapelle des Hôpital Saint-Jean, restaurierte das Innere der Liebfrauenkirche und baute den Belfried wieder auf, der seit Juli 2005 zum Welterbe der Belfriede Nordfrankreichs gehört.

Das Glockenspiel von Notre-Dame

Auf der anderen Seite der Place d’Armes, nur wenige Schritte die Rue de la Paroisse hinein, erhebt sich seit 1554 die Stadtkirche Notre-Dame. Diese ist eine typisch flämisch Hallekerke ohne Querschiff und wurde Ende des 19. Jahrhunderts Clovis Normand restauriert.

Ihr Hingucker ist der schiefergedeckte Turm. Seit 2020 erklingt dort nach fünfjähriger Pause wieder ein Glockenspiel, das für die Einheimischen Teil der Identität von Hesdin ist: das Lied Din l’cuin d’min fu von Alfred Demond im der Sprache der Ch’ti, das Charles Lagniez vertonte.

Zur Chorseite schmückt Kunst die Stadtkirche – und balanziert auch über die Canche. Foto: Hilke Maunder
Zur Chorseite schmückt Kunst die Stadtkirche – und balanziert auch über die Canche. Foto: Hilke Maunder

Vieil-Hesdin: die frühere Stadt

Hesdin ist eine „neue Stadt“. Das alte Vieil-Hesdin befand sich etwas weiter flussaufwärts. Es wurde mehrmals von französischen Truppen angegriffen und im Jahr 1552 eingenommen. Man erzählt sich, dass einst das alte Vieil-Hesdin einen Lustgarten besessen habe, der dem Schlossgarten von Versailles zur Zeit Ludwigs XIV. in nichts nachgestanden und gekrönte Häupter aus ganz Europas gesehen habe.

Die Gärten hatte Robert Le Pieux angelegt. Am Hof von Palermo hatte er Automaten kennengelernt, Maschinen, die sich selbst bewegten. Jene integrierte er im alte Hesdin in seinen Garten, den er zwischen der Canche und der  Ternoise als jardin clos anlegen ließ.

Eine Ansicht von Hesdin aus dem Stadtmuseum, Foto: Hilke Maunder
Eine Ansicht von Hesdin aus dem Stadtmuseum, Foto: Hilke Maunder

Lustgarten mit Automaten

Im Inneren des riesigen ummauerten Geländes gab es einen Wald mit Bächen, eine Voliere und Käfige mit exotischen Tieren, ausgestopfte Bestien, eine gläserne Kapelle, Maschinen, die die Gäste besprühten oder mit Mehl oder farbigem Pulver bestäubten.

Automaten mit Holzfiguren, die auf diejenigen einschlugen, die sich ihnen näherten, und eine Brücke, die nachgeben und unvorsichtige Besucher ins Wasser stürzen konnte, begeisterten und erstaunten jedes Mal aufs Neue die Besucher. 250 Jahre lang waren die Gärten eine adlige Attraktion. Bis Karl V. die Hesdiner so für ihre Treue zum französischen König bestrafen wollte.

Ein Stadtpalais in Hesdin. Wer würde da nicht gleich einziehen wollen? Foto: Hilke Maunder
Ein Stadtpalais in Hesdin. Wer würde da nicht gleich einziehen wollen? Foto: Hilke Maunder

Das neue Hesdin

Der spanische Regent ordnete 1533 die völlige Zerstörung von Vieil-Hesdin an und ließ in nur sechs Kilometern Entfernung das neue, heutige Hesdin errichten.

Den Neubau der Stadt übertrug er seinem Feldherrn Emanuel Philibert von Savoyen. In ihren Namen Hesdinfert integrierte jener den Wahlspruch Savoyens:  F.E.R.T – Fortitudo Ejus Rhodam Tenuit.(Seine Kraft hat Rhodos gehalten). Später wurde daraus kurz Hesdin.

Die Stadt nahm einst eine strategisch wichtige Stellung ein. Sie liegt im Herzen der sieben Täler und grenzt zur einen Seite an einen Sumpf. Dort konnten feindliche Truppen keine Geschütze in Stellung bringen. Dennoch gelang es den Franzosen, Hesdin im Jahr 1639 zurückzuerobern. 1659 bestätigte der Pyrenäenfrieden die Zugehörigkeit Hesdins zu Frankreich.

Digitale Spurensuche

Der digitale Stadtspaziergang von Hesdin. Foto: Hilke Maunder
Der digitale Stadtspaziergang von Hesdin. Foto: Hilke Maunder

Bis heute sind die Spuren jener unruhigen Zeiten an den Resten der Befestigung zu erkennen. Der einstige Stall der Kavallerie auf der Bastion des Marquis dient heute als Festsaal.

Im Herzen von Hesdin hat das Office de Tourisme einen Stadtspaziergang mit QR-Codes fürs Handy angelegt. Er beginnt am Renaissance-Rathaus und führt als große Runde auch zu Kunst am Ufer der Canche.

Das Erbe kriegerischer Zeiten. Foto: Hilke Maunder
Das Erbe kriegerischer Zeiten. Foto: Hilke Maunder

Am Wegesrand liegt auch Hôpital Saint-Jean, das erste Krankenhaus der Stadt. Inhabergeführte Geschäfte, Stadthäuser aus gebranntem oder geschlagenen Stein säumen die Gassen.

Uund immer wieder Lokale, in denen Briten, Belgier und Niederländer hocken, die den Charme von Hesdin längst entdeckt haben.

Ruhepause im Schatten der Stadtkirche. Foto: Hilke Maunder
Ruhepause im Schatten der Stadtkirche. Foto: Hilke Maunder

Hesdin: meine Reisetipps

Erleben

Wochenmarkt

immer donnerstags auf der Place d’Armes, 6-12.30 Uhr

Fêtes du Cochon Rose

Mitte August feiert Hesdin sein Stadtfest. Das Maskottchen ist ein rosafarbenes Schwein namens Blandine.

Der Saal für Sonderausstellungen des Stadtmuseums. Foto: Hilke Maunder
Der Saal für Sonderausstellungen des Stadtmuseums. Foto: Hilke Maunder

Schlemmmen und genießen

À Table

Zu Tisch nennt sich die bei den Einheimischen sehr beliebte Pizzeria. Auf den Tisch kommen neben Pizza auch französische Klassiker wie cassolette d’escargots, Schneckenragout.
• 9, rue André Fréville, 62140 Hesdin, Tel. 03 21 81 62 10, www.facebook.com

La Belle Époque

Das Restaurant von Séverine und Christophe Fruitier steht für klassisch französische Küche mit frischen lokalen Produkten – aber auch Burger und Pizza fehlen nicht auf der Karte.
• 30, rue Daniel Lereuil, 62140 Hesdin, Tel. 03 21 86 42 89, https://www.facebook.com

La Bretèche

Seit einem halben Jahrhundert eine beliebte wie gemütliche Adresse mit raffinierter, frischer Lokalküche.
• 19, rue du Général Daulle, 62140 Hesdin, Tel. 03 21 86 80 87, www.facebook.com/labreteche

restaurant [gu]

Das Feinschmeckerrestaurant von Hesdin mit gehobener, französischer Küche – im Sommer auch auf der schattigen Terrasse unter Bäumen. Am Herd steht Daniel Gall, von  Gault & Millau als jeune chef prometteur ausgezeichnet.

Nach seiner Ausbildung am Lycée Hôtelier du Touquet sammelte David Gall seine ersten Erfahrungen in den Brasserien der Blane-Brüder in Paris (La Maison de l’Alsace, Le Charlot, Le Pied de Cochon, Le Grand Café Capucine, Le Procop).
• 17, rue Jacquemont, 62140 Hesdin, Tel. 03 21 86 86 86, www.restaurant-gu.com

Hier könnt ihr schlafen*

 

Am Ufer der Canche im historischen Zentrum von Hesdin. Foto: Hilke Maunder
Am Ufer der Canche im historischen Zentrum von Hesdin. Foto: Hilke Maunder

Weiterlesen

Im Blog

In der Nähe von Hesdin findet ihr mitten auf dem Land La Pommeraie, das charmante chambre d’hôtes von Marie-Béatrice Decroix Desbuquoi in Westrehem.

Im Buch

Klaus Simon, Hilke Maunder, Secret Citys Frankreich*

Gemeinsam mit meinem geschätzten Kollegen Klaus Simon stelle ich in diesem Band 60 Orte in Frankreich vor, die echte Perlen abseits des touristischen Mainstreams sind. Le Malzieu in der Lozère, Langogne im Massif Central, aber auch Dax, das den meisten wohl nur als Kurort bekannt ist.

Mit dabei sind auch Senlis, eine filmreife Stadt im Norden von Frankreich, und viele andere tolle Destinationen. Frankreich für Kenner  – und Neugierige!

Lasst euch zu neuen Entdeckungen inspirieren … oder träumt euch dorthin beim Blättern im Sessel oder am Kamin. Wer mag, kann das Lesebuch mit schönen Bildern hier* bestellen.

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