Die Rentrée Littéraire 2024: die Top-Titel

La Rentrée Littéraire 2024: die Top-Titel

Die Rentrée Littéraire ist ein jährlich wiederkehrendes Phänomen in Frankreich. Parallel zur Rückkehr in den Alltag, an den Arbeitsplatz, die Uni oder die Schule stapelt sich in den rund 15.000 Buchverkaufsstellen und 1.000 „echten“ Buchhandlungen des Landes eine verführerische Vielzahl neuer und aufregender literarischer Werke.

435 Millionen Bücher wandern dort jährlich über den Ladentisch, herausgegeben von den rund 3.000 Verlagshäusern in Frankreich oder ausländischen Verlagen. Als Katalysator der Branche, die zuvor Zeichen der Schwäche gegenüber den digitalen Medien gezeigt hatte, bewies sich die Corona-Pandemie. Sie beschwerte der Branche mit einem Umsatzanstieg von 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr das bislang ungeschlagene Rekordjahr 2021.

Diese Spitze ist inzwischen etwas abgeflacht, doch die Lust am Lesen hat inzwischen auch die junge Generation wiederentdeckt – auch dies spiegelt die Rentrée Littéraire 2024.

Von der Globalisierung über die Erforschung der Banlieue bis hin zu Erzählungen der Provence und Zeitreisen in das Paris zwischen den Kriegen: Die Rentrée Littéraire 2024 bietet allerbesten Lesespaß für jeden Geschmack.

Meine Favoriten der Rentrée Littéraire 2024

Magali Desclozeaux, Die Concierge ist auf See* (Une loge en mer*)

Mein Lieblingsbuch der Rentrée Littéraire 2024 ist das schmalste Bändchen unter den hier vorgestellten Werken. Es ist eines jener Bücher, von denen man bereits nach den ersten Sätzen weiß: Man wird es wieder lesen. Der Briefroman von Magali Desclozeaux, 2021 im Original bei der Édition du Faubourg erschienen, ist ein solches Kleinod– und wohl das ungewöhnlichste wie unterhaltsamste Werk der Rentrée littéraire 2024 zu einem aktuellen wie komplexen Thema: der Globalisierung.

Ninon Moinot, eine jahrzehntelang die Geländer putzende und Mülltonnen vor die Haustür stellende Pariser Concierge, erhielt durch ein ausgeklügeltes Finanzkonstrukt mit Monsieur Richard Le Roy, dem mysteriösen Eigentümer des Gebäudes in der Rue Corderie Nr. 5 in Paris, statt einer Rente eine „Loge auf See“ in einem der 10.000 Container der MS Shipflower.

Sie hatte einen atemberaubenden Blick auf alle Küsten der Welt, einen Kronleuchter und einen Fauteuil. Aber nach 77 Tagen auf See merkt sie, dass der Mensch nicht dafür geschaffen ist, in einem zwölf Kubikmeter großen Kasten zu leben, und Ninon möchte wieder zurück an Land, heim nach Paris, und das Rascheln der Herbstblätter unter ihrem Besen hören.

Leider erweist sich die Auflösung des „Leibrentenvertrags“ als ein Weg voller bürokratischer Hürden, verraten die Briefe, die Ninon vom Meer aus schickt, erst an Clémentine Noisette, dann an den Gärtner Aimé Cosat. Die Rückabwicklung des Leibrentenvertrags wirft spannende wie kuriose Schlaglichter auf skrupellose Finanzhaie, perfide Sprachspiele von Bürokraten, geldgierige internationale Spekulanten und ihren Spielball, die Globalisierung. Ihre Welt kontrastiert sich in den zarten Banden, die der Briefroman zwischen Ninon und Aimé knüpft.

Die Concierge ist auf See* ist eine bitter-süße Erzählung, eine brillante Fabel zu den Folgen der Globalisierung – und 167 Seiten lang äußerst unterhaltsamer Lesespaß. Hier* könnt ihr das französische Original bestellen, hier* das Buch in der deutschen Übersetzung von Merle Struve-

Anne Weber, Bannmeilen*

Für Schlagzeilen sorgt bei der Rentrée Littéraire 2024 eine Deutsche: Anne Weber, Jahrgang 1964. Mit 19 Jahren ging sie nach Paris, wo sie seit 40 Jahren intra-muros in Paris lebt. Und damit innerhalb des Périphérique. Die Banlieue war für sie ein völlig fremdes Terrain.

Mit Thierry, einem Dokumentarfilmer mit algerischen Wurzeln, läuft ihr Alter Ego als literarische Kunstfigur im Vorfeld der Olympischen Spiele 2024 durch das Département Seine-Saint-Denis und erlebt eine Banlieue, die Drogen und Gewalt, Not und Armut prägen. Einkaserniert in riesige, cités genannte Großwohnsiedlungen, fristen sie ein trostloses Leben zwischen chouffeurs, den Spähern der Drogenkuriere, und Hähnchengrills auf Einkaufswagen.

Die fiktive autobiografische Erzählerin, die bisher kaum Interesse an diesen Gebieten hatte, entdeckt eine neue Welt – und stößt auf Themen wie Migration und soziale Ungleichheit als Folge der Kolonialgeschichte. Exemplarisch fokussiert sie sich dabei auf die Geschichte Algeriens und die Folgen der dortigen Entkolonialisierung. Sie entdeckt den muslimischen Friedhof von Bobigny, die Camembert genannten Sozialwohnungsbauten von Noisy-le-Grand und der Cité de la Muette, die 1931-37 als habitation à bon marché (HBM) erbaut worden war und ab 1941 während der deutschen Besatzung als Internierungslager für 63.000 Pariser Juden diente, die von Drancy nach Auschwitz geschickt wurden.

Sie erfährt von Boughéra El Ouafi, einem französischen Marathonläufer algerischer Herkunft, der bei den Olympischen Spielen 1928 die Goldmedaille gewann, trifft in Clichy-sous-Bois, einer der ärmsten und problematischsten Gemeinden in der Pariser Banlieue, auf die Spuren der Unruhen von 2005, wagt sich kaum hinein in die Cité du Pont-Blanc und findet als einzigen Rückzugsort bei ihren Streifzügen ein (fiktives) Café in der Rue Roland Vachette, zugleich ein Mikrokosmos und Spiegel der Gesellschaft der Banlieue im Neuf-Trois, wie das Département Seine-Saint-Denis nach seiner Ordnungsnummer 93 umgangssprachlich genannt wird.

Draußen, außerhalb des Schutzraums des Cafés, gibt es keinerlei Interaktion mit den Bewohnern. Angst und Unsicherheit dominieren bei der Erzählerin, die froh ist, mit ihrem franko-algerischen Freund einen Begleiter an ihrer Seite zu haben, der sich in der Banlieue auskennt. Und so ist ihr Buch auch keine Dokumentation, sondern ein Essay und eine Selbstreflexion mit dem Gesehenen und reflektiert die eigene Naivität angesichts einer Welt, die so nah und doch so fern ist.

Mit ihrer literarischen Doku, deren Titel den französischen Begriff ban lieue wortwörtlich übersetzt und in den Plural setzt, vermischt Anne Weber Realität und Fiktion. Webers Frauenfigur und ihr Begleiter bezeichnen ihre Streifzüge selbstironisch als „Banlieue für Extremtouristen“ oder „Alternativtourismus mit sozialem Touch“, was auf eine gewisse Distanz zum Gegenstand hindeutet. Bei den Streifzügen sieht ihre Figur stets auf Wikipedia nach und nutzt die Webseite, um Wissenslücken zu füllen. Dabei wird am Beispiel von Aït Ahmed, einem Politiker aus der algerischen Kabylei, gezeigt, wie sich der Blick auf historische Figuren verändern kann – bzw. interessenbedingt „korrigiert“ wird.

Am stärksten ist das Buch da, wo es Orte vorstellt, die Geschichte geschrieben haben. Geradezu geärgert habe ich mich über die repetitive, klischeehafte Darstellung der Banlieue, die sich sehr stark auf negative Aspekte wie „trostlose Wohnsilos“, „gottverlassene Ladenmeilen“ und „Sperrmüllberge“ konzentriert und ein sehr einseitiges Bild vermittelt – und nicht berichtet wird, dass inzwischen mehrere cités abgerissen wurden, um an einem sozialen Brennpunkt neue Siedlungen zu gestalten, nachhaltiger, mit mehr Grün, mehr Freizeit- und Einkaufsangeboten, stärker durchmischter Bevölkerung und besserem Anschluss an den Nahverkehr.

Auch wirkt es bei Anne Weber so, als sei die Banlieue ein Terrain der Männer. Frauen kommen – außerhalb des Buches – nur muslimisch verhüllt vor. Auch wird durch den Fokus auf die Algerier, die mit 18 Prozent der Bewohner die größte homogene Gruppe im Département 93 stellen, die enorme Vielfalt der Herkunftsländer der Migranten nicht abgebildet – denn neben Marokko (10 Prozent), Portugal (7 Prozent), Tunesien (6 Prozent) sowie Mali, Sri Lanka, Türkei, China (jeweils 4 Prozent) gibt es auch eine bedeutende Präsenz von Einwanderern aus der Elfenbeinküste, besonders in den Gemeinden Villetaneuse, Saint-Denis, L’Île-Saint-Denis, Dugny und Neuilly-sur-Marne.

Kurzum: Die „Bannmeilen“ von Anne Weber zur Rentrée Littéraire 2024 sind ein höchst spannender, interessanter Einstieg für eigene Erkundungen in der Banlieue, die weit mehr ist als das Département 93 – ein Mikrokosmos der Welt, eingeteilt in die sieben Départements und 131 Kommunen. Hier* könnt ihr ihre Streifzüge aus dem Département 93 bestellen.

Ulrich Wickert, Salut mes amis*

Auch Ulrich Wickert hat zur Rentrée Littéraire einen neuen Titel vorgelegt. Der ehemalige Tagesschau- und Tagesthemen-Moderator war jahrelang Korrespondent in Paris, hat neben Hamburg im Hinterland von Antibes ein zweites Zuhause und hat sich in seinen Büchern immer wieder Frankreich gewidmet.

Nach Werken wie Mein Paris* (2021), Frankreich muss man lieben, um es zu verstehen* (2021), Und Gott schuf Paris* (2013) und Vom Glück, Franzose zu sein* (1999) ist jetzt am 29. August 2024 sein Buch Salut les amis* erschienen. Auf 208 Seiten stellt der 81-Jährige die deutsch-französischen Beziehungen aus seiner ganz persönlichen Perspektive vor.

Wickert nutzt dabei seine eigene Biografie, um zu zeigen, wie die einstigen „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich zu den Baumeistern der Europäischen Union wurden. Als Journalist erlebte er, wie sich französische Präsidenten und deutsche Kanzler anfreundeten oder voneinander distanzierten. Das Buch wirbt für die deutsch-französische Freundschaft als zentrale Säule eines starken Europas.

Wickert ist überzeugt: „Als Optimist glaube ich: Ein Krieg zwischen Deutschen und Franzosen ist out, ist Geschichte.“ (S. 197) Wer mag, kann die Frankreich-Zeitreise von Ulrich Wickert, für seinen Stammleser bewusst in größerer Schrift gesetzt, hier* bestellen.

Jean Giono, La Provence*

383 Seiten dick ist der einzige Sammelband der Rentrée Littéraire 2024. Er ist bereits im späten Juni 2024 erschienen und stellt als Taschenbuch all jene Texte vor, in denen sich Jean Giono mit der Provence beschäftigt. Die Texte stammen aus verschiedenen Jahren und umfassen Gionos Betrachtungen über die Landschaft, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen der Provence.

Jean Giono (1895-1970) gehört neben Frédéric Mistral, Alphonse Daudet und Marcel Pagnol zu den bekanntesten französischen Schriftstellern, die in ihren Werken immer wieder der Provence huldigten. Jean Giono wurde in Manosque, einer kleinen Stadt in der Provence, geboren und verbrachte dort den Großteil seines Lebens. Der Sohn eines Schusters und einer Wäscherin begann seine Karriere zunächst als Bankangestellter, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Jean Giono verfasste eine Vielzahl von Werken, darunter Romane, Essays, Gedichte, Theaterstücke und Drehbücher. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Der Husar auf dem Dach*, der u.a. in Cucuron verfilmt wurde, sowie Der Mann, der Bäume pflanzte* über einen Schäfer, der kurz zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den abgeholzten Bergen der Provence beginnt, Bäume zu pflanzen.

Der zur Rentrée Littéraire 2024 vorgestellte Sammelband zeigt, aus welch unterschiedlichen und immer neuen Blickwinkeln Jean Giono seine Heimat sah – und ihr Flair, ihre Natur und ihre Bewohner lebendig, bildhaft und überraschend einfangen konnte. Seine Texte, übersetzt von Siglind Schüle-Ehrenthal, lassen bei einer Schmökerstunde im heimischen Sessel sofort die Provence in all ihren Facetten aufleben und bieten auch Kennern des Landstrichs ganz viel Lesegenuss und neue Eindrücke. Zugleich zeigen sie, wie sehr sich der Landstrich im Laufe der Zeit verändert hat durch die Ankunft von Autobahnen und Schnellstraßen, die Giono aus innerstem Herzen tief ablehnte. Hier* könnt ihr den Sammelband aus dem Verlag Matthes & Seitz Berlin bestellen.

Lilia Hassaine, Bittere Sonne* (Soleil amer*)

Zu den vielversprechendsten jungen Stimmen in der zeitgenössischen französischen Literatur, die aktuelle gesellschaftliche Themen in ihren Werken verarbeiten und sehr lesenswert aufbereiten, gehört Lilia Hassaine. 1991 als Französin mit algerischen Wurzeln geboren, legte sie nach ihrem Literaturstudium im Jahr 2015 ihr Diplom am Institut français de presse ab.

Ihr Portfolio umfasst bislang drei Romane. Ihr Debütwerk L’Œil du paon* (Das Auge des Pfaus), das sie an der Côte Fleurie der Normandie verfasste, erzählt eine Geschichte über den Übergang vom Teenager- zum Erwachsenenalter. Panorama*, ihr dritter Roman, spielt in einer futuristischen französischen Gesellschaft im Jahr 2050.

Hassaines zweiter Roman Soleil Amer*, im Sommer 2021 in Frankreich erschienen und sogleich in die première sélection des Prix Goncourt aufgenommen und damit in die Auswahlliste der 16 besten französischsprachigen Romane des Jahres, ist das erste Werk, das zur Rentrée Littéraire 2024 lizenziert und übersetzt wurde. Der Lenos-Verlag brachte den Roman in diesem Jahr in der deutschen Übersetzung von Anne Thomas heraus.

Der Roman begleitet Nadscha, eine algerische Frau, die Ende der 1950er-Jahre mit ihren drei Töchtern nach Frankreich zieht, um ihrem Mann Saïd zu folgen, den die damals florierende französische Autoindustrie in seinem heimatlichen algerischen Bergdorf angeworben hat. Nach fünf Jahren hat Saïd so viel Geld gespart, dass die Familie nachkommen kann. Ihre neue Heimat wird eine Sozialwohnung in einem Vorort von Paris.

Nadscha und ihre drei Töchter starten voller Freude und Zuversicht in das Leben in der neuen Welt. Dort lebt bereits Kader, der ältere Bruder von Saïd, mit Ève in einer Ehe, die zu ihrer Trauer kinderlos bleibt. Als Nadscha erneut schwanger wird, und sogar mit Zwillingen, wird der Nachwuchs aufgeteilt –  ein Geheimnis, das die Familien eint und die Kinder nicht kennen.

Eine fesselnde Handlung, lebendige Charaktere, starke Frauen und viele Einblicke in die frühere und heutige Geschichte der Migration und das Leben in der Banlieue: eine faszinierende Lektüre, berührend, hautnah und Hommage an Algerien. Hier* könnt ihr das französische Original bestellen, hier* das Buch in der deutschen Übersetzung zur Rentrée Littéraire 2024 bestellen.

Elliott Paul, Das letzte Mal in Paris* (Last Time I Saw Paris*)

Bereits 2016 erschienen ist dieses Buch, das ich jedoch erst jetzt entdeckte – und nach einigen durchlesenen Nächten nun aus den Händen gelegt habe. Sein Autor ist der US-amerikanische Journalist Elliot Harold Paul, der, 1891 in Massachusetts geboren, 1925 nach Paris ging, in der Rue de la Huchette lebte und für die Pariser Ausgaben des Chicago Tribune und des New York Herald arbeitete.

1926 gründete er zusammen mit Eugène Jolas die experimentelle Literaturzeitschrift Transition, die mit Texten von Samuel Beckett, Franz Kafka, Gertrude Stein, Dylan Thomas und James Joyce und Titelbildern von Miró, Picasso, Kandinsky und Man Ray zum Sprachrohr der Avantgarde wurde.

Sein zeitgeschichtlicher Roman „Das letzte Mal in Paris“ wurde 1942 von der US-Army als Sonderdruck für die Soldaten, die in Frankreich zum Einsatz kamen, gedruckt und 1944 erstmals auf Deutsch im Stockholmer Exilverlag Bermann-Fischer unter dem Titel „Die kleine Gasse“ veröffentlicht. 2016 brachte der Maroverlag die zweite Auflage dieser Ausgabe heraus. Doch erst acht Jahre später, zur Rentrée Littéraire 2024, weckte dieses Werk die Aufmerksamkeit der Kritiker.

Der Roman ist weniger eine zusammenhängende Handlung als vielmehr eine Sammlung von Episoden und Beobachtungen, die das Leben in der Rue de la Huchette im Quartier Latin von Paris schildern. Elliott Paul porträtiert Ladenbesitzer der Straße, Hotelbesitzer und ihre Gäste, Stammgäste der lokalen Bars und verschiedene Bewohner der Rue de la Huchette mit ihren individuellen Geschichten, ihren Hoffnungen, Ängsten und Alltagssorgen.

Sein Mikrokosmos einer Straße fängt die Atmosphäre einer Stadt ein, die sich im Umbruch befindet und von den Schatten des aufziehenden Krieges bedroht ist. Beim Lesen lebt man in Gedanken in dieser Straße, lacht und sorgt sich – und wundert sich, warum dieser 400 Seiten dicke Roman so wenig bekannt ist.

Das letzte Mal in Paris* gehört für mich zu den besten Büchern über Paris zwischen den beiden Weltkriegen – und zu den vergessenen Perlen der Literatur. Bei der Rentrée Littéraire 2024, schaffte die literarische Zeitgeschichte es auf der Longlist für den Prix Première des Institut français d’Allemagne. Wer mag, kann den Roman hier* bestellen.

Lisa Balavoine, Lass gehen, wen du liebst* (Ceux qui s’aiment se laissent partir*)

Lisa Balavoine ist die Tochter des berühmten französischen Sängers und Songwriters Daniel Balavoine, der 1986 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam. Lisa war zu diesem Zeitpunkt erst vier Jahre alt. Dieser tragische Verlust hat zweifellos einen prägenden Einfluss auf ihr Leben und ihre künstlerische Entwicklung gehabt. Jetzt liegt ihr Debütroman in der deutschen Übersetzung von Ela zum Winkel vor.

Er beginnt mit dem überraschenden Tod ihrer Mutter und erforscht die komplexe Beziehung zwischen drei Generationen: der Hauptfigur Lisa, einer geschiedenen Frau um die 40 Jahre, ihrer Mutter, die in den 1970er-Jahren als junge Frau rebellisch war und gegen gesellschaftliche Konventionen aufbegehrte, und – weniger im Fokus, aber auch eingebunden, die Tochter von Lisa.

Balavoine zeichnet ein nuanciertes Bild der beiden Frauengenerationen und ihrer unterschiedlichen Lebenserfahrungen, beschreibt emotionale Abhängigkeiten, Sehnsüchte, Widersprüche und Enttäuschungen, zeigt Muster, die wir unbewusst übernehmen und weitergeben, reflektiert den Umgang mit Tod und Trauer, zeigt, wie schwer es ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen –und verpackt diese eher doch schweren oder schwierigen Themen in einen Text, pointiert und unterhaltsam, der mich wie im Sog das 159 Seiten schmale Buch bis zur letzten Seite in einem Rutsch durchlesen ließ. Wer mag, bestellt die Mutter-Tochter-Mutter im Original hier*, in der deutschen Übersetzung hier*.

Nathan Devers, Künstliche Beziehungen* (Les liens artifiels*)

Die Rentrée Littéraire 2024 begeistert mit einer Vielfalt an literarischen Entdeckungen. Einer der vielversprechendsten Nachwuchsautoren ist Nathan Devers, der 1997 in Paris geboren wurde. Nach einer jüdisch geprägten Kindheit wandte er sich im Teenageralter von seiner Religion ab und studierte Philosophie, wobei er sich intensiv mit Heidegger auseinandersetzte. Sein schriftstellerischer Werdegang begann 2019, und mit seinem 2022 erschienenen Roman „Les Liens artificiels“ erregte er große Aufmerksamkeit. Das Werk wurde für den Prix Goncourt des lycéens nominiert und von Frédéric Beigbeder als „fesselnd, erschreckend und burlesk“ bezeichnet. Sein Topos: das Metaversum oder, wie sie im französischen Original bezeichnet wird, die „Antiwelt“, ein Paralleluniversum, in das sich Millionen von Menschen auf der Suche nach neuen Welten, unerwarteten Begegnungen, unvergesslichen Abenteuern und aufregenden sexuellen Beziehungen einklinken können, ohne den Sessel zu verlassen, nur dank einer Tastatur und eines Computerbildschirms.

Und genau diesem Sog erliegt Julie , ein begnadeter Pianist, der durch die Kneipen tingelt, von der Frau verlassen wurde, krankhaft melancholisch und daheim in Rungis, einem monotonen Vorort im Süden von Paris. Je länger und intensiver er am tatsächlichen Leben in der Gegenwart leidet, desto intensiver taucht er in virtuelle Welten ab, wo sein Avatar sein Gegenpol ist.

Als Vangel ist er schön, beliebt und begehrt. Schritt für Schritt übernimmt das virtuelle Wesen das eigene Ich, wird das Hirn zum USB-Stick, das Leben nur noch möglich im Metaversum. Der letzte Schritt: der Abschied aus der Gegenwart. Der Tod, das wissen wir seit Beginn des Romans, wird zum einzigen Ausweg, live übertragen im Internet. Wer mag, kann den Roman hier* auf Deutsch, hier* im französischen Original bestellen.

Offenlegung

Sämtliche Titel der rentrée littéraire 2024 stellten mir diese Verlage für diese Buchbesprechung kostenlos zur Verfügung. Dafür sage ich herzlichen Dank. Einfluss auf meine Blogberichte hat dies nicht. Ich berichte subjektiv, wie ich es erlebt habe, mache kein Merchandising und werde erst recht nicht für meine Posts bezahlt.

Weiterlesen

Noch mehr Lese-Tipps für eure ganz persönliche rentrée littéraire 2024 findet ihr in diesen thematischen Büchertipps-Listen.

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2 Kommentare

  1. Liebe Hilke,
    herzlichen Dank für die umfangreichen Buchempfehlungen zum geliebten Frankreich. Wunderbar, dass du so viele unterschiedliche Titel vorgestellt hast, ohne Krimis, und dass du auch mal mit Kritik nicht gespart hast.
    Herzliche Grüße
    Irene

    1. Liebe Irene, merci! Im Frühjahr und Sommer stellten Krimis und Herz-Schmerz das Gros der Neuerscheinungen, zum Herbst hin wird’s literarisch – das ist, so scheint es mir, der Rhythmus der Verlag… und Weihnachten wird’s bunt, quer durch alle Kategorien. Herzliche Grüße, Hilke

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