Noyant-d’Allier: das vietnamesische Dorf
Zwischen dem Grün von Noyant-d’Allier leuchtet es golden. Mit geschlossenen Augen erhebt sich der Buddha Sakyamuni sieben Meter hoch in den Himmel des Départements Allier. Übergroß sind seine Ohren. Denn bevor Buddha sich auf den Weg der Erleuchtung gemacht hatte, lebte er wie ein Prinz im Hause seiner reichen Eltern. An den Ohren trug er damals schweren Goldschmuck.
Drei Tücher bilden seine Robe: ein Hüfttuch, eine Schultertoga und ein über die Schulter geworfener Mantel. Die Hände zeigen die typische Handgeste (mudra) der Meditation. Ineinandergelegt ruhen sie auf seinem Schoß als Symbol tiefer Weisheit.
In Buddhas Reich
Ein niedriger Zaun umgibt das Heiligtum. Wer es betreten möchte, muss die Schuhe ausziehen. Für die Buddhisten ist der Kopf der wichtigste heilige Teil des Körpers.
Die Füße gelten als unheilig – und Schuhe als schmutzig. Sie dürfen das Heiligtum nicht beflecken. Gebetet wird nicht im Stehen, sondern auf den Knien.
Eine Allee von Bodhisattvas, deren Statuen die Reinkarnationen Buddhas symbolisieren, führt auf ihn zu. Vorgelagert ist ein Teich voller Koi-Karpfen. Lotusblumen bedecken ihn. Obgleich deren Wurzeln im Schlamm stecken, leuchtet die Blüte rein über das Wasser. Welch eine Symbolkraft! Auch Orchideen und Rosen schmücken die Gartenanlage.
Nur wenig weiter ruht ein kaum weniger majestätische Buddha seitlich liegend auf einem Betonsockel. Den Kopf auf die Hand gestützt, zeigt diese Skulptur Buddha vor seinem Tod im Alter von 80 Jahren. Weitere Andachtsorte ergänzen das Heiligtum.
Zur Gartenanlage der Pagode Phàp-Vuong-Tù gehört auch ein Tempel. Löwen mit aufgerissenem Maul bewachen ihn, auch bei den Buddhisten das Symbol der Macht. Das Kolumbarium der Pagode birgt die Urnen von Gläubigen aus der Region, die nach den Regeln des Buddhismus eingeäschert wurden.
Das Erbe Indochinas
Die Andachtsstätte ist eng mit Frankreichs Kolonialgeschichte verbunden. In den Nachkriegsjahren erlitt Frankreich in der Schlacht von Ðiện Biên Phủ eine Niederlage. Sie läutete 1954 den Rückzug aus seiner Kolonie Indochina ein.
Viele Indochina-Franzosen kehrten zurück ins Mutterland – und besonders nach Noyant. Dort wurden sie in den corons untergebracht, die vor der Schließung der Mine während des Zweiten Weltkriegs als Unterkunft für Polen und Ukrainer gedient hatten.
Die Boat People
In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren wurde Noyant-d’Allier erneut einer der vielen französischen Orte, die vietnamesische Flüchtlinge aufnahmen, die auf der Suche nach einem besseren Leben mit dem Boot aus ihrem Land geflohen waren.
Weitere 100 vietnamesische Flüchtlinge, die 1980 in Frankreich angekommen waren, fanden hier eine neue Heimat.
1983 errichtete die vietnamesische Gemeinschaft mit Unterstützung der Gemeinde und des Generalrats des Départements Allier ihre Andachtsstätte. Rund um die Pagode hat sich das ehemalige Bergarbeiterviertel in die Cité de la Brosse verwandelt. Minipagoden und winzige Buddhas schmücken die Gärten.
653 Einwohner, 20 Nationen
Die Asiaten haben sich an die französischen Gewohnheiten gewöhnt – und die Einheimischen sich an die neue Bevölkerung. So gut, dass das Dorf heute ein reiches asiatisches Erbe beherbergt.
Das Restaurant und Geschäft Le Petit d’Asie bietet asiatische Spezialitäten an. Der indochinesische Caterer Chez Oanh bereitet auch Mahlzeiten zum Mitnehmen zu. Masalchi stellt in Noyant heute Bio-Gewürze her.
653 Einwohner zählte Noyant, so das nationale Statistikamt INSEE, Ende 2022. Und längst sind es nicht nur Vietnamesen und Franzosen. Zum bunten Mix dieses Dorfes gehören heute 20 Nationen.
Verwaiste corons
Vor ihrer Ankunft war Noyant-d’Allier ein sterbendes Dorf im Queune-Becken, dem einstigen Kohlerevier des Bourbonnais. Das Kohlebergwerk in Noyant war die Seele des Dorfes. Bis die Deutschen, mitten im Zweiten Weltkrieg, 1943 die Mine schlossen. Die corons, die ehemaligen Wohnstätten der Bergleute, verwaisten.
Die Geschichte der Minen von Noyant ist eng mit der Geschichte des Bourbonnais verbunden. Im 16. Jahrhundert begann dort der Abbau von Kohle. Anfang waren es die Bauern, die sich darum kümmerten, und die Schächte waren nicht tiefer als fünf oder sechs Meter.
Im Rhythmus der Kohle
Erst im 18. Jahrhundert begann die Industrialisierung des Kohleabbaus von Noyant – erst mit der Familie Matthieu, im 19. Jahrhundert mit der Compagnie Châtillon-Commentry-Neuve-Maison. Sie setzte erstmals Dampfmaschinen ein und förderte die Kohle im großen Stil.
24 Schächte wurden gegraben, 434 Meter tief drang der Zentralschacht ins Erdreich ein. 18 Bergleute konnten gemeinsam einfahren. Schwindelerregend schnell, mit 10 bis 12 Metern pro Sekunde, brachte sie der Fahrstuhl nach unten. Und nicht nur sie. Auch Pferde wurden in die Tiefe der Mine herabgelassen, um die cuffas, die Loren, zu ziehen
Pionier des Stahlbetons
Zum Wahrzeichen der Mine wurde ihr in Frankreich einzigartiger Förderturm aus Stahlbeton über dem Zentralschaft. Seine Konstruktion geht zurück auf Eugène Freyssinet (1879-1962), der einer der Pioniere des Stahlbetons im Bauwesen und der Erfinder des Spannbetons gewesen war.
Die Kohle von Noyant wurde anfangs auf der Straße bis nach Moulins und von dort auf dem Wasserweg nach Paris und Nantes transportiert. Die Kohle aus Noyant war ausschlaggebend für die Gründung der Glashütte von Souvigny und versorgte die Kalköfen von Saint-Menoux mit Energie.
Auf den Spuren der Kumpel
40 Jahre nach der Schließung der Mine eröffnete in dem im Jahr 1920 errichteten Hauptgebäude das Musée de la Mine. Nach einem 20-minütigen Kurzfilm zum Kohleabbau in Frankreich geht es mit der Bergwerksbahn Marie zum Grubenfeld mit seinen Geräten und Gebäuden. Dort erläutert ein Führer all jene Maschinen, die in den verschiedenen Minen Frankreichs eingesetzt wurden.
Anschließend taucht ihr in die Welt unter Tage ein. In einem nachgebauten Stollen lernt ihr die verwendeten Techniken, die Arbeitsbedingungen der Bergleute und die Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, kennen.
Erfolgreiche Integration
Ebenfalls auf dem einstigen Minengelände befinden sich der Puits des Arts, der wechselnde Kunstausstellungen zeigt, und der Palais de la Miniature mit seiner Modelleisenbahn, die eine halbe Stunde lang in einer Licht-Ton-Schau Noyant-d’Allier mit seiner Mine, seinem Markt, seinem Bahnhof und seinen Flüssen vorstellt.
Und natürlich auch seinerPagode. Phàp-Vuong-Tù ist heute einer mehreren hundert buddhistischen Tempeln in Frankreich. Und Noyant, wo rund die Hälfte seiner Einwohner eurasischer Herkunft ist, ein Musterbeispiel erfolgreicher Integration.
Noyant-d’Allier: meine Reise-Infos
Ansehen
Phàp-Vuong-Tù
Die Pagode ist von April bis September, Mittwoch bis Sonntag von 15 bis 19 Uhr, in der restlichen Zeit je nach Wetterlage nachmittags von 14 bis 17/18 Uhr geöffnet.
• Allée de la Pagode, All. des Lilas, 03210 Noyant-d’Allier, Tel. 04 70 47 29 37, www.pagodenoyantdallier.fr
Square du Dragon
Ein 45 Meter langer und drei Meter hoher Drachen ist das Wahrzeichen des Square du Dragon. Zum Drachenplatz gehören auch ferner ein asiatischer Pavillon und eine Brücke im japanischen Stil.
Musée de la Mine
• 31 Rue de la Mine, 03210 Noyant-d’Allier, Tel. 07 68 59 46 95, https://centre-animation-m.wixsite.com/musee-mine-noyant
Schlemmen und genießen
Le Petit Asie
Zum vietnamesischen Lokal gehört eine épicerie, die Glasnudeln, parfümierten Reis, Bambussprossen, Litchis und andere Leckereien aus Vietnam verkauft.
• 38, Rue de la Mine, 03210 Noyant-d’Allier, Tel. 04 70 47 21 31, www.lepetitdasie.fr
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Hintergrund: Buddhismus in Frankreich
Der Buddhismus hat in Frankreich eine lange Geschichte. Sie reicht bis in die 1970er-Jahre zurück, als lange vor Noyant-d’Allier die ersten buddhistischen Gemeinschaften gegründet wurden. Heute bekennen sich rund ein Prozent der Bevölkerung zum Buddhismus.
Offizielle Zahlen zur Zahl der buddhistische Tempel in Frankreich gibt es nicht, da es keine offizielle Registrierungspflicht gibt. Schätzungen gehen davon aus, dass in Frankreich etwa 200 bis 250 buddhistische Zentren und Tempel von den verschiedenen buddhistischen Glaubensrichtungen genutzt werden, vor allem in Lyon, Marseille, Bordeaux und Paris.
Bekannte Tempel
Dort findet ihr im 12. Arrondissement das Centre Bouddhique Kagyu-Dzong – Grande Pagode de Vincennes. Der 1925 im Bois de Vincennes erbaute Tempel gehört zu den ältesten buddhistischen Tempeln Europas und birgt den angeblich größten Buddha Europas.
Auf einem Hügel bei Lavaur erhebt sich die Stupa des 1982 gegründete Institut Vajra Yogini von Marzens, das der Kagyü-Tradition des tibetischen Buddhismus angehört.
Bekannte Tempel des Zen-Buddhismus sind das Centre Zen de la Falaise Verte in Saint-Laurent-la-Pape und das Plum Village von Loubès-Bernac, das der 2022 verstorbene vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh 1982 gegründet hatte.
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