Leonore Ander. Foto: privat
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Odette: eine Dorfgelehrte

Mein Frankreich ist nicht nur Titel meines Blogs, sondern auch Programm: Ich möchte möglichst viele von euch animieren, euer Frankreich vorzustellen. Mein Frankreich – was bedeutet das für euch?

Heute antwortet Leonore Ander, die ihre Reiseerinnerungen aus aller Welt in kleinen, orangenfarbenen Büchlein gebündelt hat, die bei Epubli, Amazon und in jeder Buchhandlung zu bestellen sind. Darin verstecken sich 128 Reportagen, davon 26 aus Frankreich. Über sich schreibt sie:

Unter meinem Namen Leonore Ander habe ich in den letzten 25 Jahren des vergangenen Jahrhunderts Reportagen geschrieben, meine Photos mit verschiedenen Themen in Mexico, USA, in Italien, Österreich, der Schweiz, Deutschland und Frankreich ausgestellt und Bildbände über die Schweiz, Jugoslawien, die Azoren und Italien erstellt. Eine Dokumentation über die letzten Nachfahren der Mayas , die Lakandonen, wurden im TV gesendet ebenso wie die spannende Geschichte über den Canal du Midi, auf dem ich in meinem Hausboot mehrere Jahre lebte.

Meine Reportagen entstanden nicht im Vorbeigehen, sondern ich habe mich intensiv mit den Menschen befasst, ihren Alltag miterlebt, ihre Sorgen, Ängste und Freuden geteilt, um sie authentisch in ihrem Umfeld fotografieren zu können. Möglich machten dies meine langen Aufenthalte in Mexiko, Brasilien, in den USA, in Italien und in Frankreich.

Ehe ich mit der Recherche begann, habe ich erstmal die Sprache gelernt und konnte danach unabhängig von Dolmetschern mit dem Bauern auf dem Feld, der Indio-Frau auf dem Markt und dem Teepflücker in Indien ebenso plaudern wie mit dem Universitätsprofessor in Mexico oder dem Direktor einer Sambaschule in Rio de Janeiro. Dank der Sprache, einem gewissen Einfühlungsvermögen und meiner enormen journalistischen Neugier, öffneten mir die Einheimischen Tür und Tor; ich durfte an ihren Festen, ihren Riten und an ihrem Lebensrhythmus teilnehmen, unverstellt und unverfälscht.

Mit meinen Reportagen wollte ich nie die Welt verbessern, sondern vielmehr auf die Zustände und Missstände in anderen Ländern aufmerksam machen, dem Leser die Augen öffnen und erzählen, wie andere Völker und Kulturen leben. Es gibt Reportagen, über die man schmunzelt und staunt ob der Unglaubwürdigkeit. Andere sind interessant, weil Ungewöhnliches passiert, und es gibt Reportagen, die von Begegnungen mit ungewöhnlichen Menschen erzählen, von merkwürdigen Ereignissen oder packenden Eindrücken.


Man stelle sich ein Dörfchen mit 500 Einwohnern vor, kleinen, schmalen, krummen, winkligen Gässchen, Kopfsteinpflaster, efeubewachsene Steinhäuser, Friede, damals und heute. Irgendwo Kinderlachen und Stimmengewirr. Die dörfliche Volksschule hat Pause.

Odette hüpft wie alle andere Mädchen über das Springseil. Sie hat die 7. Klasse erreicht, und damit ist ihre Schulzeit zu Ende. Die Eltern, Weinbauern, brauchen die Tochter dringend bei der Feldarbeit, den 2 Jahre jüngeren Sohn sowieso. Das war 1926.

Nach diesem letzten Schultag ist Odette mit ihrem Bruder täglich auf dem Feld. Gerne, sehr gerne sogar. Denn beim letzten Umpflügen hat sie eine Tonscherbe gefunden, danach noch eine und noch eine. Natürlich weiß sie aus dem Geschichtsunterricht, dass in der Umgebung ihres Dorfes prähistorische Funde gesichtet wurden.

Man ging der Sache allerdings nicht intensiv nach. Viel wichtiger war der Weinanbau, schließlich musste man vom Wein leben und überleben.

Der Zufall wollte es, dass ein Archäologe aus Paris im kleinen Dorf Urlaub macht. Odette zeigte ihm ihre Scherben und war in Zukunft die gelehrigste Schülerin dieses alten Herrn. Wann immer er kam, zeigte sie ihm stolz, was sie während seiner Abwesenheit gefunden hatte.

Er lobte sie und brachte ihr bei, wie behutsam man mit diesen Dingen umgehen musste. Jedes Stück war zu nummerieren und dass man nie aufhören durfte, alles zu sammeln, was die Erde freigab. Denn irgendwann passten die Stücke dann zusammen. Er sagte ihr, dass das Jahre dauern kann oder … vielleicht auch nie……aber was immer gefunden wird, ist sehr, sehr, wertvoll.

Odette und ihr Bruder begannen von dem bisschen Geld, das sie mit dem Weinverkauf verdienten, Fachliteratur zu kaufen. Sie lernten beide, ägyptische Schriftzeichen zu entziffern, studierten die Sprachen der Griechen, Iberer, lasen fließend libysch, italienisch, englisch, italienisch, spanisch und deutsch. Mit dem Rad fuhren sie nach Narbonne, bei Hitze, bei Wind, bei Regen, um sich Fachliteratur in der Bibliothek auszuleihen.

An einem brütend heißen Sommertag im Juni 1994 fahre ich nach vorheriger Absprache ins Dorf. Obwohl mir Odette am Telefon den Weg genau erklärt hat, finde ich nicht zu dem Haus. Eine ältere Frau steigt zu mir ins Auto und führt mich hin. „Sagen sie Odette“, auf meine Frage von wem ich grüßen soll, „ich sei die Enkelin vom besten Freund ihres Vaters“.

Odette lacht, als ich ihr das erzähle. „Warum haben sie kein Hinweisschild angebracht, um ihr Museum zu finden?“, frage ich sie. Denn von Literaturhinweisen wusste ich inzwischen, dass Odette und Jean seit 1929 nicht nur Scherben, sondern kostbarste Teller, Töpfe, Grabschmuck, verzierte Rasiermesser, Armringe, Ketten, Schwerter, Dolche, Ohrgehänge u.v.a. ausgegraben haben.

Eine Amphore, die Odette gefunden hatte. Foto: Leonore Ander
Eine Amphore, die Odette gefunden hatte. Foto: Leonore Ander

Sie seufzt, ehe sie mir die Antwort gibt. „Wissen Sie, es ist in der heutigen Zeit einfach zu gefährlich, das der interessierten Öffentlichkeit zu zeigen. Es ist ja gar kein richtiges Museum. Alles ist in einem provisorischen Häuschen untergebracht, ohne Sicherheitsvorkehrungen, ohne Alarmanlage. Die Funde sind jedoch so wertvoll, dass Archäologen aus aller Welt zu uns kommen, um Rat einzuholen. Wissenschaftler, besonders aus Amerika, stehen in ständiger Verbindung mit mir und meinem Bruder“.

Geld vom französischen Staat ist angeblich nicht vorhanden. Paris möchte die Sammlung gerne in der Hauptstadt unterbringen. Aber Odette und ihr Bruder meinen, dass die Kostbarkeiten da hingehören, wo sie gefunden wurden. Und das ist im kleinen Dorf im Süden des Landes. Tatsächlich, als wir durch die einfachen Räume laufen, verstehe ich ihre Angst. Wir durchwandern eine Zeit, die viertausend Jahre zurückliegt.

Viertausend Jahre! Odette und ihr Bruder erklären sie mir. Wunderschöne Hieroglyphen fallen mir auf einem Teller auf. Ich frage ihn, ob er die entziffert hat. „Natürlich“, ist seine bescheidene Antwort. „Ich erzähle aber nicht die Geschichte, nur  soviel. Es ist eine Botschaft an einen Mann, der bald sterben wird. Man möchte ihn zufrieden in eine andere Welt schicken“.

Eine Vitrine von Odette, prall gefüllt mit ihren Fundstücken. Foto: Leonore Ander
Eine Vitrine von Odette, prall gefüllt mit ihren Fundstücken. Foto: Leonore Ander

Wie ein Puzzle sind die Kleinstteile zusammengesetzt. Odette erzählt mir die Geschichte, dass sie vor langer Zeit nach Deutschland fuhr, um in einem archäologischen Institut nach der Zusammensetzung eines Klebstoffs zu fragen. Die Deutschen behandelten die kleine französische Autodidaktin ziemlich unhöflich. Noch schlimmer, sie gaben ihr nicht das Kleberezept.

Enttäuscht fuhr sie zurück und probierte selbst. Und siehe da, sie fand die Lösung, wird es aber auch nicht weitererzählen. „Das ist jetzt mein Geheimnis“, schmunzelt die 79-Jährige wie ein trotziges Kind. Bruder Jean hat das Dorf sein Leben lang nicht verlassen.  Odette war einige Male in Paris zu archäologischen Kongressen. Aber im Grunde genommen haben sie ihr ganzes Wissen vor Ort im kleinen Dorf erlernt und studiert.

Odette zeigt mir einige Skelette und sagt, dass sie 1959  sechs Gräber auf einem Weinfeld gefunden haben. In Windeseile gruben die Geschwister alles Verfügbare aus. Kostbarster Schmuck und wertvolle, verzierte Waffen kamen zum Vorschein. Sie baten den Weinbauern, mit dem Pflügen noch etwas zu warten, damit sie weitergraben können.

Die Antwort war klar und bestimmt; „In 40 Jahren reiße ich die Weinstöcke wieder aus, dann könnt ihr kommen, wartet so lange.“ Nun, 1999 war die Zeit um. Rückblickend kann ich heute sagen: Beide lebten da noch.

Auf meine Frage, dass es doch eigentlich schade ist, dass sie keine Nachkommen haben, sagt Odette bestimmt und bescheiden:

„Archäologie ist eine ausgezeichnete Medizin gegen die Einsamkeit. Je mehr Glieder aus der Vergangenheit sich zusammensetzen lassen, desto sicherer ist man eingebettet in die Geschichte der Menschheit. Wenn ich weiß, woher ich komme, dass ich einen langen Weg schon hinter mir habe, darf ich sicher sein, dass der Weg weiterführen wird. Wer das begriffen hat, schmeckt ein bisschen von der Ewigkeit. Die Nachkommen anderer werden auch die unseren sein. Schließlich sind wir alle eine große Menschenfamilie.“

Ein herzlicher Händedruck, und ich verabschiede mich von der gelehrten Odette aus dem kleinen Dorf.

Eine Vitrine von Odette. Foto: Leonore Ander
Eine Vitrine von Odette. Foto: Leonore Ander

Jahre später

Ich radelte, wie so oft, in Odettes Dorf und sah vor der Festhalle sehr viele parkende Autos mit Pariser Kennzeichen. Neugierig fragte ich einen Polizisten, was da drinnen los sei. Er antwortete, nicht ohne Stolz: „Heute ist Prüfung für die zukünftigen Archäologen von der Pariser Universität Sorbonne. Da Odette nicht mehr reisen kann, aber im Prüfungsausschuss eine wichtige Person ist, kamen die Professoren eben zu ihr ins kleine, alte Dorf und prüften dort.

Nachtrag

Im Juni 2012 ist Odette Taffanel, Mitglied des CNRS und Ritterin der Ehrenlegion, im Alter von 97 Jahren in Mailhac verstorben.

Odette Taffanel wurde am 22. Februar 1915 in Mailhac geboren und verbrachte ihr Leben damit, zusammen mit ihrem Bruder Jean Taffanel (1917–2009) die archäologischen Überreste des Dorfes auszugraben und zu studieren. Ihre Familie lebte seit mehreren Generationen in Mailhac – und wusste durch Aussagen der Großeltern, dass das „alte Mailhac“ auf Cayla liegt. Ihre ersten Ausgrabungen begannen sie als Kinder auf einem Hügel, der ihr Lieblingsspielplatz war.

Die Geschwister waren die ersten, die ab 1929 die Cayla-Stätte ausgruben, und richteten in Mailhac im ehemaligen Kloster Saint-Joseph, das sich heute im Staatsbesitz befindet, ein Ausgrabungsdepot ein.

1948 entdeckten die Taffanel den typischen Mailhacien-Stil, der heute weltweit anerkannt ist. Er gab einer durch geometrische Muster dargestellten Periode seinen Namen und bezeichnete den Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit in Westeuropa (9 -8. Jahrhundert v. Chr.). Zehn Jahre nach ihrem Tod enthüllte Mailhac am 17. September 2022 eine Plakette zu ihren Ehren.


Der Beitrag von Leonore Ander ist ein Gastartikel in einer Reihe, in der alle, die dazu Lust haben, ihre Verbundenheit zu Frankreich ausdrücken können. Ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Frankreich, Erlebnisse, Gedanken. Ihr wollt mitmachen? Dann denkt bitte daran: 

• Keine PDFs.

• Text: per Mail in Word, Open Office oder per Mail. Denkt daran, euch mit ein, zwei Sätzen persönlich vorzustellen.

• Fotos: Bitte schickt nur eigene Bilder und jene möglichst im Querformat und immer in Originalgröße. Sendet sie gebündelt mit www.WeTransfer.com (kostenlos & top!)  – oder EINZELN ! – per Mail. Bitte denkt an ein Foto von euch – als Beitragsbild muss dies ein Querformat sein.

• Ganz wichtig: Euer Beitrag darf noch nicht woanders im Netz stehen. Double content straft Google rigoros ab. Danke für euer Verständnis.

Vor der Veröffentlichung erhaltet ihr euren Beitrag zur Voransicht für etwaige Korrekturen oder Ergänzungen. Erst, wenn ihr zufrieden seid, plane ich ihn für eine Veröffentlichung ein. Merci !

Ich freue mich auf eure Beiträge! Alles bisherigen Artikel dieser Reihe findet ihr hier.

2 Kommentare

  1. Sehr geehrte Frau Zander!
    Vielen herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Diese Leidenschaft von Odette als auch Ihre Leidenschaft für die Menschen, denen sie begegnen, berühren mich sehr.
    Mit freundlichen Grüßen
    S. Groth

  2. Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel. Er hat mich sehr berührt. Es ist vor allem auch diese Leidenschaft, diese Liebe und diese Überzeugung die zu Herzen geht. Wunderschön. Danke

    Beatrice

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