Oradour-sur-Glane lässt die Gräuel der Nazis am besten spüren, wenn der Tag noch jung ist - und man unter den ersten Besuchern des Village des Martyrs ist. Foto: Hilke Maunder

Oradour-sur-Glane: ein Dorf als Mahnmal

Das Grauen hat einen Namen: Oradour-sur-Glane. Es gibt keinen Ort in Frankreich, der mich mehr berührt hat, tief aufgewühlt und für immer in meinem Gedächtnis verankert hat.

Sanft umhüllt der Nebel das Dorf Oradour-sur-Glane im Département Haute-Vienne, früher Teil des Limousin. Mit seinen 1.574 Einwohnern war der Marktflecken so groß, dass am Samstag die Bewohner aus der 20 Kilometer entfernten Porzellanstadt Limoges mit der Tram nach Oradour-sur-Glane fuhren, um ein Fußballmatch zu erleben. Auch wurden an diesem Tag die Tabakvorräte aufgestockt, was zusätzlich lockte.

Das Leben in Oradour-sur-Glane war friedlich, der Zweite Weltkrieg weit weg, Gärten und Äcker sorgten für Auskommen. Einige Eltern hatten ihre Kinder zu Verwandten und Freunden im Dorf geschickt, damit sie dort sicherer seien als in Limoges, wo die Banner der Nazis die Fassaden erobert hatten und schwere Stiefelschritte zu hören waren.

Und so setzten sich auch an diesem Samstag die Fußballfans aus Limoges in die Tram und fuhren nach Oradour-sur-Glane. Es war der 10. Juni 1944. 14 Uhr schlugen die Glocken, als an diesem Samstagnachmittag Soldaten der Waffen-SS das Dorf umstellten. 

Mit einem Dutzend Lastwagen, denen gepanzerte Fahrzeuge vorausfuhren, waren 207 Männer der Waffen-SS von Saint-Junien aus aufgebrochen. Als sie sich Oradour-sur-Glane näherten, teilte sich die SS-Kolonne. Ein Teil umschloss den Ort, der andere Teil drang in ihn ein und trieb die Bewohner auf dem Marktplatz zusammen, angeblich für eine Identitätskontrolle

Eine Stunde lang dauerte die bange Zeit des Wartens. Einige Menschen versuchten zu fliehen oder sich zu verstecken: entflohene Kriegsgefangene, ausländische Flüchtlinge, französische Juden und andere. Einem Vater gelang es, seine beiden Töchter und seinen behinderten Sohn zu verstecken, ehe er sich zum Sammelplatz begab.

Dann trennte man Männer von Frauen und Kindern. Die Männer wurden zu den fünf Scheunen des Dorfes gebracht, wo sie als erstes die Karren herausholen mussten, die dort abgestellt waren, ehe sie dort zusammengepfercht wurden.

Sorgfältig fegten danach die Soldaten der Waffen-SS vor den Eingängen, um die Maschinengewehre sauber in Stellung zu bringen. Mit einem Schuss aus seinem Maschinengewehr gab Hauptmann Kahn das Signal zur Eröffnung des Feuers.

In jeder Scheune hagelte es nun ein Trommelfeuer. Als der letzte Mann fiel, gingen die Soldaten zu den Männer, um Verwundete zu töten, die auf dem Boden lagen. Dann erhielten sie den Befehl, die Leichen mit Holz zu bedecken und Öl darüber zu gießen, um ein Feuer zu entfachen.

Es sollte die Leichen völlig unkenntlich machen und dafür sorgen, dass die Familien ihre Toten nicht finden und somit nicht in Würde trauern konnten. Sechs Männer entkamen dem Massaker in der Scheune Grange Laudy. Einer der beiden wurde auf der Flucht getötet. Die anderen fünf verschanzten sich in den Büschen und flüchteten später in der Nacht in den Rauch.

Sämtliche Frauen und Kinder trieb die Waffen-SS in die Dorfkirche. Dort kamen Unteroffiziere herein und feuerten Salven aus Maschinenpistolen ab, andere warfen Handgranaten. Nachdem sie im Kirchenschiff eine Kiste mit Erstickungsgranaten gezündet hatten, versuchten die Soldaten der Waffen-SS, das Gewölbe der Kirche zu sprengen, was ihnen jedoch nicht gelang.

Schließlich steckten sie die Kirche in Brand. Zwei Frauen, eine davon mit einem Baby, gelang es, sich dem Gemetzel mit Flucht durch das Buntglasfenster hinter dem Altar zu entziehen. Nur eine von ihnen überlebte ihre Verletzungen: Marguerite Rouffanche. Die ganze Nacht und einen Teil des nächsten Tages wartete sie hinter der Kirche auf Hilfe.

In diesem Moment erreichte die reguläre Abendstraßenbahn Oradour-sur-Glane. Alle Fahrgäste mit Ziel Oradour-sur-Glane wurden gezwungen, auszusteigen. Auch ihnen drohnte zunächst die Erschießung. Doch dann wurden sie vertrieben und am Leben gelassen.

Am nächsten Tag löste ein Zug der Waffen-SS diejenigen ab, die die Nacht in dem niedergebrannten Dorf verbracht hatten. Diese Soldaten verwischten gezielt die Spuren des Massakers. Bewusst verhinderten sie so die Identifizierung der Opfer. Oradour-sur-Glane wurde zu einem Ort ewiger Trauer.

642 Menschen, fast die Hälfte des Dorfes, wurden ermordet, darunter 245 Frauen und 207 Kinder. Einen Säugling steckten die Soldaten vor den Augen der Mutter in einen Backofen. Weniger als zehn Prozent der Leichen konnten identifiziert werden. Nur sechs Einwohner überlebten das Massaker: fünf Männer und eine Frau. Weitere 30 Überlebende versteckten sich im Inneren des Ortes, und auch die rund 15 Menschen, die aus der Straßenbahn ausgestiegen waren, blieben verschont.

Nach dem Massaker plünderten SS-Soldaten die Häuser und brannten das gesamte Dorf nieder. Die Ruinen wurden – so das Gesetz über die Erhaltung der Ruinen und den Wiederaufbau von Oradour-sur-Glane vom April 1946 – nach dem Krieg als Mahnmal erhalten, während das Dorf in unmittelbarer Nähe in den 1950er-Jahren wieder aufgebaut wurde.

Die genauen Motive für das Massaker sind bis heute nicht vollständig geklärt. Handelte es sich um eine Vergeltungsaktion für Aktionen der französischen Résistance und sollte mit dem Massaker ein Exempel statuiert werden? Ziel war es sicherlich, Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Morde im deutschen Auftrag stellen schwere Kriegsverbrechen dar und haben tiefe Narben in den betroffenen Gemeinden und Ländern hinterlassen.

Oradour-sur-Glane war ein pulsierendes, lebendiges Dorf mit zahlreichen Gewerbetreibenden und Geschäften. Foto: Hilke Maunder
Oradour-sur-Glane war ein pulsierendes, lebendiges Dorf mit zahlreichen Gewerbetreibenden und Geschäften. Foto: Hilke Maunder

Die Massaker der SS

Das Massaker von Oradour-sur-Glane steht symbolisch für die Gräueltaten der deutschen Besatzung in Frankreich. Es wurde zum Sinnbild für ungesühnte Nazi-Verbrechen, da nur wenige der Täter jemals zur Rechenschaft gezogen wurden.

Oradour-sur-Glane ist jedoch nicht der einzige Ort, an dem die Waffen-SS Massaker an Zivilisten verübt hat. Zeitgleich zu Oradour-sur-Glane, ebenfalls am 10. Juni 1944, verübte eine Einheit der Waffen-SS ein Blutbad im griechischen Ort Distomo, bei dem 218 Zivilisten getötet wurden.

In Ascq tötete die SS am 1. April 1944 86 Zivilisten. Am 9. Juni 1944 wurden 99 Zivilisten von der SS in Tulle, Hauptstadt des Départements Corrèze, ermordet. Am 25. August 1944 schossen SS-Truppen im französischen Dorf Maillé 124 Zivilisten nieder.

Die Elsässer der SS

Unter den SS-Männern, die am Massaker von Oradour-sur-Glane beteiligt waren, befanden sich auch Elsässer. Ihre genaue Zahl ist umstritten, aber es wird geschätzt, dass etwa 10-15 Prozent der an dem Massaker beteiligten SS-Männer Elsässer waren.

Nach der deutschen Besetzung des Elsass 1940 waren viele junge Elsässer zwangsweise in die deutsche Wehrmacht und auch in die Waffen-SS eingezogen worden. Doch diese Rekrutierungen erfolgten meist gegen den Willen der Betroffenen – und werden daher als Malgré-nous bezeichnet.

Die Beteiligung der Elsässer führte zu erheblichen Spannungen in der Nachkriegszeit. Bei einem Prozess in Bordeaux 1953 standen 21 französische SS-Männer vor Gericht, darunter 14 Elsässer. Die Verurteilung der Elsässer löste im Elsass Proteste aus, da viele sie als Opfer der Zwangsrekrutierung sahen.

Die französische Regierung geriet unter Druck und erließ kurz nach Ende des Prozesses 1953 eine Amnestie für die verurteilten Elsässer. Dieser Schritt führte wiederum zu Empörung bei den Überlebenden und Angehörigen der Opfer von Oradour-sur-Glane.

Für sie bedeutete diese eine zweite tiefe Wunde: „Man lässt Mörder frei“, war ihr Eindruck. Die nationale Vereinigung der Familien der Märtyrer beschloss daraufhin, die Asche ihrer Ermordeten nicht in die von den staatlichen Stellen errichtete Kapelle zu überführen, sondern ein eigenes Grab zu bauten: die Laterne der Toten auf dem Friedhof.

Die Beteiligung der Elsässer am Massaker von Oradour-sur-Glane bleibt ein sensibles Thema in der französischen Geschichte und verdeutlicht die komplexen Verstrickungen und Zwangslagen, die der Zweite Weltkrieg für viele Menschen mit sich brachte. Der Weg zur Gedenkstätte von Oradour-sur-Glane war daher ein langwieriger, sehr vorsichtiger Prozess, geprägt von vielen Abstimmungen und Abwägungen.

Das neue Dorf

1945 erklärte General de Gaulle am 4. März, dass Oradour-sur-Glane zum „Symbol der Leiden des französischen Volkes während der vier Jahre der Besatzung“ werden sollte. 1946 wurde der Gesetzentwurf zur Erhaltung der Ruinen und zum Wiederaufbau von Oradour-sur-Glane ohne Debatte in der Nationalversammlung verabschiedet.

Am 12. Juni 1947 legte Staatspräsident Vincent Auriol den Grundstein für das neue Oradour-sur-Glane neben dem zerstörten Dorf. 1953 war der Wiederaufbau offiziell abgeschlossen. In diesem Jahr wurde auch ein Denkmal für die Opfer des Massakers vor dem Friedhof errichtet.

Die Gedenkstätte

1989 legte die Initiative für ein Dokumentationszentrum (Centre de la mémoire) ihr Projekt dem damaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand vor, 1992 folgte eine internationale Ausschreibung für die Projektleitung für das Centre de la mémoire.

Das Konzept des Architekten Yves Devraine und seines Teams stellt die Ruinen und Landschaft über die Bedeutung des Baus. Es sollte in einer Art „Nichtarchitektur“ entstehen. Das Centre wurde teilweise in den Boden versenkt, um nicht von den Ruinen abzulenken oder sie zu verdecken.

Ein zentrales Element ist ein Riss im Gebäude, den verrostete Stahlplatten andeuten. Dieser Riss soll durch seine Form die Zerstörung symbolisieren und durch das Material die Vergänglichkeit verdeutlichen. 1999 eröffneten der frühere Präsident Jacques Chirac und die damalige Kulturministerin Catherine Trautmann die Gedenkstätte.

Ein Malbuch, eine Kinderstrickjacke: Jedes Objekt der Aussstellung im Centre de Mémoire erzählt ein ausgelöschtes Leben. Foto: Hilke Maunder
Ein Malbuch, eine Kinderstrickjacke: Jedes Objekt der Aussstellung im Centre de Mémoire erzählt ein ausgelöschtes Leben. Foto: Hilke Maunder

Aufklärung und Friedensarbeit

Im Département Haute-Vienne ist ein Besuch von Oradour-sur-Glane fest im Curriculum verankert. Alle Schulkinder fahren dorthin. Das Ziel: Verständnis und Verantwortung zu wecken, kollektive Verantwortung zu zeigen und Erinnerungsarbeit zu leisten.

Katia Brantôme, die dort Führungen veranstaltet, erzählt: „Es macht mir Spaß, die Jugendlichen zum Nachdenken über diese Themen anzuregen. Weit entfernt von den Überlegungen der Erwachsenen, die politisch, hasserfüllt oder gar rassistisch sein können, arbeiten wir am Zusammenleben, an Wohlwollen und Respekt für den anderen über seine Ideen und Ansichten hinaus.“

Katia berichtet: „Wir gehen alle bereichert nach Hause, die Großen wie die Kleinen, und ich habe die Botschaft weitergegeben und werde nie aufhören, sie weiterzugeben. Trotz der aktuellen Konflikte muss es weitergehen. Aufgeben hieße, unsere Menschlichkeit zu vergessen.“

Die Eindrücke ihrer Großmutter, die damals 13 Jahre alt war, hat sie dabei immer im Ohr. „Sie erzählt mir oft Folgendes: Von Limoges aus konnte sie vom Fenster ihres Zimmers aus die schwarzen Rauchschwaden beobachten, die in Richtung Oradour kamen. Alle fragten sich, was da vor sich ging. Und sie erinnert sich an die Tränen ihrer Mutter, als die Nachricht am Sonntagmorgen in Umlauf gebracht wurde.“

Katia beendet ihre Führungen gerne im Meditationsraum, der zum Centre de Mémoire gehört – einem Raum, der es erlaubt, in Stille die Eindrücke zu verarbeiten und das Gesehene einzuordnen. Und gibt zum Abschied gerne Aphorismen wie diesen mit, der heute nie aktueller war:

Ceux qui oublient le passé se condamnent à le revivre.
Diejenigen, die die Vergangenheit vergessen, verurteilen sich selbst dazu, sie wieder zu erleben.

Georges Santayana (1863-1952)
Der spanische Philosoph gilt als führender Vertreter des kritischen Realismus,

Deutschland und Oradour

2013 reiste Bundespräsident Joachim Gauck nach Oradour-sur-Glane. Er war das erste deutsche Staatsoberhaupt, das die Gedenkstätte besuchte. In seiner Rede teilte er die „Bitterkeit darüber, dass Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt blieben“.

Eine formelle Entschuldigung im engeren Sinne wurde nicht ausgesprochen. Dennoch war seine Rede bedeutsam, war es doch das erste Mal, dass Deutschland offiziell anerkannte, dass das Verbrechen von Soldaten in deutscher Uniform begangen wurde.

Der Besuch Gaucks 2013 markierte einen Wendepunkt in der gemeinsamen Erinnerungskultur und bedeutet eine Erschwernis für alle, die die Verbrechen der Nazis leugnen oder revidieren wollen.

Die juristische Aufarbeitung in Deutschland war lange Zeit unzureichend. Erst 1975 wurde ein Zusatzabkommen ratifiziert, das Ermittlungen der deutschen Justiz ermöglichte. 2011 eröffnete die Staatsanwaltschaft Dortmund ein Ermittlungsverfahren, das jedoch nicht zu einem Prozess führte.

Heute ist Oradour-sur-Glane ein Symbolort, der weit über den deutsch-französischen Kontext hinaus Bedeutung hat. Es ist als Mahnmal gegen Krieg und Manifest für Frieden – weltweit.

Oradour-sur-Glane: meine Reisetipps

Hier könnt ihr schlafen*

 

Weiterlesen

Im Blog

Alle Beiträge aus de Département Haute-Vienne vereint diese Kategorie.

Im Buch

* Durch den Kauf über den Partner-Link, den ein Sternchen markiert, kannst Du diesen Blog unterstützen und werbefrei halten. Für Dich entstehen keine Mehrkosten. Ganz herzlichen Dank – merci !

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert