Die église Saint-Nicolas< von Marville. Foto: Hilke Maunder
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Marville: das Erbe der Renaissance

In der Sonne leuchtet der Stein von Marville golden, und vor der Auberge stehen Tische auf dem Trottoir. Trecker fahren aus großen Scheunentoren. Die Kirchenglocke läutet. Eine beschauliche Ruhe liegt über dem Dorf im Département Meuse im Nordosten Frankreichs. Keine fünf Kilometer weit ist es bis zur belgischen Grenze – und gerade einmal 30 Kilometer entfernt lockt das UNESCO-Welterbe Longwy.

Auch Marville besaß einst eine Festung, errichtet vom mächtigen mittelalterlichen Lehnsherrn Graf Theobald I. von Bar. Er ehelichte die bei der Hochzeit knapp zehnjährige Ermesinde, das einzige, sehr spät geborene Kind Heinrichs IV. von Luxemburg und Namur.

Die <em>Maison de Négociants</em> von Marville. Foto: Hilke Maunder
Die Maison de Négociants von Marville. Foto: Hilke Maunder

Unter doppelter Herrschaft

Bei Theobalds Tod fiel Marville, zuvor unter der Herrschaft der Bar, so an Ermesinde und ihre Kinder – und damit an Luxemburg. Damit begann der lange Streit um Marville zwischen den beiden Häusern. Er endete erst, als sich am 2. April 1270 die Grafen Heinrich V. von Luxemburg und Theobald II. von Bar einigten, das Gebiet als Kondominium zu verwalten – sprich, die Herrschaft über das Gebiet zu teilen.

Sie setzten einen Propst als Verwalter ein, ernannten für Streitfälle drei Schiedsrichter, erklärten die Burgen im Landstrich als neutral. Und forderten von den Einwohnern, den Herdpfennig fortan an beide Herren zu zahlen. Auch die Einnahmen von Bannmühle, Bannofen, Geleit und Kaufhalle wurden geteilt. Die doppelte Zugehörigkeit von Marville zeigt auch das Stadtsiegel mit Luxemburger Löwe auf blau-silber gestreiftem Grund und zwei goldenen Barfischen auf blauem Grund.

Der goldene Stein von Marville: das verbindende Element der Architektur quer durch alle Epochen. Foto: Hilke Maunder
Der goldene Stein von Marville: das verbindende Element der Architektur quer durch alle Epochen. Foto: Hilke Maunder

Das Dorf der Renaissance

Die besondere Lage im Herzen der militärisch und politisch neutralen Zone der terres communes und an einem der wichtigsten Handelswege zwischen Lothringen und Flandern, der Straße von Carignan nach Metz, sorgte in Marville für Wohlstand in einer Zeit, in der die Religionskriege Europa leiden ließen.

Burgundischer Wein und flandrische Stoffe ließen die Wirtschaft der kleinen Stadt auf einem Felsvorsprung über den Schleifen des Othain brummen. Als Zeichen ihres Erfolges errichteten die Händler und Handwerker elegante Herrenhäuser aus dem örtlichen, goldfarbenen Stein.

Die gerettete Renaissance-Fassade des einstigen Benediktiner-Konvents. Foto: Hilke Maunder
Die gerettete Renaissance-Fassade des einstigen Benediktiner-Konvents. Foto: Hilke Maunder

Besonders die Maison des Drapiers, im Renaissancestil als Zunfthaus der Tuchmacher errichtet und bis 1793 das Rathaus, zeigt heute noch, mit welchem Stolz die Marvillois ihre Häuser erbauten und ausschmückten. Von Italiens Villen wurde auch die Maison du Chevalier Michel (1520) mit ihrer zweistöckigen Loggia inspiriert.

Ihre Bas-Reliefs zeigen Szenen aus dem Alten Testament, der Mythologie und mittelalterlichen Helden-Epen. Zwischen Akanthus-Blättern ist David zu sehen, der Goliath besiegt. Der Magier Maugis und die Ardennen-Legende der vier Söhne Aymons und des Pferdes Bayard sind dort ebenfalls im Stein verewigt.

Auch die Maison de Négociants  und das Hôtel Egremont erzählen mit ihrer Symmetrie und Ordnung vom Erbe jener glanzvollen Epoche. Vom Benediktinerkloster, 1914 während des Ersten Weltkriegs in Flammen aufgegangen, steht eindrucksvoll nur noch eine Fassade im Stil der Renaissance.

Das reiche Bauerbe von Marville schützt seit 2005 eine ZPPAUP Zone de Protection du Patrimoine Architectural, Urbain et Paysager, eine Zone zum Schutz des architektonischen, städtischen und landschaftlichen Erbes. Die Fondation du Patrimoine hat mit dem Hôtel d’Egremont 2023 aus Fördermitteln und Spendengeldern das erste Haus saniert.

Das Totengedenkmal auf der <em>Grande Place</em> von Marville. Foto: Hilke Maunder
Das Totengedenkmal auf der Grande Place von Marville weihte 1923 der damalige Präsident Raymond Poincaré ein. Foto: Hilke Maunder

Wo Kaiser Wilhelm logierte

Das eindrucksvolle Stadthaus wurde zum Ende der Gotik errichtet und in der Reniassance von Nicolas de la Fontaine, Lieutenant-Prevot de Marville für das Barrois und Herr von Choppey und Pouilly, übernommen. Ursprünglich als Tuchmachergeschäft genutzt, diente es später als adliges Wohnhaus. Von 1686 bis 1919 besaß die Familie d’Egremont das Anwesen.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hielten sich Kaiser Wilhelm II. und sein Sohn in Marville auf. Während der Kaiser im Schloss wohnte, bewohnte sein Sohn das Hôtel d’Egremont. Um sich im Falle eines Angriffs in Sicherheit bringen zu können, ließen sie einen Bunker an der Verbindung zwischen dem Hôtel d’Egremont und dem Haus des Chevalier Michel bauen. Dieser unzerstörbare Bunker ist bis heute erhalten geblieben.

Während des Zweiten Weltkriegs nutze die Wehrmacht das hôtel particulier als Gefängnis, wovon noch einige Gitterstäbe an den Fenstern und Schriften an den Türen zeugen.

Das Dach der Église Saint-Nicolas. Foto: Hilke Maunder
Das Dach der Église Saint-Nicolas. Foto: Hilke Maunder

Die St.-Nikolaus-Kirche

Im Herzen der Oberstadt erhebt sich seit dem 13. Jahrhundert die romanisch-gotische Église Saint-Nicolas. Auch sie wurde während der Renaissance umgebaut. Gedrungen wirkt das Gotteshaus mit seiner Fassade aus goldgelbem Stein und dunklem Schieferdach. Drinnen überrascht der Reichtum der Dorfkirche mit ihrer majestätischen Orgelempore, ihrer anmutigen Jungfrau und dem strengen Grab des Salantin de Gavroy.

Ohne sie eines Blickes zu würdigen, fahren die Bauern mit High-Tech-Treckern, deren Räder mehr als mannshoch sind, durch hohe, farbige Hoftore. Minuten später sind sie geschlossen, liegt der geschlossene Straßenzug so still und ursprünglich da, als gäbe es nicht die Zeit.

Renaissance-Fassaden, wohin man schaut in Marville. Foto: Hilek Maunder
Renaissance-Fassaden, wohin ihr schaut in Marville. Foto: Hilek Maunder

Film- und Fernsehproduktionen lieben dieses zeitlose Flair.Und so war Marville schon Schauplatz von  Le Fou de Sainte-Clotilde, einer Episode der Serie Maigret, und 2015 Kulisse beim Historienfilm Suite française mit Matthias Schoenaerts und Kristin Scott Thomas, der in einem Dorf namens Bussy spielte, aber nichts anderes als Marville war.

Der Cimetière Saint-Hilaire

Der Friedhof der Chapelle Saint-Hilaire. Foto: Hilke Maunder
Der „neue“ Friedhof der Chapelle Saint-Hilaire. Die Säulen der vier Himmelsrichtungen erbauten 1914 deutsche Truppen. Foto: Hilke Maunder

Nicht nur gut leben, auch gut sterben lässt es sich in Marville. Auf dem Hügel gegenüber dem Dorf breitet sich im Schatten hundertjähriger Bäume der wohl schönste Friedhof Lothringens aus.

Rund um die Chapelle Saint-Hilaire, am Standorte eines früheren römischen Mars-Tempel errichtet, bilden die Gräber aus allen Epochen seit den Tagen der Merowinger bis zu den Toten von heute ein Freilichtmuseum der Totenkultur.

Alte Gräber, Blütenflor: der cimétière Saint-Hilaire von Marville. Foto: Hilke Maunder
Alte Gräber, Blütenflor: der cimétière Saint-Hilaire von Marville. Foto: Hilke Maunder

Die Zeit hat nicht nur viele Epitaphe getilgt, sondern auch die Stelen und Denkmäler patiniert und jedem Stein ein geheimnisvolles und wildes Aussehen verliehen. Im April leuchten gelb die Tulpen auf dem Gottesacker. Im Mai blüht der Klatschmohn zwischen den Gräbern der Weltkriegssoldaten.

Dort begraben sind auch die Kinder der kanadischen  1 (F) Wing-Luftwaffenbasis. Von 1954 bis 1967 waren die Kanadier als Teil der NATO bei Marville stationiert gewesen.

Fast 200 Jahre alt sind diese Grabstellen. Foto; Hilke Maunder
Fast 200 Jahre alt sind diese Grabstellen. Foto: Hilke Maunder
Blumen haben den alten Friedhof erobert. Foto: Hilke Maunder
Blumen haben den alten Friedhof erobert. Foto: Hilke Maunder

Das Beinhaus

Nous avons été comme vous. Vous serez comme nous. Wir waren wie Sie. Sie werden wie wir sein, steht in einer Ecke des Gottesackers auf einem Giebel. „Betet für uns.“

Ein geschweißtes, rostiges Eisengitter verschließt das Gebäude. In der Mitte: ein Altar. Darauf – und ringsum: Wände aus Schädeln und Schienbeinen, aufgestapelt im Jahr 1890 vom Friedhofswärter Motsch.

Das Beinhaus von Marville birg rund 40.000 Knochen und Totenschädel. L’ossuaire de Saint-Hilaire: das erstaunlichste, skurrilste und vielleicht überraschendste Fundstück beim Besuch von Marville.

Das Beinhaus des cimetière Saint-Hilaire von Marville. Foto: Hilke Maunder
Das Beinhaus des cimetière Saint-Hilaire von Marville. Foto: Hilke Maunder

Und jenes mit der nachdrücklichsten Botschaft des Lebens: Nehmen wir uns Zeit, ehe sie uns nimmt. Leben wir jeden Tag, als sei es der erste – und der letzte. Dann ist jeder Tag im Leben nichts anderes ist als eine kleine Renaissance. Ein kleiner Besuch auf dem Dorfe – ein großer Glücksmoment.

Detail des ossuaire des cimétière Saint-Hilaire. Foto: Hilke Maunder
Detail des ossuaire des cimétière Saint-Hilaire. Foto: Hilke Maunder

Marville: meine Reisetipps

Schlemmen und genießen

Les Caves Lorraines

Ein typisch französisches Restaurant – es werden auch Kochkurse angeboten!
• 7, Rue Irénée Leroy, 54260 Saint-Jean-lès-Longuyon, Tel. 03 82 26 63 13, www.lescaveslorraines.fr

Schlafen und schlemmen

Die <em>Auberge de Marville</em> bewahrt das Ambiente französischer Gasthöfe von einst - ganz bewusst und hält die Tradition hoch. Foto: Hilke Muander
Die Auberge de Marville bewahrt das Ambiente französischer Gasthöfe von einst – ganz bewusst und hält die Tradition hoch. Foto: Hilke Muander

L’Auberge de Marville

Ein typisch französischer Landgasthof mit weiteren Zimmern in der Dependance Le Relais Renaissance, rund 200 Meter entfernt in einer Parallelstraße zur Grande Rue. Die Küche ist bodenständig, auf der Karte stehen Klassiker der französischen Hausmannskost. Der Patron steht in der Küche; die charmante Wirtin Cécile Zinkiewicz arbeitet auch als Gästeführerin.
• 17, Grande Rue (Grande Place), 55600 Marville, Tel. 03 29 88 10 10, www.aubergedemarville.com

Noch mehr Betten*
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Eine Zeitreise der Bestattungskultur: der Friedhof von Marville. Foto: Hilke Maunder
Eine Zeitreise der Bestattungskultur: der Friedhof von Marville. Foto: Hilke Maunder

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2 Kommentare

  1. Der perfekte Ort für einen Kurztrip aus dem Rhein-Main-Gebiet! Ich bin immer wieder erstaunt, welche kulturellen Kostbarkeiten sich in manch einem auf den ersten Blick unspektakulären Ort auftun. Danke für die Anregung!

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