Rentrée littéraire 2023: meine Lese-Tipps!
La Rentrée littéraire: Sie ist jedes Jahr in Frankreich das lang ersehnte Ritual. Pünktlich zum Schulbeginn und zur Rückkehr in den Alltag nach der Sommerpause stellen die Verlage ihre Neuerscheinungen vor. 466 französische und ausländische Romane sind es bei der Rentrée littéraire 2023 bis Mitte Oktober und damit fünf Prozent weniger als im Vorjahr.
Erste Stimmen sprechen bereits vom Ende der Rentrée littéraire. Der Rekord von 2010 mit 700 Werken ist längst in weite Ferne gerückt. Doch die Auswahl bleibt groß. Die Bücher werden zwar inzwischen meist online entdeckt, aber im stationären Handel gekauft. Erst einmal probelesen, das Buch in der Hand halten und darin blättern, das ist ein beliebtes Ritual zur Rentrée littéraire.
Angesichts von Inflation und steigenden Preisen auch im Buchhandel erlebt das Taschenbuch in Frankreich derzeit einen großen Aufschwung. Im vergangenen Jahr wurden 81 Millionen livres de poche verkauft – und damit deutlich mehr als die 78 Millionen an großformatigen Büchern.
Rentrée littéraire: Top Ten 2023
Voilà die beliebtesten Titel der Rentrée littéraire 2023 in Frankreich, vorgestellt nach ersten Verkaufszahlen.
Amélie Nothomb, Psychopompe*
Im Alter von elf Jahren entdeckte Amélie Nothomb ihre Leidenschaft für Vögel. Mit zwölf wurde sie Opfer sexueller Übergriffe. Diese beiden Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, wurden für sie zu Initialzündungen, berichtet Amélie Nothomb in ihrem 32. Roman und erzählt, wie sie zu der Autorin wurde, die die Seelen der Toten ins Jenseits begleitet wie der Vogel Psychopompe. Ihr neuestes Werk ist Autobiografie und Essay über die Kunst des Schreibens – und 164 Seiten kurz.
Claire Berest, L’Épaisseur d’un cheveu*
„Um Haaresbreite“ hat Claire Berest ihr neuestes Buch genannt, in dem sie die Geschichte von Étienne und Violette erzählt, die ihren Mann mit mehr als dreißig Messerstichen ermordet.
Serge Joncour, Chaleur humaine*
Nach Nature humaine* hat Serge Joncour nun Chaleur humaine vorgestellt. In seinem neuen Roman kehrt er in die Zeit von Covid im Jahr 2020 zurück, in der sich zwischen Januar und März 2020 das Schicksal dreier in der Stadt lebender Schwestern – einer ledigen, einer geschiedenen und einer in einer Beziehung mit Kindern lebenden – und ihrer Familien von Grund auf ändert.
Sylvain Prudhomme, L’Enfant dans le taxi*
Wer ist dieser „M“, über den in der Familie nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird? In Prudhommes achtem Roman lüftet Simon behutsam ein altes Geheimnis und rollt die Familiengeschichte rückwärts auf.
Philippe Delerm, Les Instants suspendus*
Von Augenblicken, die in der Luft liegen und Veränderungen möglich machen, erzählt Philippe Derm in diesem Erzählband. Die erste Kurzgeschichte, die den Band eröffnet, trägt den Titel Sortir du tunnel. Darin beschreibt er, wie jeder Einzelne aus dem Schatten ins Licht gelangen kann, ohne die Geschwindigkeit des Zuges zu verändern, sondern einfach dadurch, dass er die Dinge anders sieht. Eine poetische und positive Sammlung kleiner Alltagsgeschichten.
Chloé Delaume, Pauvre folle*
Eine Zugfahrt, die alles verändert. Mélisse, von Beruf Schriftstellerin und Alter Ego von Chloé Delaume, reist mit der Bahn von Paris nach Heidelberg – und beendet dort ihre romantische Affäre mit Guillaume Richter. La Belle et la bête im 21. Jahrhundert. Oder, wie sie sich nennen: die Königin und das Monster.
Maria Pourchet, Western*
Zu den Büchern, über die die Presse bei der Rentrée Littéraire 2023 besonders viel spricht, gehört der Roman „Western“ der lothringischen Autorin Maria Pourchet. Mitte September wurde er mit der Feuille d’Or des Médias auszeichnet.
Ihr Roman erzählt die Geschichte eines gefeierten Schauspielers, der vor fast allem flieht, aus Angst, ein dunkles Geheimnis könnte ans Licht kommen. Dabei reflektiert er auch die Beziehungen zwischen Frauen und Männern nach der Metoo-Bewegung.
Jean Hegland, Rappelez-vous votre vie effrontée*
John Hubbard Wilson ist an Alzheimer erkrankt und in einem Pflegeheim untergebracht. Von dort aus nimmt er wieder Kontakt zu seiner Tochter Miranda auf, die er im Zorn verstoßen hatte. Durch ihre gemeinsame Liebe zur Literatur, insbesondere zu Shakespeare, gelingt es ihnen, ihre Beziehung wieder zu kitten.
Thomas Gunzig, Rocky, dernier rivage*
In einfachen, direkten und präzisen Worten erzählt der belgische Schriftsteller in seinem Roman eine moderne Robinsonade. Seine Hauptfigur Fred ist der Inbegriff eines selbstbewussten Selfmade-Milliardärs. Zusammen mit seiner Frau Hélène, seinem Sohn Alexandre und seiner Tochter Jeanne flieht er vor der Pandemie auf eine einsame Insel, wo er sich – vorausschauend – bereits eine Luxusvilla mit allem Drum und Dran hat bauen lassen.
Die Insel bietet ihnen Schutz. Je länger sie dort überleben, desto stärker werden die Erinnerungen, desto größer die Kluft zwischen dem realen Leben, das sie führen, und der Sehnsucht nach einem Leben, das jetzt unmöglich ist. Ohne Verbindung zum Rest der Welt sind sie vielleicht die letzten Überlebenden.
Imogen Binnie, Nevada*
Bereits 2013 erschien in den USA der Roman „Nevada“. Das geografische und innere Roadmovie in der Tradition von Jack Kerouac war damals eine bahnbrechende Neuerscheinung. Als erstes belletristisches Buch eines Trans-Autors erzählt der Roman ungeschminkt, einfühlsam und mit viel Humor von einer Geschlechtsumwandlung. Zur Rentrée littéraire 2023 erscheint er in französischer Übersetzung.
Rentrée littéraire: Neu auf Deutsch
Sehr bunt gewürfelt sind die Neuerscheinungen französischsprachiger Autoren. die zur Rentrée littéraire in deutscher Übersetzung in den Handel kamen.
Laurent Gaudé, Hund 51*
Laurent Gaudé gehört für mich zu den vielseitigsten Gegenwartsautoren Frankreichs. Entdeckt hatte ich ihn 2004 mit seiner italienischen Familiensaga Le Soleil des Scorta*, die die ich vor lauter Begeisterung gleich mehrmals hintereinander verschlungen habe. Während Die Sonne der Scorta* fünf Generationen einer Familie im Mezzogiorno porträtiert, die Hitze Süditaliens und den Duft des Olivenöls ins Haus holt und das Herz wärmt, ist sein Roman Hund 51 das genaue Gegenstück: ein sehr düsterer Thriller aus der Zukunft.
Zem Sparak, ein Mann in den Fünfzigern, ist Polizist in Zone 3, dem elendsten Viertel von Magnapole, einer weitläufigen Stadt. Sie wird von einem großen internationalen Konzern namens GoldTex regiert, der das Land nach dem Bankrott Griechenlands als Meistbietender gekauft hat.
Zem Sparak war nicht immer ein „Hund“, wie die Polizisten der Zone 3 genannt werden. Es gab eine Zeit, in der die Welt anders war und Zem für seine Überzeugungen kämpfte. Aber diese Welt ist untergegangen. Heute lebt Zem im Exil, ohne Hoffnung auf Rückkehr. Sein Land wurde gezielt unbewohnbar gemacht und entvölkert. Sein einziger Trost heißt Okios. Diese technische Droge ermöglicht es ihm, virtuell in die Vergangenheit zu reisen und nach Athen, seinem verlorenen Paradies, zurückzukehren.
Doch dann wird auf einer stillgelegten Autobahn eine ausgeweidete Leiche gefunden – und die Vergangenheit wieder lebendig. Und bringt Salia in Zems Leben.
Von der ersten Seite an hat mich das Buch gefesselt – vom Aufbau, der Thriller, Scie-Fi und Romanze vermischt, von den Figuren und von der Sprache. Hund 51* ist keine leichte Lektüre, aber eines der wichtigsten und lesenswertesten Bücher der Rentrée littéraire 2023! Wer mag, kann den Triller, der die Zukunft in die Gegenwart holt, hier* online bestellen.
Joël Dicker,
Im April 1999 wurde die Leiche der 22-jährigen Schönheitskönigin von Alaska Sanders, die an einer Tankstelle arbeitete, am Rande eines Sees in einer amerikanischen Stadt gefunden – ermordet von ihrem Liebhaber, der anschließend Selbstmord beging. Sein Komplize kam hinter Gitter.
Elf Jahre später jedoch kocht der Fall wieder auf, als der Polizeisergeant, der das Verbrechen aufgeklärt hatte, einen anonymen Brief erhält. Der Täter und sein Komplize seien unschuldig, behauptet der Schreiber. Unterstützt von seinem Freund, dem Schriftsteller Marcus Goldman, Autor von „Die Wahrheit über die Harry-Quebert-Affäre“, rollt der Sergeant, den Fall erneut auf: 600 Seiten dick ist der Anschlussband der Trilogie.
Doch während die französische Literaturkritik bei der Harry-Quebert-Affäre noch voll des Lobes war, hagelt es nun Kritik: Ein konventionelles Buch voller Klischees, bemängelt Nelly Kapriélan in ihrer Inrocks-Rezension und fragt sich, wie es Dicker immer wieder gelingt, seine Bücher zu Bestsellern zu machen, die einfach, gleichförmig und klischeebeladen sind.
Andere bekannte französische Literaturkritiker beklagten, dass Sprache, Stil, Dialoge und Situationen unglaubwürdig und dürftig seien. Und auch ich muss gestehen, dass ich, nachdem ich das Buch mit Begeisterung in die Hand genommen hatte, zunehmend enttäuscht war. Und vor allem: gelangweilt. Schließlich las ich nur noch quer, blieb hier und da gefesselt hängen – und legte die Originalausgabe enttäuscht zur Seite.
In der deutschen Übersetzung haben Andrea Alvermann und Brigitte Große sprachliche Schnitzer wie falsche Zeitformen souverän ausgemerzt und auch an der Sprache gefeilt. Der Krimi hat dadurch viel gewonnen. Und wer die früheren Werke Dickers nicht kennt, wird durchaus ein spannendes Lesevergnügen erleben, über Längen hinwegsehen und auf leichte Weise gut unterhalten werden.
Die Fortsetzung des B
Christine Erkens, Isabelle und Madeleine. Das Haus mit dem Maronenbaum*
Christine Erkens wurde 1962 in Düsseldorf geboren, wuchs in der Südeifel auf und studierte in Bonn Landwirtschaft mit dem Schwerpunkt Tierproduktion. Ihr Fachwissen verarbeitete sie in Büchern, in denen sie unter anderem das breite Spektrum der Naturheilverfahren für Tiere vorstellt.
Mit Isabelle und Madeleine. Das Haus mit dem Maronenbaum* hat sie ihr erstes belletristisches Werk geschrieben. Für mich war das 368 Seiten starke Buch, das bereits 2021 im Prinzengarten Verlag erschienen ist, weit mehr als ein Roman über einen Lebenstraum, der mit einem Haus in der Provence wahr geworden ist. Er war vor allem eines: eine Fundgrube botanischen Wissens.
Denn in Isabelles Umzugsgepäck befinden sich ein Kräuterbuch und das Tagebuch von Madeleine, einer sehr kräuterkundigen Frau, die früher dort gelebt hat. Auch Isabelles Hund ist mit in den Süden gereist. Er zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, verknüpft und verbindet, leitet ab und kehrt zurück zum Thema. Und sorgt so immer wieder für Überraschungen.
Ein gelungenes Erstlingswerk hat Christine Erkens vorgelegt. Einzig die sehr kleine, enge Schrift und der Einband, der die Seiten leicht aus der Klebebindung springen lässt, trüben das Lesevergnügen. Ihr Debütroman ist ein Buch zum Wegträumen, wenn die Wintertage mal wieder zu grau und trüb sind.Wer mag, kann den Roman hier* online bestellen.
Alexandre Labruffe, Erkenntnisse eines Tankwarts*
L’essence est née de l’érosion des mots – Die Essenz entsteht aus der Erosion von Worten, schrieb der französische Philosoph und Guru der Postmoderne, Jean Baudrillard, in seinem 1988 erschienenen Taschenbuch Amérique*.
Labruffe zitiert diesen Satz in in seinem Debütroman Chroniques d’une station-service*. L’essence heißt im Französischen auch Kraftstoff, und dort ist das schmale Bändchen angesiedelt, das Alexandre Labruffe einen Roman nennt.
Alexandre Labruffe wurde 1974 in Bordeaux geboren. Nach seinem Chinesischstudium arbeitete er für die Sprach- und Kulturinstitute der Alliance Française in China und später in Südkorea. Im Jahr 2008 veröffentlichte er zusammen mit Benjamin Limonet die experimentelle Erzählung Battre Roger* (éditions D’ores et déjà).
Danach arbeitete er an verschiedenen künstlerischen Projekten mit und unterrichtete an der Universität Cergy (Kunst und Film), bevor er im Oktober 2009 zum Kulturattaché in Wuhan ernannt wurde. Im selben Jahr veröffentlichte der französische Verlag Éditions Verticales sein vielbeachtetes Erstlingswerk Chroniques d’une station-service*, das 2019 den Prix Maison Rouge erhielt. Im August 2023 erschien sein Werk bei Wagenbach in der Übersetzung von Cornelius Wüllenkemper.
Mit 144 Seiten ist es schmal und eher eine Sammlung von Momentaufnahmen, Beobachtungen, Gesprächsfetzen und Gedanken als ein Roman. Die Fragmente sind durchnummeriert, die Handlungsstränge minimale Geschichten zwischen Banalität und Fiktion, notiert von Beauvoire, der auf seiner Tankstelle am Rande von Paris Menschen aller Schichten, Geschlechter und Rassen kommen und gehen sieht, Dame spielt im Niemandsland, die Leere mit Lesen und B-Movies totschlägt und den Verkaufsraum mit grellen Postern schmückt.
Die Erkenntnisse eines Tankwarts*: eine überraschend andere Lektüre zur Rentrée littéraire. Wer sich auf sie einlässt, erlebt für die Zeit eines Spielfilms Kopfkino vom Feinsten. Wer mag, kann die Chronik hier* online bestellen.
Offenlegung
Sämtliche Titel für diesen Beitrag zur Rentrée Littéraire stellten mir die Verlage für die Buchbesprechungen kostenlos zur Verfügung.