Welterbe: die Belfriede Nordfrankreichs
Flach ist das Land im Nordwesten von Frankreich. Keck recken sich dort hohe Türme in den Himmel und wachen über die Städte: beffrois, aus denen Glockenspiele erklingen. Der Film „Willkommen bei den Scht’is“ machte die Belfriede Nordfrankreichs weltberühmt.
Seit 2005 schützt ein grenzüberschreitendes Welterbe in Belgien und Frankreich die Bauten, die vom Stolz der Region künden und bis heute den Takt des Lebens prägen. 23 von ihnen stehen in Frankreich in den Départements Somme, Nord und Pas-de-Calais.
Die schönsten Belfriede Nordfrankreichs
Ob romanisch, barock oder neugotisch, frei stehend oder angelehnt ans Rathaus, aus Stein oder Beton: Die Belfriede Nordfrankreichs erzählen in ihrer Vielfalt eine faszinierende Geschichte von den Anfängen starker mittelalterlicher Städte bis zum Wiederaufbau im 20. Jahrhundert.
Während die ersten Bauten ganz praktische Aufgaben erfüllten, wie z. B. als Feuerausguck und Wachturm, als Ort von Schöffenversammlungen oder Stadtarchiv, wandelten sich die Belfriede Nordfrankreichs im Laufe der Zeit immer mehr zum Symbol von Macht und Einfluss.
Schutz und Macht
Einige der Belfrieds Nordfrankreichs waren auch als Verteidigungsanlagen konzipiert und mit Wehrgängen, Schießscharten und anderen Verteidigungseinrichtungen ausgestattet, um die Stadt vor Feinden zu schützen. Diese Funktionen erhielten vor allem die Belfriede größerer oder strategisch wichtiger Städte wie Lille oder Arras.
Andere Belfriede Nordfrankreichs wiederum dienten als Gefängnis. In Hesdin lässt sich ein solcher Kerker im Belfried besichten – als Teil des Stadtmuseums im Rathaus.
Lille: der Wolkenkratzer Flanderns
Die jahrhunderte alte Symbolik der Belfriedse Nordfrankreichs nutzte auch Émile Dubuisson – und entwarf 1930 für die Hauptstadt von Hauts-de-France 1930 Frankreichs erstes Gebäude aus Stahlbeton.
104 Meter hoch ragt der Belfried von Lille über dem Rathaus auf – und hatte flugs seinen Spitznamen: Wolkenkratzer von Flandern! 400 Stufen – und ein schneller Aufzug – führen hinauf zur Aussichtsplattform. 30 Kilometer weit reicht der Weitblick über die Metropole, den die Einheimische genießen.
Arras: neuer Kern, alte Schale
Viel größer ist der Andrang beim Glockenturm von Arras. Sein Äußeres gleicht der Gotik aus seinem Baujahr 1554. Sein Inneres wurde nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs wieder aufgebaut: Stahlbeton innen, Sandstein außen.
Nur 40 Stufen trennen das Entree von der Aussicht – dennn zunächst saust ein Aufstuhl nach oben. Nur die letzten Meter überwindet eine Treppe. Aus 75 Metern Höhe schweift der Blick über die Place des Héros, den Heldenplatz mit 155 flämischen Barockfassaden, hin ins grüne Umland.
Calais: Ausguck am Ärmelkanal
Genauso hoch ist der Belfried von Calais, dessen Spitze vier Fialen schmücken, schlanke, spitz auslaufende Türmchen. Sie verbergen das Glockenspiel, das vollelektronisch zu jeder Stunde Gentille Annette von Boieldieu erklingen lässt.
Mehr als 700 Jahre Jahre weit zurück reichen die Wurzeln des Wahrzeichen von Calais. Im Jahr 1295 begann sein Bau. Im Turm saß einst ein Wächter, der Stadt und Kanal rund um die Uhr beobachtete. Hier trafen sich die Schöffen. Und gab die Stadt die Zeit vor.
Als Symbol des Reichtums wurde die Uhr im Belfried mit größter Sorgfalt gepflegt. Ihre Zifferblätter sind genau auf die vier Himmelsrichtungen ausgerichtet: nach Norden, Süden, Osten und Westen. Der heutige Turm entstand im frühen 20. Jahrhundert im Stil der Neogotik aus rotem Backstein aus Kortrijk und weißem Kalkstein der Küste.
Doullens: Belfried in der Provinz
Auch in Doullens erhebt sich einer der Belfriede Nordfrankreichs. Doch Beachtung findet er kaum, touristisch beworben wird er ebenso nicht. Umso neugieriger war ich – und fuhr auf der N25, die bei der Stadteinfahrt den Oberlauf der Authie schneidet, ins Zentrum von Doullens.
Rechterhand einige Wohnhäuser, links Gewerbe. Hm. Sollte ich bleiben? Doch die Neugier überwog. Und belohnte mich. Schmucke Backsteinhäuser und Jahrhunderte alte Feldsteinhäuser mit weißen Fensterläden säumen schmale Straßen.
Üppiger Neobarock und Fahnenschmuck ziert das Rathaus, aus dem Belfried erklingen Glockentöne. Einige Cafés haben ihre Stühle auf den Gehweg gestellt. Eine herrliche provinzielle Ruhe liegt in der Luft, vermischt sich mit dem Geruch von Brathähnchen, die ein mobiler Imbiss grillt.
Ein kleiner Abstecher
Jenseits der Authie versteckt sich im Grünen die alte Zitadelle von Doullens, deren Bau unter Franz I. im Jahr 1530 begonnen wurde. Damals war die Befestigungsanlage eine der ersten ihrer Art in Frankreich.
Nachdem sie durch den Pyrenäenfrieden ihre militärische Funktion verloren hatte, diente sie als Gefängnis. Erst wurden Revoluzzer wie Auguste Blanqui und Armand Barbès eingekerkert, in den 1950er-Jahren Frauen.
1968 „saß“ hier auch Horst Buchholz ein. Der Knast war Kinokulisse im Film „Astragal“. Den Verfall des Militärerbes stoppten engagierte Einheimische. Sie gründeten 1974 den Verein Les Amis de la Citadelle und sorgten dafür, dass das wehrhafte Fünfeck auf die Ergänzungsliste der Monuments Historiques eingetragen wurde. 1987 feierten sie innerhalb ihrer Mauern erstmals die Fête des Plantes du Nord de la France, 2017 bereits sein 30-jähriges Bestehen.
Dunkerque: der Hafenwächter
Nur wenige Schritte von den Kais von Dunkerque eentfernt, reckt sich seit dem 14. Jahrhundert der Belfried der Hafenstadt auf – 58 Meter hoch mit acht Etagen. Wie die meisten Belfriede Nordfrankreichs wurde auch dieser beffroi zunächst als Wachturm aus Backstein und Sandstein erbaut und später als Glockenturm genutzt.
Bergues: Star einer Filmkomödie
Berühmtester aller Belfriede Nordfrankreichs ist der beffroi von Bergues. 2008 diente er als Kulisse für die Kino-Komödie „Willkommen bei den Sch’tis“. Der 48 Meter hohe, gotische Turm diente ursprünglich als Wachturm, später als Glockenturm und schließlich als Uhrturm.
Auf einer engen Wendeltreppe geht es über sechs Etagen hinauf zur Aussichtsplattform auf der Spitze des Turms. Sie eröffnet einen atemberaubenden Blick über die Stadt und die Umgebung. Diesen wollte auch ein Mann erhaschen, der im Jahr 2016 von außen den Belfried zu erklettern begann, um einmal das Stadtfest von oben zu sehen. Der Versuch misslang. Der Mann stürzte ab und verletzte sich schwer.
Tipp
Von Blogleserin Brigitte Stegen stammt dieser Tipp: In Bergues gibt es im kleinen Jardin du Groenberg Info-/Schautafeln rechts und links des Hauptwegs, auf denen (ehemalige) Bewohner:innen der Stadt erzählen, was sie besonders mit „ihrem“ Belfried verbindet. Es las sich so, als sei er Teil ihrer Identität, und diejenigen, die den 2. Weltkrieg erwähnten, zeigten sich alle sehr getroffen über seine Zerstörung, die die Deutschen noch schnell anzettelten, bevor ihre Armee den Rückzug antreten musste.
Aire-sur-la-Lys: Das Wunder der Hallettes
Den Belfried von Aire-sur-la-Lys hielt ich zunächst für einen Kirchturm. Erst beim Näherkommen sah ich, dass auch er Teil des Rathauses war. Das Rathaus ist recht ungewöhnlich in Aire-sur-Lys. Es birgt einen Durchgang namens Hallettes. Die Mini-Hallen wirken recht vernachlässigt.
Und doch bergen sie etwas Wunderbares. Die alte Stadtbibliothek samt Stadtarchiv ist ein herrlicher Büchertempel, der Jahrhunderte lebendig werden lässt – auch dank seiner unglaublich kundigen Leiterin. Doch er platzt aus allen Nähten, und so sind auch die Tage dieses Kleinods wohl gezählt.
Es ist erstaunlich, zu welchen Orten die Landpartie auf den Spuren der Belfrieds Nordfrankreichs überall hinführen kann. Und auch in Aire-sur-la-Lys heißt es natürlich: hinauf auf den Turm aus dem 16. Jahrhundert.
Jenseits der Häuser des Zentrums umfließt noch frei die Lys die alte Stadt, hat Zuflüsse aus zig kleinen Bächen und wird dann eingezwängt in ein Bett aus Beton.
Cambrai: Schmuckes Trauerspiel
Die mit dem Handel stark gewordenen Städte waren nicht selten Kirche und Krone eine Dorn im Auge. Nur ungern gewähreten die Herrschenden das Recht, einen Belfried zu besitzen. Cambrai wurde dies recht früh gewährt, doch 1095 ordnete Bischof Manasses seine Zerstörung an. 1207 wieder aufgebaut, war es nun Heinrich II., der ihn zerstören ließ.
1395 garantierte Kaiser Wenzel Cambrai erneut das Recht auf einen Belfried. Doch Zerstörung und Wiederaufbau sollten weitere sechs Jahrhunderte lang sein Schicksal sein. Mal war es ein Blitzschlag, dann eine Belagerung, dann Kriege und Schlachten, die das Symbol der Stadt zerstörten.
Erst 1920 erhielt der Belfried von Cambrai jene vier Figuren, die heute seine Spitze schützen. Sie stellen im Nordosten einen fränkischen Anführer, im Südosten einen Bogenschützen der Stadtmiliz, im Südwesten Louise von Savoyen, die Mutter von Franz I., die 1529 den Frauenfrieden unterzeichnete, und im Nordwesten den Marquis de Cézen, den ersten Gouverneur von Cambrai nach der Einnahme der Stadt durch Ludwig XIV. dar.
246 Stufen führen hinauf zur Aussichtskanzel. Doch diese ist verschlossen. Die Treppe ist baufällig. Und bislang zeigt Cambrai keinen Ambitionen, in seinen Belfried Geld zu stecken. Das Symbol der Stadt scheint nicht mehr ihr Stolz.
Béthune: der große Kleine
Zerstörung und Wiederaufbau: Auch der Belfried von Béthune hat dies gleich zweimal erlebt. 1664 zerstörte ein Feuer die Tuchhalle zu seinen Füßen, 1918 prasselten Weltkriegsbomben auf ihn nieder. Doch seit 1921 strahlt er jeden Abend auf der Grand’Place und belegt, dass die Belfriede Nordrankreichs bis heute Symbolkraft besitzen. Und wunderschöne Glockenspiele. In Béthune mit 35 Glocken!
Douai: schönstes Juwel der Belfriede Nordfrankreichs
Doch das Ranking als schönster und beliebtester der Belfriede Nordfrankreichs gewinnt stets der Belfried aus Douai.
Zwar bringt der gotische Bau aus dem frühen 15. Jahrhundert es nur auf 54 Meter Höhe, doch Ausstattung und Innenleben machen dies wett. Wer im Innern die 196 Stufen empor steigt, kommt erst in den Wachraum mit seinem riesigen Kamin, dann zum Saal der Glöckner und schließlich zur Glockenkammer, in der die 62 Glocken des bedeutendsten Glockenspiels Frankreichs vereint sind.
Jede Viertelstunde erklingt vollautomatisch ein Ritornell aus einem Rondo. Doch am Sonnabend setzt sich Stefano Colletti als Maître-Carillonneur der Stadt an das Manual, schlägt mit seinen Fäusten und Füßen die Glocken an und spielt 20 Minuten lang eine Sonate.
Auf den Spuren der Belfriede Nordfrankreichs
Le Musée du Carillon, Tourcoing
Das Musée du Carillon stellt in Tourcoing Herstellung, Gebrauch und Bedeutung der Belfriede Nordfrankreichs und ihrer Glockenspiele in der Kirche Saint-Christophe vor. Sie birgt ein carillon mit 62 Glocken, der zu den vier ältesten des Landes gehört. Eine steinerne Wendeltreppe führt zu den Ausstellungsräumen auf drei Ebenen. Der erste Saal stellt die drei Glockenspiele von Tourcoing vor.
Das carillon von 1701 bestand aus 25 Glocken, die im Zuge der Revolutionswirren jedoch verschwanden. Das zwischen 1819 und 1823 restaurierte Glockenspiel ertönte bis 1870 und verschwand 1917 während des Ersten Weltkriegs. Es besteht aus drei Glocken, die 1823 in Amiens gegossen wurden. 1961 wurde das dritte Glockenspiel installiert.
Die Salle Emile Gilliöen auf der zweiten Ebene widmet sich der Herstellung der Glocken, ihrer Taufe und ihren vielen Funktionen in Kirche, Haushalt, Arbeit, Verkehr und Schule und Unterricht. Die dritte Ebene zeigt eine Sammlung von Kreuzen und Kirchenturmhähnen sowie eine Reihe von Rasseln und Holzglocken.
• Place de la République, 59200 Tourcoing, Tel. 03 59 63 43 41, www.tourcoing.fr
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