Unterwegs im Massiv der Chartreuse
Eine Festung aus Kalk, mit einsamen Hochebenen, tiefen Schluchten, Kletterfelsen und Höhlen, dichten Wäldern und blumenübersäten Weiden ist das voralpine Massiv der Chartreuse in den französischen Voralpen. Sein Wahrzeichen sind bis zu 200 Meter hohe Kalkklippen, die senkrecht aus dem Grün ragen.
Als aufeinanderfolgende Antiklinalen und Synklinalen bilden die Kalkklippen die lange, von Norden nach Süden verlaufende Kammlinien der Chartreuse, deren Einzigartigkeit seit 1995 ein regionaler Naturpark schützt. Am Westhang des Chartreuse-Kamms Rochers de Bellefont entspringt in 1.400 Metern Höhe ein Fluss, der zunächst Guiers Mort heißt, sich bei Entre-deux-Guiers mit dem Guiers Vif vereint und als Guiers nach 49,9 Kilometern unterhalb von Saint-Genix-sur-Guiers in die Rhône mündet.
Auf seinem Lauf hat der Guiers die schönsten Schluchten der Chartreuse geschaffen: die Gorges du Guiers Vif und die Gorges de l’Échaillon am Guiers Vif, die Gorges du Guiers Mort am Guiers Mort die Gorges de Chailles unterhalb ihres Zusammenflusses.
Auf dem Guiers fühlt sich ein kleiner, gedrungener Vogel mit braunem Gefieder, weißer Brust und kurzem, schwarzem Schnabel wohl, der tauchen, schwimmen und sogar über das Wasser laufen kann: der Cincle plongeur – die Wasseramsel. Hoch am Himmel ziehen Königsadler ihre Kreise über den Gebirgsbächen und Felskesseln des Guiers.
Die unterirdischen Quellen des Guiers Vif bildeten einst die historische Grenze zwischen der Dauphiné und dem Königreich Savoyen. Heute verläuft hier die Grenze zwischen den beiden Departements Isère und Savoie.
Im Cirque de Saint-Même stürzen sich seine Fluten nacheinander tosend in die Tiefe – von der Cascade de la Source, die auf dem Gipfel der Klippe entspringt, über die Grande Cascade, dem größten Wasserfall des Quartetts, der Cascade Isolée und der Cascade de la Pisse du Guiers, dem niedrigsten Wasserfall des Felskessels.
Auf der Höhe der Grande Cascade überquert die Passerelle des Resquilleurs als Bogenbrücke aus Holz den Guiers Vif: welch ein Aussichtspunkt auf den ungezähmten Fluss! Seine Energie nutzte ab 1890 das damals erste Wasserkraftwerk Frankreichs. Das Wasser plätschert in der Chartreuse nicht nur in der Tiefe, sondern auch von oben: Das ozeanische Bergklima sorgt für reichlich Regen – durchschnittlich 1504 mm im Jahr – und beschert dem Massiv fast doppelt so viel Niederschlag wie Hamburg.
Das lässt das Grün sprießen. Auch, wenn das Wasser schnell von der Oberfläche im Karst des Massivs verschwindet. Dicht sind die Moospolster von Bergahorn und Fichte, geradezu mystisch und verwunschen umhüllen Nebelschwaden die Tannenwälder. Im Unterholz streicht bei Einbruch der Nacht der Fuchs umher und fängt kleine Nagetiere. Aus ihrer Baumhöhle im Nadelholz sieht ihm dabei die Chevêchette, der Sperlingskauz, zu. In der Chartreuse ist Europas kleinste Eulenart noch heimisch.
Die kleine Kartäuserin
In der Bergwelt der Chartreuse spielt auch einer der berührendsten Romane, die Pierre Péju verfasst hat: Die kleine Kartäuserin.
Mitten im nassen, nebligen November rennt nach Schulende ein Mädchen im roten Anorak hin zu seiner Mutter, auf die sie so lange gewartet hatte. Sie bemerkt nicht das Fahrzeug von Étienne Vollard. Wie in Zeitlupe sieht der eigenbrötlerische Buchhändler das Kind auf die Kühlerhaube aufschlagen, blickt in dessen angsterfüllte dunkle Augen.
Eva überlebt schwer verletzt. Evas Mutter indes flieht vor der Aufgabe, völlig überfordert von sich, ihrem Leben und Eva, die sie seelisch wie körperlich vernachlässigt, ablehnt.
Étienne dagegen, ein Sonderling, besucht sie täglich, erzählt dem bewusstlosen Mädchen unermüdlich Geschichten und liest ihm die schönsten Bücher vor, die er in seinem kleinen Laden finden kann.
Als Eva endlich erwacht, ist sie für immer verstummt. Die Zuneigung des Buchhändlers kann den inneren Hunger des vernachlässigten Kindes nicht stillen. Ausgemergelt stirbt sie schließlich im Sanatorium. Vollard, seines Scheiterns bewusst, begeht Selbstmord.
Das Mutterkloster
Die kleine Kartäuserin des französischen Philosophen, Essayisten und Schriftstellers Pierre Péju war in Frankreich 2002 der Sensationserfolg. Zu diesem Roman inspirierte ihn ein Kloster.
Es war die Große Kartause, La Grande Chartreuse. Das Mutterkloster des Kartäuserordens hatte Bruno von Köln ab 1084 in den einsamen Bergen der Chartreuse nördlich von Grenoble errichtet. Durch eine Steinlawine zerstört, wurde es 1132 zwei Kilometer vom ursprünglichen Standort wieder aufgebaut.
Wie die Mönche dort in frommer, schweigsamer Zurückgezogenheit leben, hat Philip Gröning im preisgekrönten Dokumentarfilm Die Große Stille 2005 als Erster verfilmt. Höchstens einmal pro Woche verlassen sie die Klostermauern. Fremden ist bis heute der Zutritt verwehrt.
Vom Gipfel des Grand Som jedoch könnt ihr auf die Klosteranlage sehen, die tausend Meter tiefer im Tal steht. Etwas Einblick gewährt das Klostermuseum, das 2011 eröffnete.
Es zeigt Pläne, Karten und Modelle der weißen Einsiedelei, öffnet die Tür zu Werkstätten, dem Kreuzgang und einer Kapelle… und verrät, welche 130 Kräuter in der giftgrünen Chartreuse stecken. Im angeschlossenen Klosterladen gibt es den Likör sowie zahlreiche andere Erzeugnisse aus französischen Klöstern.
Lebensgeist der Kartäuser
Der Kräuterlikör Chartreuse, den es gelb (40 Vol. % ) und grün (55 Vol. %.) gibt, ist das weltweit berühmte Aushängeschild der Mönche. Der Absatz der Spirituose deckt nicht nur sämtliche Kosten des Klosterbetriebes, sondern wirft noch so viel Gewinn ab, dass karitative Projekte in aller Welt unterstützt werden können.
In Frankreich gilt La Chartreuse als Heiltrunk. So wie Klosterfrau Melissengeist mit 79 Volumenprozent (!) lange Zeit der Tröster deutscher Hausfrauen war, genehmigte man sich in Frankreich La Chartreuse als „Medizin“.
Das ließ die Nachfrage so sehr steigen, dass der himmlische Schnaps heute in der Destillerie von Voiron hergestellt wird– unter strenger Kontrolle der Mönche. Auch ihre Zutaten kommen längst nicht mehr von den Almen der Chartreuse, sondern werden aus aller Welt bezogen, so beliebt ist der Kräuterlikör!
Das Chartreuse-Massiv: meine Reisetipps
Schlafen
Le Val Ombré
Oberhalb von Saint-Pierre-de-Chartreuse haben Eric und Jean-Pierre in einem typischen Bruchsteinhaus der Region fünf charmante chambres d’hôtes eingerichtet. Abends genießen alle bei der table d’hôte gemeinsam, was Eric gekocht hat. Für Entspannung sorgt ein kleiner espace bien-être mit Whirlpool, Sauna und Fitnessraum.
• Chemin du Grand Logis, 38380 Saint-Pierre-de-Chartreuse, Tel. 04 76 53 20 74, mobil 06 19 76 15 12, www.le-valombre.fr
Schlemmen
La Ferme de Brevadière
Zwischen den Weilern Brévardière und Michons blühen im Frühling in einem ummauerten Garten 10.000 Safranpflanzen in zartem Lila. Im August wird das berühmte Gewürz geerntet. Wie köstlich Safran die Küche bereichert, zeigen Céline und Philippe in ihrem gemütlichen, modern-rustikalem Gasthof.
• Brevardière, 38380 Saint-Pierre-de-Chartreuse, Tel.04 76 88 60 49, www.brevardiere.fr
Entdecken & erleben
Musée de la Grande Chartreuse
Das hervorragende Museum zum Mutterkloster der Kartäuser.
• La Correrie, 38380 Saint-Pierre-de-Chartreuse, Tel. 04 76 88 60 45, www.musee-grande-chartreuse.fr, Audioguides in acht Sprachen, April-Ende Okt.
Musée d’Art Sacré Contemporain
Die Bergkirche von Saint-Hugues ist ein Gesamtkunstwerk. 33 Jahre lang schmückte sie der Maler und Bildhauer Jean-Marie Pirot-Arcabas ab 1952/3 mit Gemälden und Glasfenstern, Skulpturen, Wandfriesen und Jute-Tapisserien aus.
• Église Saint-Hugues-de Chartreuse, Place de l’église, Saint-Hugues, 38380 Saint-Pierre-de-Chartreuse, Tel. 04 76 88 65 01, www.saint-hugues-arcabas.fr
Fort du Saint-Eynard
Bei Sappey-en-Chartreuse befindet sich das Fort du Saint-Eynard, eine militärische Festung aus dem 18. Jahrhundert. Es liegt auf 1.338 Metern Höhe und wurde einst errichtet, um Grenoble vor Invasionen der Savoyer zu schützen. An klaren Tagen könnt ihr von dort oben sogar bis zum Mont-Blanc blicken. Hinauf führt eine sehr schmale Straße, ausweichen ist kaum möglich. .Besser ist es, vom Col de Vence aus hinzuwandern.
Distillerie de la Chartreuse
Das ganze Jahr hindurch lässt sich die Fertigung des grünen und gelben Likörs La Chartreuse kostenlos entdecken – in einer 500 qm großen Ausstellung, bei einer Führung durch die Brennerei und ihren Keller und einer Degustation zum Abschluss.
• 10, bd Edgar Kofler, 38500 Voiron, Tel. 04 76 05 81 77, www.chartreuse.fr
Aktiv
Aufstieg zum Grand Som
Viele Wege führen hinauf zum 2.026 Meter hohen Gipfel. Am Museumsparkplatz beginn dieser mittelschwere Aufstieg. Höher hinaus geht es nur noch zum 2.082 Meter hohen Gipfel des Chamechaude.
Trail Running
Rund um Saint-Pierre-de-Chartreuse gibt es neun markierte Routen. Infos findet ihr hier:
• www.chartreuse-tourisme.com
Die Passage de l’Aulp du Seuil
Auf diesem schwindelerregenden Weg wurde über viele Generationen hinweg das Vieh zu den Sommerweiden getrieben. Die Wanderung beginnt am Parkplatz des Col de Marcieu in Saint-Bernard du Touvet. Zuerst geht es durch den Wald, dann über die Skipiste am Skilift vorbei bis zu einer Geröllhalde, über der sich ein junger Tannenwald befindet. Nach diesem kurzen, steilen wie anstrengenden Anstieg folgen nun eine lange Südwestquerung und einige Serpentinen im Wald bis zu einer Lichtung auf 1.458 Metern Höhe.
Von dort eröffnet sich ein atemberaubender Blick auf das große Felskar, das als nächstes bezwungen werden muss. Den Aufstieg im Kar erleichtern erst breite behauene Stufen, ehe Schranken und Holzpflöcke die Strecke hinauf zum Gipfel sichern. Aus 1.830 Metern Höhe eröffnen sich herrliche Ausblick auf die Belledonne-Kette bis zum Mont Blanc und auf die ausgedehnte Alm (L’Aulp) des Vallon de Marcieu, das der Col de Bellefond und der Wald von Seuil begrenzen und die Kämme der Lances de Malissard und L’Alpette einrahmen.
• 7,94 km, 830 Höhenmeter, 5 Stunden, mittelschwer
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Der Roman: Die kleine Kartäuserin*
„Ich mag es, wenn ein Roman eine Einladung zum Nachdenken enthält“, sagt Pierre Péju. Der französische Gegenwartsschriftsteller erzielte 2002 mit seinem Debütroman einen der größten Bucherfolge der letzten Jahre. Mehr als 400.000 Exemplare wurden bislang verkauft.
Längst ist sein Werk auch verfilmt und in 14 Sprachen übersetzt. Im Piper-Verlag ist die Erzählung in der Übersetzung von Elsbeth Ranke als Taschenbuch erschienen: La Petite Chartreuse – die kleine Kartäuserin.
Die kleine Kartäuserin geht unter die Haut. Leichte Lektüre ist die Erzählung sicherlich nicht, aber dennoch ein Lesevergnügen, ruhig und still, ehrlich und nachdenklich wie ein Essay über die Einsamkeit und die Unfähigkeit zur Liebe. Hier* könnt ihr das Buch online bestellen.
Klaus Simon, Hilke Maunder, Roadtrips Frankreich*
Das zweite gemeinsame Werk mit Klaus Simon stellt euch die schönsten Traumstraßen zwischen Normandie und Côte d’Azur vor. 14 Strecken sind es – berühmte wie die Route Napoléon durch die Alpen oder die Route des Cols durch die Pyrenäen, aber auch echte Entdeckerreisen wie die Rundtour durch meine Wahlheimat, dem Fenouillèdes.
Von der Normandie zur Auvergne, vom Baskenland hin zu den Stränden der Bretagne und dem wunderschönen Loiretal laden unsere Tourenpläne ein, Frankreich mobil zu entdecken – per Motorrad, im Auto, Caravan oder Wohnmobil. Hier* gibt es das Fahrtenbuch für Frankreich!
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Liebe Hilke,
aus Albas/Corbières herzliche Glückwünsche zu deiner großartigen Auszeichnung. Zu Recht wird dein ganz besonderer Einsatz für das Verständnis, das Interesse und den Zusammenhalt unserer beiden Länder gewürdigt. In den vergangenen fast 50 Jahren, die mich und meine Familie mit Frankreich verbindet, hat sich wahrlich viel positiv verändert.Wir sind hier in den Corbières seit 1992 „sesshaft“ und es hat eigentlich häufig an Informationen und über den normalen Tourismus hinausgehende Infos gefehlt. Es musste erst Corona ausbrechen damit wir auf dich aufmerksam geworden sind und seither immer deinen lebensnahen Veröffentlichungen folgen. Es ist quasi zu einem“ Ritual“ am Mittwoch geworden deinen Newsletter zu lesen.
Dein aktueller Beitrag zu den Chartreuse ist besonders interessant, weil wir auf unserer Heimreise nach Siegburg Anfang August dieses Gebiet erstmals entdeckt haben und rundherum begeistert waren. Die Landschaft fängt einen ein und die Zufriedenheit und Freundlichkeit der Menschen beeindrucken sehr. Wir haben in Chichiliane in einem schönen B&B übernachtet und sind uns ganz sicher, dass wir im nächsten Jahr dort einige Tage verbringen werden um in diese Landschaft einzutauchen.
Wir freuen uns auf viele interessante und auch wichtige Artikel von dir
herzliche Grüße
Wolfgang
Lieber Wolfgang, ganz lieben Dank für Dein Lob und Deine Ausführungen. Ja, das Massiv der Chartreuse ist wahrhaft wundervoll und noch nicht so sehr in den Fokus des Tourismus geraten – es gibt dort noch recht viel „heile Welt“, zumindest auf den ersten Blick und für eine entspannte Urlaubszeit, und solche Landschaften, Orte und Menschen abseits der Hektik und Sorgen, die das Zeitgeschehen mit sich bringt, sind einfach eine Wohltat. Herzliche Grüße aus dem Fenouillèdes! Hilke