Frankreichs Renten-Reform 2023
Frankreich hat seine Renten reformiert. Am 1. September 2023 stieg das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre. Die Reform war für Präsident Macron ein Prestigeprojekt seines politischen Programm und hatte 2019 für erste massive Streiks und Proteste gesorgt. 2023 folgte der Showdown. Die Etappen.
Der steinige Weg zur Rentenreform
Seit den 1990er-Jahren ist bekannt, dass das Rentensystem reformiert werden muss, um es langfristig zu finanzieren.
1993: Mini-Reform
Édouard Balladur rerformierte die algemeinen Rentenkasse CNAV. In der Privatwirtschaft steigt die
Mindestversicherungsdauer für eine Vollrente von 37,5 auf 40 Jahre, anstelle 37,5 Jahre.
2003/2008
Erst 2003 führt François Fillon dies auch für den öffentlichen Dienst ein, 2008 für die Sondersysteme von SNCF, RATP, EDF, GDF.
2010
Für alle Beschäftigten gilt nun: 41 Beitragsjahre bis zur Vollrente. Das Rentenalter wird sukzessive von 60 auf 62 Jahre gehoben. Wer nicht genügend eingezahlt hat in die Rentenkasse, kann nicht mehr mit 65, sondern erst mit 67 Jahre in Rente gehen.
2014
Für alle, die 1958 – 1972 geboren sind, steigt die erforderliche Zahl der Beitragszahlungen in Stufen von 166 auf 172 Qzartale für eine Vollrente.
Herbst 2019
Die Rentenreform von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sorgt für Widerstand. Gilets Jaunes und Gewerkschaften protestieren.
5. Dezember 2019: 1. nationaler Streiktag
Transport, Bildung, Gesundheit, Energie, Justiz standen im Zentrum des ersten landesweiten Streiktages. Im ÖPNV und Fernverkehr riefen die Gewerkschaften zum unbegrenzter Streik auf.
15./22. März 2020: Kommunalwahlen
Bei den Kommunalwahlen muss Macron wegen der Rentenreform große Stimmeneinbußen hinnehmen.
16. März 2023: Griff zur dicken Bertha
Nach monatelangen, ergebnislosen Verhandlung und tausenden Änderungsanträgen hat die französische Regierung von Emmanuel Macron die umstrittene Renten-Reform mit einem juristischen Trick durchgeboxt. Sie griff zum Artikel 49.3.
Artikel 49.3 gestattet der Regierung, ein Gesetz vorbei am Parlament, und damit an den Vertretern des Volkes, zu beschließen. Seit 1958 war dies bereits mehr als 40 Mal der Fall.
Am 16. März 2023 griff seine Ministerpräsidentin zu grosse Bertha du 49-3, wie der Volksmund diesen Artikel der Verfassung mit Blick auf die Geschützte, die im Ersten Weltkrieg erstmals erfolgreich eingesetzt wurden, auch nennt. Bis zur letzten Sekunde war es der Regierung nicht gelungen, genügend Stimmen im Parlament hinter der Reform zu vereinen.
Bereits am Morgen hatte der Senat als Oberhaus des Parlaments das Gesetz mit 193 Ja-Stimmen zu 114 Nein-Stimmen gebilligt. 38 enthielten sich.
17. März 2023: Misstrauensanträge scheitern
Zwei Misstrauensanträge gegen Emmanuel Macron und Premierministerin Élisabeth Borne scheiterten am Folgetag.
Der parteiübergreifende Misstrauensantrag der Fraktion Libertés, Indépendants, Outre-mer et Territoires (LIOT) hatte 278 Ja-Stimmen erhalten, der Misstrauensantrag des Rassemblement National die Zustimmung von 94 Parlamentariern. Um angenommen zu werden, hätten die Misstrauensanträge jeweils die absolute Mehrheit der Abgeordneten auf sich vereinen müssen, d. h. derzeit 287 Stimmen.
Am 20. März 2023 war der Entwurf der Rentenreform von der Nationalversammlung endgültig angenommen worden.
14. April 2023: Billigung vom Verfassungsrat
Am Freitag, 14. April 2023, bestätige der Verfassungsrat unter Vorsitz von Laurent Fabius den Gesetzentwurf zur Rentenreform in seinem Kern. Die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre sei nicht verfassungswidrig, so der Conseil Constiutionel. Die neun Weisen, sechs Männer und drei Frauen, darunter Ex-Premier Ministre Alain Juppé, lehnten einzig sechs der „sozialen Reiter“ im Text ab, darunter den CDI senior und den Index senior.
Der Verfassungsrat war am 21. und 22. März angerufen worden, um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu prüfen. Der Auftrag kam von der Premierministerin, von mehr als 60 Abgeordneten der rechtsextremen Partei Rassemblement National und von mehr als 60 Abgeordneten der Fraktionen der Neuen Ökologischen und Sozialen Volksunion (NUPES) sowie am 23. März von mehr als 60 linken Senatoren.
Noch am Abend des 14. April 2023 setzte Präsident Macron seine Unterschrift unter das Papier. Er hätte 15. Tage dazu Zeit gehabt.
15. April 2023
Veröffentlichung des Gestztes im Journal Officiel: www.legifrance.gouv.fr.
Jetzt wird die Reform zum 1. September 2023 in Kraft treten. Gewerkschaften und Aktionsgruppen haben Widerstand angekündigt.
Frankreichs Renten-System: die drei Säulen
Das französische Renten-System basiert auf drei Säulen: Grundrente, berufliche Vorsorge und private Vorsorge. Grundrenten und Zusatzrenten basieren wie in Deutschland auf dem Solidaritätsprinzip und werden durch das Umlageverfahren finanziert.
Sprich: Was die arbeitende Bevölkerung erarbeitet, wird an die Rentner ausgezahlt. Viele Berufsgruppen haben ihre eigenen Rentenkassen. Das durchschnittliche Rentenniveau betrug im Jahr 2022 insgesamt 1.509 Euro brutto für 16,9 Millionen Franzosen.
Die Grundrente ( régime de base )
Der französische Staat garantiert jedem Neurentner derzeit eine Mindestrente von 1.100 Euro brutto – fehlen Beitragszeiten erst ab 67. Maximal werden 1.800 Euro ausgezahlt. Die Berechnung der Rente erfolgt nach einem sehr komplizierten Schlüssel.
Die bis September 2023 geltenden Voraussetzungen für die maximale Grundrente:
• Das gesetzliche Rentenalter von 62 Jahren ist erreicht.
• Es wurden mindestens 41,5 Jahre Beiträge in die Rentenkasse gezahlt.
• Wer bis 67 Jahre arbeitet, erhält die Maximalrente unabhängig von den Jahren der Beitragszahlungen.
Bis September 2023 zahlen 42 Kassen in Frankreich diese Grundrente aus. Die wichtigste Rentenkasse ist die nationale Rentenkasse (CNAV Caisse Nationale d’Assurance Vieillesse). Sie leistet 85 Prozent der Rentenzahlungen und ist zuständig für Handwerker, Gewerbetreibende und Beschäftigte der Privatwirtschaft.
In Spezialkassen sind rund fünf Prozent der Arbeitnehmenden versichert. Besonders bekannt sind die Rentenkasse der staatlichen Bahngesellschaft SNCF und des Pariser Nahverkehrs RATP. Dort können sich Mitarbeiter bestimmter Berufe bereits mit Anfang/Mitte 50 pensionieren lassen.
Auch bei der Berechnung der Rente gelten Spezialkassen als großzügiger. Daher erfolgen die Streiks besonders intensiv im Transportwesen. Diese Privilegien sind mit Rentenreformab September 2023 gestrichen.
Zusatzrente ( retraite complémentaire )
Die Grundrente deckt rund 50 Prozent des einstigen beruflichen Einkommens ab. Die Lücke zum tatsächlichen Lebensstandard deckt eine zusätzliche berufliche Vorsorge ab, die erst in den 1970er-Jahren Pflicht wurde.
Allerdings haben seitdem die Frauen im Durchschnitt nur die Hälfte der Zusatzrenten erhalten als Männer. Schuld daran ist die Tatsache, dass Frauen erst langsam in Führungspositionen oder in Angestelltenpositionen mit hohem Einkommen vertreten sind. Das Ungleichgewicht spiegelt das ungleiche Einkommen zwischen Männern und Frauen.
Private Vorsorge ( retraite supplémentaire )
Freiwillig ist die dritte Vorsorge-Säule in Frankreich. Das Vorsorgesparen, bei dem Französinnen und Franzosen auf eigene Initiative hin Geld auf die Seite legen, ist noch nicht sehr verbreitet. Die Rente aus der privaten Vorsorge machen in Frankreich erst drei Prozent der Rentenzahlungen aus.
Wie hoch sind die Renten?
Die DREES Direction de la recherche, des études, de l’évaluation et des statistiques erfasst alljährlich die Höhe und Schwankungen bei den Renten.
2022 erhielten Männer eine durchschnittliche Nettorente von 1.667 Euro. Die durchschnittliche Altersrente von Frauen betrug 1.050 Euro.
6,6 Prozent der Rentner leben unter der Armutsgrenze, die für 2022 auf 1.102 Euro pro Monat festgelegt wurde.
Die Renten-Reform von Macron: die Eckpfeiler
Über allen Details steht dieses Ziel: Die 42 verschiedenen Rentensysteme für verschiedene Berufsgruppen sollen einem einheitlichen Rentensystem weichen.
Einheitliches System ohne berufsspezifischen Privilegien
Dies trifft besonders den öffentlichen Dienst – und dort besonders das Transportwesen. Lokführer, die bislang mit 52 Jahren in Rente gehen können, sollen dies künftig erst mit 60 Jahren tun können. Und damit immer noch zwei Jahre vor dem derzeit gesetzlichen Rentenalter.
Wer in besonders schweren Berufen arbeitet, soll künftig nur noch zwei Jahre vor dem offiziellen Renteneintrittsalter in Rente gehen.
Renteneintrittsalter: 64 Jahre
Das neue Renten-System soll für alle Berufstätigen gelten, die 1975 oder später geboren sind. Das Rentenalter wird sukzessive auf 64 Jahre angehoben, und zwar ab dem 1. September 2023 um drei Monate, beginnen mit den am 1. September 1961 geborenen Versicherten. 2027 beträgt das Renteneintrittalter für die 1965-Geborenen 63 Jahre und 3 Monate, im Jahr 2030 64 Jahre für alle, die 1968 und später geboren wurden.
43 Beitragsjahre
Die Beitragsdauer für eine Vollrente wird mit der Renten-Reform für die ab 1965 geborene Generation bis 2027 auf 43 Jahre angehoben. Alle, die keine 43 Jahre Beiträge gezahlt haben, können erst mit 67 Jahren mit vollen Bezügen in Rente gehen.
Boni und Abschläge
Wer früher in Rente gehen möchte, muss für jedes Jahr einen Abschlag von fünf Prozent hinnehmen. Wer länger arbeitet, erhält einen Bonus von fünf Prozent pro Jahr.
Der Kinder-Bonus beträgt pauschal zehn Prozent und wird an Rentnerinnen und Rentner gezahlt, die mindestens drei Kinder aufgezogen haben. Für ein oder zwei Kinder gibt es keinen Bonus.
Die Reform will die Rentenunterschiede zwischen Frauen und Männern bis 2027 halbieren und bis 2050 beseitigen.
Ausnahmen für Langzeitbeschäftigte
Alle Beschäftigte, die jünger als 16 Jahre waren beim Eintritt ins Berufsleben, erhalten bereits mit 58 Jahren eine volle Rente,
Wer zwischen 16 und 18 Jahre alt war bei Arbeitsbeginn, erhält seine Rente ab 60 Jahren, beim Berufsstart mit 18 bis 20 Jahren ab 62 Jahren, zwischen 20 und 21 Jahren mit 63 Jahren.
Opfer von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten können ebenfalls schon mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen, behinderte Arbeitnehmer bereits ab 55 Jahren.
Höhere Grundrente
Die Grundrente steigt auf fast 1200 Euro brutto pro Monat, was 85 Prozent des Mindestlohns entspricht. Sie gilt für alle Berufsgruppen. Das soll vor allem den Beschäftigten in der Landwirtschaft helfen, die bislang eine niedrigere Grundrente erhielten.
Beitragsdeckel
Bei den Beitragszahlungen zur Rentenversicherung soll künftig ein Deckel von 120.000 Euro beim Einkommen gelten.
Weniger Renten-Kassen
Die Reform schafft viele, aber nicht alle 42 Rentenkassen ab. Ab 1. September 2023 abgeschafft werden die Renten-Kassen der Strom- und Gasindustrie (IEG), der Régie autonome des transports parisiens (RATP), der Notariatsangestellten, der Bank von Frankreich und der Mitglieder des Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrats (CESE).
Einige Renten-Kassen, darunter diejenigen für Seeleute, für Mitarbeiter die Pariser Oper und der Comédie Française, die Renten-Kassen der freien Berufe und in der Landwirtschaft werden nicht reformiert.
Quelle: www.vie-publique.fr/loi/287916-reforme-des-retraites-2023-projet-de-loi-plfss-rectificatif
Warum die Reform?
Frankreichs Renten-System drohen wachsende Defizite. Im Jahr 2023 wird das Defizit der Sozialversicherung auf 8,2 Mrd. Euro geschätzt, gegenüber 7,5 Mrd. Euro im ursprünglichen Gesetzentwurf.
Mit der Reform, so Arbeitsministerin Élisabeth Borne, können die Rentenkassen im Jahr 2030 ohne Defizit arbeiten und ausgeglichen sein.
Frankreichs Renten-Zahlungen betrugen 2020 fast 320 Milliarden Euro für Alters-Renten, Hinterbliebenen-Renten und Mindestaltersrenten. Die Renten betragen 13,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 41 Prozent aller Sozialausgaben.
Mein Interview zur Rentenreform und Lage in Frankreich vom 15. 4. 2023
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