Mein Frankreich: Franz Sommerfeld
„Mein Frankreich“ ist nicht nur Titel meines Blogs, sondern auch Programm: Ich möchte möglichst viele von euch animieren, euer Frankreich vorzustellen. Ungefiltert, bunt und vielfältig in Erfahrungen und Bewertungen, Erlebnissen und Erinnerungen. Diese Reihe ist euer Forum.
Und ich freue mich, wenn möglichst viele mitmachen. Und erzählen: Mein Frankreich – was bedeutet das für euch? Diesmal antwortet Franz Sommerfeld. 1949 geboren, war er Reporter, Korrespondent und Chefredakteur verschiedener Zeitungen und Vorstand der Mediengruppe DuMont. Als Rentner lebt er einige Monate im Jahr in Saint-Pierre-la-Mer im Languedoc.
Die Place im Dorf um Mittag mitten im Midi:
Das Licht gesprenkelt unter den Platanen,
und der Brunnen plätschert, und die Kugeln klacken beim Pétanque.
Das ist ein Film, der ist uralt und der läuft immer noch.Noch immer sitzen sie zusammen vor der Bar:
– der Bäcker, Schäfer, Lehrer, Garagist,
und alle reden übers Wetter und den Wein für dieses Jahr
und dass sich auch seit Mitterrand noch nichts geändert hat.Die Alte, krumm gebuckelt, unterm Arm ihr täglich Brot, schleicht in ihr Haus.
Um sie herum fahren die Kinder Tour de France.
Der fou du village läuft immer lachend hinterher.
Und ich, ich sitz
beim zweiten Glas Pastis.(Aus: Tango du Midi von Franz Josef Degenhardt, 1983)
Es wird der Spätsommer des Jahres 1971 gewesen sein, als wir drei langhaarige ostfriesische Jungs, alle Anfang 20, uns in meinem R 4 auf den Weg von Leer nach Frankreich machen. Wir waren – unabhängig von einander in unseren Studienorten – in den Marxistischen Studentenbund Spartakus, die Studentenorganisation der DKP, eingetreten. In der verrauchten „Kleinen Möwe“, der Kneipe eines ausgemusterten Seemanns, in der Friesenstraße, waren wir auf die Idee gekommen, nach Frankreich zu fahren, der Geburtsstätte der Studentenbewegung im Mai 1968 und Ausgangspunkt aller Revolutionen; zugleich stand Frankreich für eine andere Art, zu leben und leben zu lassen, zu essen und zu trinken. Ohne dass wir allzu viel davon wussten.
Maigret & Degenhardt
Frankreich kannte ich bis dahin nur aus den spärlichen Erzählungen meines Vaters, der als Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg und auch danach auf einem Weingut bei Bordeaux gearbeitet hatte und – der Liebe folgend – beinahe dort geblieben wäre. Und durch Schriftsteller. George Simeon führte mich in seinen Maigret-Krimis durch die Straßen von Paris und der Provinz, über Märkte und durch die Hallen. Die fürsorgliche Gattin bereitete dem Kommissar das Abendessen („Heute nur eine Pastete und ein kleiner Salat“). Beide schlenderten anschließend ein wenig durchs Viertel, wo er zu einem weiteren Wein und dann noch einem einkehrte. Biedermeier mit Pfeife und dabei gar nicht so weit entfernt von den Sehnsüchten des linken Degenhardt.
Prägende Bücher
Als uns unser geschätzter Deutschlehrer, ein Ex-Nazi, in der 5. Klasse die freie Rede beizubringen versuchte und wir zu Beginn jeder Deutschstunde eine Geschichte frei vortragen mussten, hatte ich die Erzählung Nachtflug von Antoine de Saint-Exupéry gewählt. An die 55 Jahre später sass ich im Château Pech-Céleyran, einem der Landsitze seiner Familie mit vielen Bildern von ihm und seinen Flugzeugen an den Wänden, und dachte bei einem Klavierkonzert darüber nach, warum ich als 12jähriger gerade diese Helden-Story über die Unausweichlichkeit des Schicksals gewählt hatte.
Ein Pilot gerät über Argentinien in ein Unwetter, kann ihm nur entgehen, in dem er über die Wolken steigt und dort fliegt, bis er mangels Treibstoff abstürzt. Die in Frankreich nach der ersten großen Begeisterung einsetzende Kritik an seinem übersteigerten Heroismus liess den sensiblen Piloten Saint-Exupéry für viele Jahre verstummen. Das Motiv des Unausweichlichen zog mich ich auch im Roman Die Pest von Albert Camus in den Bann, den ich seit Schülerzeiten bis heute immer wieder gelesen habe. Dass Camus´ Verständnis von der Wirklichkeit meinen damaligen revolutionären Überzeugungen von der Welt als unserem Willen und unserer Vorstellung unterworfen diametral entgegenstand, störte mich nicht.
Vergebliche Suche nach der Revolution
Unser erstes Ziel ist Paris, wo wir uns auf die Suche nach den revolutionären Spuren des französischen Mai begeben. Wenn ich dabei in meinem R4 wie ein Alter um den Arc de Triomphe kurvte, fühlte ich mich schon fast wie ein Franzose; damals fuhren die Einheimischen noch temperamentvoll. Unsere Suche verläuft jedoch ergebnislos. Zwar sind auch die studentischen Revolutionäre aus den französischen Sommerferien zurück, aber die Revolution ist längst vorbei.
Zur Beruhigung unserer französischen Genossen von der KPF, die diesen unplanmäßigen Aufruhr stets mit tiefer Abneigung verfolgt hatten. Der damalige Bildungsminister Alain Peyrefitte hatte am 27. Mai 1968 zur Strategie des Ministerpräsidenten Georges Pompidou notiert: Sie sei darauf gegründet, »dass die kommunistische Partei die einzige Säule geworden ist, auf die sich die Regierung und der Staat stützen könne, denn sie ist die einzige Kraft, die um keinen Preis eine Revolution will«. (Zit. nach Gero von Randow, Wenn das Volk sich erhebt – Schönheit und Schrecken der Revolution. Köln 2017)
Fête de l’Humanité im September
Trotzdem besuchen wir die Fête de l’Huma der kommunistischen Parteizeitung, die, nur unterbrochen durch die Kriegszeiten, an jedem zweiten Septemberwochenende in Paris stattfindet. Als gute Deutsche erwarten wir Politik pur und stellen fest, dass sich dieses Fest zuerst einmal um die französische Art, das Leben zu genießen, dreht: Aus allen Regionen Frankreichs gibt es Wein. Austern probiere ich damals noch nicht, aber Froschschenkel.
Neben der riesigen Achterbahn grillen die Genossen aus dem Department Val de Marne ganze Schweine. Plötzlich legt sich eine Schlinge um meinen Fuss. Eine als Jäger und Wilderer verkleidete Gruppe der KP aus einer Bergregion der Pyrenäen hat mich gefangen und zieht mich auf die kleine Bühne ihres Standes, fragt, woher ich komme und spendiert mir einen Wein. „We are camarades d’Allemagne“, holpere ich. Alle applaudieren.
In den Alltag integriert
Anders als in der westdeutschen Nachkriegsrepublik sind Kommunisten hier keine seltene und fremde Spezies, sondern gehören selbstverständlich zum französischen Alltag und verstehen sich auch so. Stände mit Speisen und Informationen aus allen Teilen der Welt zeigen uns, dass wir einer weltweiten Bewegung zugehören. Vietnamesinnen verkaufen dicht geflochtene Strohhüte, die sie in ihrer Heimat vor Splitterbomben schützen sollen. Das ganze Jahr über hatten dort erbitterte Kämpfe getobt.
Auf der großen Bühne tanzt mit ansteigender Rasanz ein zackiges Ballett sowjetischer Marine-Soldaten. Dann wird es ruhig. Joan Baez tritt auf. Sie hatte am Bürgerrechtskampf in den USA teil genommen und war nun eine der Leitfiguren in der Solidarität mit Vietnam. Zum Schluss stimmt Joan Baez mit ihrer klaren hellen Stimme den Song an, den sie 1963 auf dem Civil Rights March gesungen hatte. „We shall overcame“ ergreift uns und erfüllt den großen Platz. Der Lärm der Stände und Karussells scheint zu verstummen. Wir erheben uns in der Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte gelandet zu sein.
Ohne Ausweis? Auf die Wache!
Tags drauf gerate ich zum ersten und bislang letzten Mal in Polizeigewahrsam. In den Grünanlagen vom Square du Vert-Galant auf der Seine Insel hinter der Statue Èquestre d’Henri IV, einem beliebten Umschlagsplatz für Drogen, erholen wir uns von Paris und erleben eine Razzia. Da ich meinen Ausweis auf dem Campingplatz vergessen hatte, werde ich mit einem jungen Architekten in einer grüne Minna der französischen Gendamerie auf eine Wache verbracht, vermutlich nicht weit entfernt von Maigrets Amtssitz.
Der Blick durch die vergitterten Fenster auf das pulsierende Straßenleben löst bei mir schon ein wenig mulmige Gefühle aus. Die Angst des demonstrationserfahrenen Berliner Architekten, die Polizisten könnten uns schlagen, erweist sich allerdings als unbegründet. Nach mehreren Stunden kommen wir frei, und er lädt mich zu meinem ersten französischen Mehr-Gänge-Menü ein.
Der Kampf der Meinungen – und der mit den Wellen
Nun zieht es auch uns in den Urlaub – nach Hourtin Plage auf die Halbinsel zwischen Gironde und Atlantik im äußersten Südwesten der Republik. Dort campt die Familie meines Studienfreundes Egon aus Mainz. Durch Pinien- und Eichenwälder fahren wir dem Meer entgegen. Bevor wir dort unser Zelt aufbauen, zieht es uns erst einmal zum Meer. Von den hohen Dünen fällt der Blick auf einen schier endlosen Strand, die mächtigen Wellen schlagen langsam und regelmässig auf. Einige Wolken ziehen vor die langsam sinkende Sonne, die die Kiefern auf den Dünen im Abendlicht verfärbt.
Dieses erste Bild hat sich bis heute eingeprägt. Wir kamen vom Meer, von der Nordsee, aber dort gab es nur Wasser und Wiesen oder den Schlick des Watts, Brandung nur bei richtiger Sturmflut. Wir springen in die Wellen und begannen den nie endenden Kampf mit ihnen. Das allein war für mich ein Grund, für lange Zeit Jahr für Jahr immer wieder hierhin zurück zu kehren.
Schach am Strand mit Rudolf Scharping
Egon hat zwei Schwestern, in eine verliebe ich mich, die andere hatte Rudolf Scharping als Partner erwählt. Fast täglich spielen wir beide Schach. Abends streiten wir bei französischem Rotwein aus dem Pfandflaschen mit der kleinen Sternenreihe um den Flaschenhals und bei französischen Artischocken auf dem französischen Campingplatz über die Zukunft der Bundesrepublik. Während wir den Sozialismus erkämpfen wollen, argumentiert Scharping hartnäckig und geduldig für Reformen.
Seine Ankündigung, Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz werden zu wollen, halten wir für skurril. Er wiederum nimmt uns nicht Ernst und behielt Recht damit. Dass unseren Pläne scheitern, hat sich als Glück für Deutschland und mich erwiesen. Dass ich den Kanzlerkanditaten Rudolf Scharping 1994 als Korrespondent zu seinem Vorstellungsbesuch bei Bill Clinton in Washington begleiten würde, hätten wir uns damals beide nicht vorstellen können.
In Zeiten linker Fortschritts-Hoffnungen
Im Jahre 1973 führte mich ein politischer Auftrag nach Paris, der Stadt, in der die südvietnamesische Befreiungsbewegung ihre europäische Vertretung eingerichttet hatte. Hier war der nordvietnamesische Präsident Hồ Chí Minh während seines Studiums erst Mitglied der sozialistischen und dann der kommunistischen Partei geworden. Aber es war auch die Hauptstadt der Kolonialmacht, die nur durch Krieg aus Vietnam vertrieben werden konnte.
Da ich im Jahr zuvor mit einer vierköpfigen kommunistischen Delegation nach den verheerenden amerikanischen Weihnachtsbombardements auf Hanoi und Haiphong das Ausmass der Verwüstungen erfahren hatte und wir dabei auch vom vietnamesischen Parteichef Le Duan empfangen worden waren, wurde ich auserkoren, eine Distanzierung der Befreiungsbewegung zu gewalttätigen Solidaritätsaktionen für Vietnam in Deutschland zu erreichen. Anlass war die Stürmung und Verwüstung des historischen Bonner Rathauses durch Mitglieder der maoistischen KPD im April 1973.
Wir fürchteten, dass die in der Bevölkerung wachsende Ablehnung der amerikanischen Intervention dadurch gefährdet wurde. Aber das interessierte die Diplomaten der Bewegungsbewegung wenig. Sie hüteten sich vor Einmischungen in unsere Parteien-Kämpfe. So einigten wir und auf ein halbherziges, aber hoch diplomatisches Kommuniqué.
Stimmung der Zuversicht
Abends sitze ich in der kleinen Wohnung der in Paris lebenden deutschen Kultushistorikerin Gabriele; schon um den Blick über die Dächer von Paris beneide ich sie, von der Stadt gar nicht zu reden. Ich erzähle ihr über die Entschlossenheit der Vietnamesen, die Kriegszerstörungen schnell zu beseitigen, sie von dem vor einem Jahr verabschiedeten gemeinsamen Programm der Linken. Noch überwog ein Gefühl der weltweiten Zuversicht für den Fortschritt der Linken. In Chile behauptete sich die Allende-Regierung gegen anschwellende Kochtopf-Proteste.
In Frankreich war eine demokratisch gewählte Links-Regierung in greifbare Nähe gerückt. Aber Gabriele erzählt auch vom Misstrauen vieler Kommunisten, vom gemeinsamen Kandidaten Mitterand über den Tisch gezogen zu werden, und den Ängsten der Sozialisten, dass zu weitgehende kommunistische Enteignungsforderungen eine Mehrheit verhindern. Nach dem Putsch in Chile wird Mitterand bemerken: „Allende wurde von der marxistischen sozialistischen Partei bekämpft, nicht von den Kommunisten, die ihn loyal unterstützten“.
Einigung im linken Lager
Ein Jahr später fehlen Mitterand nur 300.000 Stimmen bei der Präsidentenwahl. Drei Jahre später gewinnen die Linken die Kommunalwahlen und entreißen den Konservativen entscheidende Rathäuser großer Städte. Darum fahre im März 1978 ich zu den Parlamentswahlen nach Paris. Das Linksbündnis war 1977 am Streit über Verstaatlichungen zerbrochen, aber die Meinungsumfragen sagen der Linken eine Mehrheit voraus. Unter diesem Druck zwingt Mitterand die Kommunisten zurück zur Einheit.
In den „roten blättern“ des MSP Spartakus schreibe ich über das Wochenende: „Pariser Norden. Einkaufszeit. Marktbetrieb auf den Straßen. Schlangen vor dem Bäcker. Ein Stand der Kommunisten. Gleich neben ihnen drei Sozialisten. Sie reden nicht viel miteinander. Seit September haben sie Woche für Woche an dieser Stelle laut gestritten. Am Montag haben die Parteiführungen von Kommunisten und Sozialisten eine Einigung erzielt, doch in wenigen Tagen kann der vergangene Streit nicht hinweg gefegt werden“.
Der „rote Gürtel“ von Paris
Am Wahlsonntag begebe ich mich in den „roten Gürtel“ um Paris. An den Ortseingängen künden Schilder von Freundschaftskontakten mit Orten aus der DDR. Choisy-le-Roi ist Partnerort von Henningsdorf, übrigens auch heute noch. Im Nachbarort Ivry hing zwei Jahre zuvor ein großes Transparent: „50 Jahre kommunistische Regierung in Ivry“, als sei der Sozialismus ausgebrochen. Neben der Wahlurne im prächtigen Rathaus von Ivry steht ein mächtiger Gedenkstein für Marice Thorez, einst Generalsekretär der KP, zwischen 1946 und 1947 Vizepremier und 32 Jahre Mitglied dieses Gemeinderates.
Etwas weiter links werden in einer großer Glasvitrine Puppen, Kunsthandwerk und revolutionäre Devotionalien aus sozialistischen Ländern ausgestellt. Daneben hängt ein Aufruf der Gemeindeverwaltung: „Wenden Sie sich an uns, wenn Ihnen das Wasser oder das Licht abgestellt, wenn Ihnen die Wohnung gekündigt werden soll…“ Vielleicht war ich nicht in sozialistisch befreite Gebiete geraten, aber es gab eine fest gefügte gesellschaftliche und moralische Ordnung, die den Arbeitern und Angestellten Rückhalt, Sicherheit und Heimat gab. Sie wussten, dass sie Ernst genommen werden.
In Paris verfolge ich die Ergebnisse am Fernseher. Die Meinungsumfragen erweisen sich als falsch. Die Linke verliert die Wahlen, und abends schallen in Paris noch lange die Siegesrufe durch die schmalen Gassen.
François Mitterrand, Präsident der Linken
Als Mitterand schliesslich im Mai 1981 zum Präsidenten der Republik gewählt wird, ist der jungfräuliche Charme des Linksbündnisses längst verflogen. Der KP-Chef Georges Marchais hatte nach dem ersten Wahlgang unter der Hand gegen Mitterand mobilisiert und den Mitgliedern seines Politbüros erklärt: „Die Linke hat in diesem Lande keine Mehrheit. Die Rechte wird sich wieder fangen. Auf keinen Fall darf man sich ein sozialdemokratisches Experiment für Frankreich wünschen. Die Arbeiter würden dadurch demoralisiert, und wir würden Federn lassen. Wenn die Rechte wieder an die Macht kommt, können wir uns regenerieren.“ (Zit. nach Franz-Olivier Giesbert, François Mitterand, die Biographie. Berlin 1997)
Ungerührt von Marchais Verrat nimmt Mitterand kommunistische Minister ins Kabinett und rechtfertigt das gegenüber dem amerikanischen Vizepräsidenten George Bush, der den Élysée am Tage der ersten Kabinettssitzung durch den Hintereingang besucht, um auf keinen Fall einem kommunistischen Minister begegnen zu müssen: „Jetzt muss ich die Kommunisten noch auf ihre wahre Dimension bringen. Sie werden lange in der Regierung bleiben, zu lange, aber wenn sie aus der Regierung ausscheiden, wird ihr Stimmenanteil bei zehn Prozent liegen“ (Franz-Olivier Giesbert…).
Mitterand hielt Marchais für den Familienidioten, dachte dabei aber nicht an Sartres großes Werk über Flaubert. Er verachtete den KP-Chef vielmehr wegen seiner ungepflegten Sprache, seinem groben Auftreten und seiner Vulgarität. Als ich später mit Mitgliedern des Spartakus Vorstandes einen Abend mit Marchais verbringe, sind wir erschrocken über die Schlichtheit seines Denkens und Redens. Einer von uns, heute Intendant eines großen Konzerthauses, meint bei der Rückfahrt, dagegen sei ja Erich Honnecker ein Intellektueller.
Mitterand behält Recht. Der Zusammenbruch des sozialistischen Teils der Welt und nicht zuletzt die massiv schrumpfende Arbeiterschaft begünstigten den Absturz der KP und die Implosion ihrer französischen Hochburgen. Vor allem aber verfügt die KPF weder über ein Konzept noch eine Idee, um einen Staat zu regieren; das hätte reformerische Politik erfordert, die sie ablehnte. Was sie konnten, war, ein Milieu vor Ort in den Gemeinden zu halten und zu stabilisieren. Es zerbrach mit ihrem politischen Scheitern und bereitete damit dem Front von Le Pen den Weg.
Bei den sozialen Forderungen und der totalitären Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie konnte Le Pen direkt an den Haltungen der Kommunisten anknüpfen. Die Kommunisten übergaben ihren „revolutionären“ Staffelstab dem Front National.
Mitterands deutsch-französischer Schlussstrich
Einen der letzten großen Auftritte des Präsidenten Mitterand erlebe ich in Paris am 14. 7. 1994 auf der Pressetribüne am Arc de Triomphe. Als Korrespondent begleite ich Verteidigungsminister Volker Rühe nach Paris, weil zum ersten Mal deutsche Soldaten und Panzer an der traditionellen Parade zum französischen Nationalfeiertag teil nehmen.
In der Berliner Zeitung schreibe ich: „Stillgestanden, schallt der deutsche Befehl gestern morgen über den Platz am Pariser Triumphbogen. Verteidigungsminister Volker Rühe besucht Soldaten des Eurocorps vor dem Beginn der traditionellen französischen Militärparade, mit der dem Beginn der französischen Revolution am 14. Juli 1789 gedacht wird“. Und fahre fort: „Ein ernster und alt gewordener Staatspräsident Mitterand eröffnet auf einem traditionellen Befehlswagen, umgeben von Kavalleristen die Parade. Neun Alphajets jagen im Tiefflug über den Triumphbogen die Champs Élysées hoch zum Place de la Concorde. Die Kondensstreifen malen die Farben Frankreichs in den grau verhangenen Himmel.“
Da die Deutschen über keine Erfahrung mit solchen Paraden mehr verfügen, hatten sie vorher ausgiebig geübt und konnten trotzdem nicht verhindern, dass ein Marder Panzer während der Parade deutlich zurückfiel. Er liess sich nicht mehr aus dem 1. Gang hochschalten, und ich notiere in der Reportage: „Die Reihen geraten zeitweise aus der Ordnung. Als wollten die Deutschen ihren Ruf der Präzision und Ordnung endlich einmal Lügen strafen.“ Später sagt Mitterand: „Ich war sehr bewegt, als ich all die Soldaten gemeinsam vorbeidefilieren sah. Kohl und ich sind keine Kinder. Aber wir waren erschüttert. Es war, als ob alles von vorn begänne und wir endlich einen Schlussstrich gezogen hätten.“ (Olivier Giesbert..)
Vielfalt von Uniformen
Nachmittags tauche ich in ein mir fremdes Frankreich. Im weiten Garten des Verteidigungsministerium im Hôtel de Brienne hat Minister Francois Léotard zu einem großen Empfang eingeladen. Die zumindest für mich unübersehbare Vielfalt von Uniformen und Farben zeugt von der ungebrochenen militärischen Tradition einer Kolonialmacht und Republik, ungewohnt für einen, der im republikanischen Grau der Bundesrepublik aufwuchs.
Als ich junge Marine-Infanteristen in ihren gebügelten olivfarbenen Kampfuniformen beim Verzehr von Champagner, Kaviar und Lachshäppchen frage, was sie von der Teilnahme deutscher Truppen an der Parade halten, schiesst es militärisch kurz aus ihnen heraus: „Absolut richtig“. Sie erwarten, dass sich deutsche Truppen nun auch an Kampfeinsätzen beteiligen. Sie hätten nie verstanden, warum die Bundeswehr nicht in Afrika oder am Golf kämpfe. Verbirgt sich in der Bemerkung ein französisch charmant versteckter Vorwurf der Feigheit? Wohl kaum. Es ist eher das Selbstverständnis von Männern, für die Krieg und Kämpfen das Leben ausmacht.
Gemeinsam für Europa
Auf dem Rückflug von Paris nach Berlin in der kleinen Maschine der Luftwaffe sprechen wir wenigen mitreisenden Journalisten mit Rühe über den Tag und den schwer kranken Mitterand. Es hat sich als historischer Glücksfall erwiesen, dass sich Mitterand nach anfänglichen Versuchen, die deutsche Einigung durch Besuche bei Gorbatschow und dem DDR-Ministerpräsidenten Modrow abzubremsen, auf die deutsche Einheit eingelassen hat. Und es war nicht selbstverständlich angesichts der verbreiteten und durchaus verständlichen Angst unter vielen seiner französischen Landleute vor der wachsenden Macht Deutschlands.
Er hat Frankreich nicht auf einen Kurs der Isolation geführt, sondern gemeinsam mit Helmut Kohl begonnen, ein neues vereinigte Europa zu gestalten. Keiner von uns hätte sich damals den Zusammenbruch der europäischen Ordnung vorstellen können, wie er heute möglich geworden ist.
Frankreichs Eroberung durch deutsche Häuslekäufer
Diese Parade des Jahres 1994 markiert das Ende der der deutsch-französischen Nachkriegszeit. Da hatte längst die neue Eroberung Frankreichs durch die Deutschen begonnen, dieses Mal durch die Häuslekäufer. Während sich die preußischen Könige französische Kultur und Lebensweise durch Einwanderer an den Hof holten, zog es die bürgerlichen Nachfahren direkt in die Ferienregionen Frankreichs, nicht mit Waffen, sondern mit der EC-Karte.
Auch meine Frau und ich finden eine Wohnung in Saint-Pierre-la-Mer am Mittelmeer, knapp eine Stunde diesseits der Pyrenäen. Die Siedlungsgeschichte lässt sich 2000 Jahre bis in die Römerzeit zurück verfolgen. Im Mittelalter wurde eine erste Siedlung rund um die Kirche errichtet. Von alledem ist nichts geblieben. Denn während der Besetzung walzten die deutschen Truppen die Häuser nieder, um ein freies Schussfeld aufs Meer zu erhalten.
Der wundervolle Blick aufs Meer von der Anhöhe reicht an der Küste entlang bis zu den Pyrenäen, woher das Wetter kommt. Die alte Hauptstraße am Eingang des Ortes ist nach dem von der Gestapo ermordeten Widerstandskämpfer Pierre Brossolette benannt. In der Zeitung Midi Libre erklärt ein Mitglied der Gemeindevertretung, er wolle Deutsch lernen, weil es so viele deutsche Gäste gäbe.
Im August verlegen die Franzosen für wenige Wochen im Jahr ihr Leben an den Strand oder in die Berge. Dann ist Frankreich auch in St-Pierre. Ein offenbar niemals aussterbendes altes Frankreich. Das Meer, die wechselnden Winde, die Mahlzeiten und die Hitzekurve geben den Lauf des Tages vor. Jeden Vormittag ist Markt, direkt hinter dem Strand. Sieben Tage die Woche, das ganze Jahr hindurch. Seine Düfte verschmelzen mit dem Geruch des Meeres. Nur an Sturmtagen, wenn die Gischt am Felsen von St-Pierre hochpeitscht, bleiben die meisten Stände geschlossen. Vor allem an Wochenenden zieht der Markt Leute aus der ganzen Region an.
Frankreichs Savoir-Vivre
In den letzten Jahren vermehren sich auch hier die Stände mit den globalisierten Schundangeboten von Taschen und anderem Ramsch. Aber immer noch baumeln luftgetrocknete Würste über der Auslage, einige fettarm, man geht mit der Zeit. Dazu die Schinken. Hinten am Obststand lobt Monsieur seine Aprikosen. Er ist über die Jahre grau geworden, aber mit Ende fünfzig hat er noch einmal eine Tochter gezeugt, an den ruhigen Tagen im Frühjahr oder Herbst darf sie zum Stand. So stolz ist er. Der Fischhändler preist den Thunfisch, während sein Freund auf dem Akkordeon Seemannsweisen spielt.
Kein Kino, Wirklichkeit. Weiter vorne gibt es Austern im Dutzend. Daneben Pasteten. Madame verführt: „Monsieur, probieren Sie doch.“ Mit dem Holzlöffel fischt sie zwei Oliven aus ihren großen Holzbottichen. Mit Knoblauch und Peperoni, mild oder scharf. Dann Basilikum. Oder Öl. Es sei wirklich scharf, mahnt Madame. Sie ist eine geniale Verkäuferin, immer aufmerksam, immer bemüht um den persönlichen Blickkontakt.
Nach dem Markttrubel gibt es zur Erholung einen frühen Rosé oder Kaffee in den Hollywood-Schaukeln auf dem Platz vor Charlys Bar. Abspannen. Zeitung lesen. Nichts tun, den anderen zuschauen, wie sie mit einem Baguette unterm Arm zu ihren Ferienhäusern eilen. Hier treffen die Großfamilien zusammen, wie zerstritten sie auch sonst sein mögen. Lange zieht sich das Mittagessen hin, dann nach dem Mittagsschlaf geht es mit Sonnenschirmen und Klappstühlen an den Strand, wie in einem der Filme von Monsieur Hulot im Urlaub, bevor schliesslich das Abendessen einsetzt.
Einer der Orte für Frankreichs Seele
Einmal im Jahr fahren wir nach Sète zu Anne Majourel, die auf den Klippen über der Stadt ein winziges Restaurant eröffnet hat. 27 Jahre lang hatte sie im Restaurant Le Ranquet in Tornac in den Cevennen gekocht und sich einen Michelin-Stern erkocht. Im September 2011 eröffnete sie ihre Coquerie, ein kleines Restaurant mit vier Tischen für höchstens 16 Leute um die offene Küche herum. Ohne Michelin-Stress wollte sie nur noch kochen wie in der Familie und wie es ihr Spass macht. Trotzdem erhielt sie gleich wieder einen Michelin-Stern.
Morgens kauft sie auf den Markt und beginnt ihre Arbeit in der Küche. Von ihrem Restaurant schaut man auf Hafen und Meer. Weil dieser Blick aufs Meer für sie zur Freude beim Essen gehört, öffnet sie im Winterhalbjahr auch mittags, aber im Sommer, wenn es länger hell bleibt, nur Abends. Ihr Restaurant ist einer der Orte, in der Frankreichs Seele zu spüren ist. Es geht um eine andere Vorstellung des Lebens, um den Wunsch, das Leben in seiner Vielfalt und Tiefe zu leben. Und sich dafür nicht – und schon gar nicht widerstandslos – den angeblich objektiven Zwängen der Moderne und Globalisierung zu unterwerfen. Manche deutsche Ergebenheit in die Gesetze der Vernunft wird Franzosen immer fremd bleiben.
Modern & vorbildhaft
Dabei ist Frankreich, anders als in Deutschland gelegentlich unterstellt, ein modernes Land. So führte die Fahrt nach Sète einst am schmalen langgestreckte Strand entlang, während des Sommers voll gestellt mit Autos. Die ganze Strandregion wurde – vermutlich auch mit EU-Mitteln – aufwändig und gelungen erneuert, die Verbindung zu den Dünen wieder her gestellt, die Straße zurück ins Hinterland gelegt, das wilde Parken ausgeschlossen. Eine schöne Strandlandschaft ist entstanden. Gedanken des Naturschutzes und der Ökologie werden nicht nur hier Ernst genommen.
Oder: Das große, weitgestreckte, elegante neue Gebäude auf der Straße nach Sérignan, ein gelungenes Beispiel moderner Architektur, ist eine Schule, und es gibt viele davon. Ähnliches ist in Deutschland kaum zu finden. Viele neue Wohnungssiedlungen zeichnen sich durch moderner Architektur aus. Montpellier verfügt über ein zeitgemäßes und beispielhaftes Straßenbahn-System, über Toulouse liesse sich ähnliches berichten.
Sicher, wenn man weiter landeinwärts in die Provinz gerät, ändert sich das. Degenhardts Alte mit dem Baguette unter dem Arm wird man nicht treffen, denn den Bäcker gibt es nicht mehr, den gute Franzosen einst dreimal am Tag aufsuchten, den Fleischer auch nicht mehr und auf dem Markt im Midi sitzen nur noch die Rentner. Busse verkehren nicht mehr nach Fahrplan, sondern auf Vorbestellung. Die Provinz, das Herz der französischen Seele, droht zu auszutrocknen. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen unternahm François Fillon den Versuch, sie wieder zum Leben zu erwecken, bevor er über die politischen Sitten nicht nur der Provinz zu Fall kam.
Schleichende Radikalisierung im Alltag
Die Veränderungen des politischen Klimas schleichen sich kaum merklich in den Alltag. Da ist die nette Madame, die bei uns unten im Ort den Sommer über ihren Wein verkauft. Nun hat der Sohn das Weingut übernommen, nachdem er vom Studium der Kunstgeschichte aus London zurück gekehrt ist.
Seinen Sinn für Geschmack spürt man, wenn man den Neubau des kleinen eleganten und modernes Restaurant besucht, das er auf dem Weingut gebaut hat. Donnerstags bis Sonntags wird dort eine klare anspruchsvolle Landküche geboten. Doch die Eröffnung wurde Monat für Monat, schliesslich über ein Jahr verschoben. Wenn wir Madame nach den Gründen fragten, sagte sie: Die EU, die europäischen Vorschriften.
Natürlich lag es nicht an der EU, sondern an der Gemeindeverwaltung. Aber die EU eignet sich gut als äußeres Feindbild für alles und jedes. Dabei zählt dieses Weingut zu denen, die meist von jungen Winzern im Languedoc auf den richtigen Weg der Qualität gebracht wurden. Andere versuchen weiter, auf dem europäischen Massenmarkt von Billigweinen mitzuhalten. Wenn sie scheitern, schütten sie ihre Weine zornig in den Kanal bei Narbonne. Einen kurzen Film im Fernsehen bringt das allemal.
Woche für Woche werden die Speisepläne für die selbstverständlich dreigängigen Menüs in den Zeitungen veröffentlicht. Der 2014 im alten Nachbarort Béziers zum Bürgermeister gewählte Robert Ménard kündigt gleich nach seinem Amtsantritt an, wieder Schweinefleisch beim Schulessen einzuführen. Viele Bürger seiner Stadt haben algerische Vorfahren und sind Muslime. Ménard versteht seine Entscheidung als Kampfansage gegen sie. Einst stand der ehemalige Journalist und Mitbegründer von „Reporter ohne Grenzen“ den Kommunisten nahe, später den Sozialisten, gewählt wurde er jetzt als Unabhängiger mit Unterstützung des Front National.
Typisch ist die Geschwindigkeit seiner Radikalisierung. Er begann als Kümmerer, investierte massiv in den Wohnungsbau,vervierfachte die Zahl der Anlegeplätze für Touristen im Hafen auf 1200 Plätze und führte kostenloses Parken rund um die Markthallen ein, um die Bürger in die Stadt zu holen. Zugleich verbot in der von vielen Algerienstämmigen bewohnten Altstadt, Wäsche auf die Balkons zu hängen. Als der 75.000 Einwohner starken Stadt im Jahre 2016 gerade einmal sechzig Flüchtlinge zugeteilt werden, lässt er in der Stadt bedrohliche Plakate mit Schwarzen vor der Kirche aushängen: „Der Staat zwingt sie uns auf, da haben wir’s, da kommen sie an – die Migranten in unserem Stadtzentrum.“ In einer Internet Petition wehren sich 27.000 Franzosen gegen sein Vorgehen. Aber er erfährt zugleich viel Zustimmung.
Im Betonklotz des Flüchtling-Camps de Rivesaltes
Seit der Revolution gilt Frankreich als Zufluchtsort für Flüchtlinge, Russen, Algerier, Deutsche, Iraner. Fluchten schreiben Geschichten von Angst, Hass und Gewalt. Kein Ort in Frankreich belegt das so nachdrücklich wie das Camp de Rivesaltes, 45 km vor der spanischen Grenze. Der Tramontane fegt von den Bergen, das kann tagelang gehen mit Geschwindigkeiten von bis zu 120 Stundenkilometern. Die weite Landschaft verfallender Baracken lässt die erbärmlichen Lebensbedingungen ein wenig erahnen, in der brütenden Hitze des Sommer wie in der stechenden Kälte des Winters.
Das einst größte westeuropäische Internierungscamp diente zuerst als Auffanglager für 500.000 spanische Bürgerkriegsflüchtlinge, doch 360.000 kehrten bald nach Spanien zurück, weil sie Franco dem Hungertod vorzogen oder wegen illegalen Grenzübertritts abgeschoben wurden. Ihnen folgten Juden, Sinti und Roma vor ihrer Deportation in die deutschen Vernichtungslager, dann deutsche Kriegsgefangene und der Kollaboration mit den deutschen Besatzern beschuldigte.
Schließlich wurden an die 22.000 Harkis, algerische Kämpfer, die die französischen Kolonialtruppen unterstützten, eingeliefert. Die Lebensbedingungen in den zerfallenden Baracken waren erbärmlich. Auch nach der offiziellen Schließung Ende 1964 wurden bis 2007 illegale Einwanderer untergebracht. Ein Teil des Komplexes diente als Abschiebegefängnis.
Ursprünglich sollte das Gelände eingeebnet werden. Nach langen Kämpfen setzten Bürgerinitiativen den Erhalt des Geländes, der Baracken und die Errichtung eines Memorials durch. Nun kam die politische Prominenz zur Eröffnung. Der Ort des Vergessens wandelte sich zu einem der Erinnerung. Aber auch jetzt nach Eröffnung im Herbst 2015 ist die Gedenkstätte fast nicht zu finden. Die Adressangabe der Website führt das Navi ins Leere. Wegweiser fehlen. Zufall oder anhaltende Weigerung, sich zu erinnern? Der nette Mitarbeiter im Touristenbüro von Rivesaltes gibt uns schliesslich eine Karte und erklärt den Weg.
Baracken des Leidens und Sterbens
Der Architekt Rudy Ricciotti hat für das Memorial einen mächtigen Betonklotz entworfen, 220 Meter lang, 20 Meter breit, vier Meter tief. Das Gebäude duckt sich in die rötliche Erde der an eine Wüste erinnernden Landschaft, erhebt sich langsam, aber überragt nirgendwo die noch erhaltenen Baracken, die Orte des Leidens und Sterbens. Riciotti wollte nicht, dass der Bau die alte Lagerfläche dominiert. Die Erinnerungsstätte gräbt sich so tief in den Boden, wie es die dort Inhaftierten gern getan hätten, um sich vor Sturm, Kälte oder Hitze zu schützen.
Durch einen schmalen Gang steigt der Besucher hinab. Im Zentrum steht eine 1000 Quadratmeter große Ausstellungshalle, geteilt durch einen Ausstellungstresen in der Mitte, der die Abfolge der verschiedenen Insassen-Gruppen nachzeichnet. An den Wänden Filme aus den Zeiten des Lagers. Eine Gruppe von älteren Schülern, die ihrem Aussehen nach von den aus Algerien stammenden Harkis abstammen könnten, versammeln sich am Ende der Ausstellung in der „Harki-Zone“ und zeigen einander ihre Ausweise. Worüber mögen sie sprechen?
Die dunklen Töne des Terrors
In dieses Camp de Rivesaltes lassen sich Entwicklungslinien des islamistischen Terrors zurück verfolgen. Kein anderes Land Europas hat so viele und so mörderische Anschläge wie Frankreich zu ertragen. Viele Attentäter stammen aus Familien algerischer Einwanderer. Die französischen Sicherheitsbehörden sollen über eine Liste von an die 10.000 Terror-Sympathisanten oder Gefährdern verfügen.
Der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel spricht von einer „Rückkehr des kolonialen französisch-algerischen Verdrängungskomplexes mit unglaublicher Brutalität“. Wenige Tage nach dem Anschlag am Nationalfeiertag, dem 14. Juli 1016, in Nizza und dem Putschversuch in der Türkei Tags drauf liegen Blumen und mit persönlichen Botschaften von Hand beschriebene Blätter auf dem schönen Place de la Comédie rund um den Brunnen der drei Grazien in der wunderschönen alten und so modernen Statt Montpellier.
Klagegesang der Klaviere
Abends wird aus der Opéra Berlioz im Le Corum das das Konzert „Alla Turca“, auf türkische Art und Weise live im Rundfunk übertragen. Der Weltklasse Percussionist Martin Grubinger und sein Vater spielen mit den beiden in Österreich lebenden türkischen Pianistinnen Ferhan und Fernzan Önder, zwei Zwillingsschwestern. Ihnen hatte der türkische Komponist Fazil Say sein Stück Gezi Park I über die gewaltsame Räumung des Parks gewidmet. Sie entscheiden sich, das ursprünglich für den ersten Teil des Konzerts vorgesehene Stück als Finale zu spielen. Es enthält drei Teile: Abend, Nacht und die Intervention der Polizei.
Die Schwestern beginnen mit weichem Anschlag, melodischer Freundlichkeit. Dann plötzlich ein Ausbruch musikalischer Gewalt, man scheint die Schreie und Schüsse zu hören. Der Körper von Martin Grubinger Jr. und seine Bewegungen verschmelzen mit den Instrumenten, er wird selbst zu einem.
Die Schreie der Opfer, die Knüppel und Schüsse durchdringen das Theater und münden in einem dunklen Klagegesang der Klaviere. Die Bühne verdunkelt sich und erleuchtet nur noch schwach die beiden türkischen Pianistinnen. Die Percussionisten stehen stumm im Hintergrund. Langsam und lange klingen die dunklen Töne des Klaviers nach. Die Erinnerungen an die blutige Räumung des Gezi Parks, den Anschlag in Nizza und dem doppelten Putsch in der Türkei verschwimmen miteinander.
Sieg der Solidarität
Langer Applaus. Die fast 2000 Gäste, erheben sich. Das republikanische Frankreich erklärt seine Solidarität. Zehn Monate später erweist sich diese Solidarität stärker als die Front der Feinde, die sich bei der Präsidentenwahl im Mai 2017 gegen die Republik verschworen hatten: Die islamistischen Terroristen versuchten, mit ihren Anschlägen die Wähler ins Lager von Le Pen zu treiben, um so die Gegensätze der französischen Gesellschaft zu verschärfen.
Le Pen wiederum konnte sich in den zurück liegenden Jahren in der Mitte der Gesellschaft verankern und zog fast schon selbstverständlich in die Stichwahl. Die Linken um Mélenchon und linke Intellektuelle wie Didier Eribon weigerten sich, gegen die erklärte Feindin der Republik und für Europa zu stimmen.
Nicht nur gemessen daran ist der Sieg von Emmanuel Macron bemerkenswert, der gleichsam aus dem Nichts heraus an die Spitze der Nation mit einem europafreundlichen Kurs gewählt wurde. Dieser politische Generationswechsel öffnet ein neues Kapitel der Geschichte Frankreichs und Europas. In meinem Frankreich entsteht eine neue Chance, die Europäische Union zu einer Union der Völker und Bürger zu entwickeln. Frankreich bleibt die Nation der Hoffnung.
Der Beitrag von Franz Sommerfeld ist ein Gastartikel in einer kleinen Reihe, in der alle, die dazu Lust haben, ihre Verbundenheit zu Frankreich ausdrücken können. Ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Frankreich, Erlebnisse, Gedanken. Ihr wollt mitmachen? Dann denkt bitte daran:
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• Text: per Mail in Word, Open Office oder per Mail. Denkt daran, euch mit ein, zwei Sätzen persönlich vorzustellen.
• Fotos: Bitte schickt nur eigene Bilder und jene möglichst im Querformat und immer in Originalgröße. Sendet sie gebündelt mit www.WeTransfer.com (kostenlos & top!) – oder EINZELN ! – per Mail. Bitte denkt an ein Foto von euch – als Beitragsbild muss dies ein Querformat sein.
• Ganz wichtig: Euer Beitrag darf noch nicht woanders im Netz stehen. Double content straft Google rigoros ab. Danke für euer Verständnis.
Vor der Veröffentlichung erhaltet ihr euren Beitrag zur Voransicht für etwaige Korrekturen oder Ergänzungen. Erst, wenn ihr zufrieden seid, plane ich ihn für eine Veröffentlichung ein. Merci !
Ich freue mich auf eure Beiträge! Alle bisherigen Artikel dieser Reihe findet ihr hier.
Mein erstes Frankreicherlebnis war eine Paddeltour auf der Ardèche mit einem unvergesslichen Rockkonzert am 14. Juli 1970 in Vallon-Pont-d’Arc. Mein Zweites war im Sommer 1972 an der belgisch-französischen Grenze, als ich mir von einem Grenzbeamten in den Popo schauen lassen musste, um hineinzugelangen. 13 Jahre später (das Dritte Reich dauerte nur zwölf…) öffnete das Schengener Abkommen Europas Grenzen für alle. Und 32 Jahre danach sind Fremdenfeindlichkeit und stark unterschiedliche Meinungen zu Schwulenehe oder Finanzunion der Grund für heftige Diskussionen innerhalb der EU.
Aber das hat auch etwas Gutes: Endlich ist die EU in den Köpfen der Menschen angekommen, endlich wird das komplizierte überstaatliche Gebilde als etwas Reales betrachtet, und endlich bekennen sich Menschen dazu. Bei der unsäglichen Flaggenhuberei während der Fußball-Europameisterschaften hatte ich daran gedacht, mir eine Europaflagge ans Auto zu stecken, aber ich habe mich nicht getraut. Als Macron zu den Klängen der Europahymne jetzt seine Rede vor dem Louvre hielt, war ich bewegt. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass etwas so Unglaubliches wie der Zusammenschluss von Staaten ein historischer Erfolg sein wird.
Auch wenn es letzten Endes um die Einbindung des sonst zu großen Deutschlands in ein Mittelmaß geht, auch wenn die konkurrierenden Konzerne unser Leben immer rasender machen, auch wenn sich Milliarden hierher sehnen und keinen Platz finden. Europa wird in den kommenden Jahrhunderten ein Friedens-Modell für die Welt bleiben. Allerdings wäre ich immer noch lieber Franzose als Deutscher. Oder beides. Aber das bin ich ja schon…
Présidentielle 2017: Nach der Wahl ist vor der Wahl
Den Élysée-Palast hat Emmanuel Macron gewonnen. Wieviel Macht der frisch gekürte Staatspräsident Macron aber tatsächlich haben wird, das entscheidet sich erst im Juni.
Denn dann wird die Assemblée Nationale, die französische Nationalversammlung, gewählt. Die Franzosen bestimmen in gut einem Monat ihre 577 Abgeordneten für die Nationalversammlung. Von der Wahl am 11. und 18. Juni hängt ab, ob der Staatschef eine Mehrheit der Parlamentarier hinter sich hat.
Auch hier gibt es zwei Wahlgänge: Der zweite Wahlgang ist in jenen Wahlbezirken erforderlich, in denen kein Kandidat 50 Prozentpunkte plus eine Stimme erreicht hat.
Wenn der Präsident aber keine Parlamentsmehrheit hinter sich vereinigen kann, ist sein Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt. Er muss dann einen Premierminister oder eine Premierministerin aus einem anderen politischen Lager ernennen. Bei diesem System, Cohabitation genannt (so eine Art „Große Koalition“), ist der Präsident dann gezwungen, für die Umsetzung seiner Reformpläne individuelle Mehrheiten im Parlament zu organisieren.
Für den neuen Präsidenten Emmanuel Macron steht der eigentliche politische Machtkampf also erst noch bevor.