Giroussens: die Töpfer des Südwestens
Giroussens ist Frankreichs Dorf der Töpfer. Die alte Bastide im Département Tarn, die sich rund 40 Kilometer nordöstlich von Toulouse auf einem Steilhang hoch über dem Agout erhebt, lockt alljährlich am 1. Juniwochenende Töpfer aus ganz Europa an.
Seit 1991 stellen sie beim Marché de Giroussens unter freiem Himmel ihre Arbeiten aus. Mit dabei sind mehr als 70 Werkstätten und Ateliers sowie Keramiker, die ganz allein für sich an der Drehscheibe arbeiten oder mit Aufbaukeramik kühne Kunst kreieren.
Ein altes Töpferdorf
Giroussens ist ein altes Töpferdorf – und hält die Tradition bis heute lebendig. Seit dem 14. Jahrhundert ist das Töpferhandwerk dort belegt. Damals waren dort große Tonvorkommen entdeckt worden.
Zwischen 1530 und 1840 war Giroussens die Töpferhochburg des Südwestens. 50 bis 70 waren dort im 17. und 18. Jahrhundert durchschnittlich tätig. Gebrauchsgüter wie Teller, Tassen, Schüsseln und Vasen wurden dort hergestellt.
Kunstvolle kulinarische Terrakotta
Das anfangs recht einfache, rustikale kulinarische Steingut, das einfach mit Blei glasiert wurde, wurde zur Zeit Ludwigs XIV. immer raffinierter. Das Barock liebte prächtiges Geschirr mit kunstvoll bemalten Tellern und großen Schüsseln.
Typisch für die Keramik aus Giroussens wurden die Farben Gelb, Grün und mitunter Blau sowie die Bleiglasur zur Innenseite. Diese war einmalig im Midi und wurde zum Markenzeichen der Töpferwaren von Giroussens. Einen typischen Teller präsentiert das virtuelle Musée Occitanie – schau einmal hier.
Das Keramik-Museum
Früher gab es in Giroussens das Musée de la Poterie. Heute gibt es das Centre de Céramique de Giroussens, das viel mehr ist als ein Museum: ein lebendiges Schaufenster der Töpferei in Vergangenheit und Zukunft, das zudem zum Mitmachen einlädt.
Kulturzentrum und Kunstgalerie in einem, birgt es auf 4.500 Quadratmetern neben einer großen Ausstellungsfläche für aktuelle Kreation eine Bibliothek und eine Sammlung historischer Töpferwaren.
Auf seinen Ausstellungen war schon zeitgenössische Töpferkunst von Keramikstars wie Nathalie Doyen, Eliane Monnin, Jane Norbury, Rachèle Rivière oder Marteen Stuer zu sehen. Bei jedem Besuch staune ich, was sie aus Ton alles gestalten – und wie unterschiedlich das Material dank der verschiedenen Oberflächen und Glasuren wirken kann!
In seinen Werkstätten könnt ihr bei Workshops und Kursen den Umgang mit Ton und die verschiedenen Techniken der Keramikherstellung erlernen. Während des Festival International de Céramique stellen dort Künstler aus der ganzen Welt ihre Arbeiten aus. Workshops, Vorführungen und Konferenzen rund um das Thema Keramik ergänzen das Programm.
Nicht nur Vasen, Teller, Tassen, Figuren und freie Kunst sind dort zu sehen, sondern auch, und vor allem, Schmuck. Mal grob, mal unglaublich filigran und zerbrechlich. Ketten und Ringe, die mich staunen lassen über die Vielseitigkeit dieses Naturmaterials.
Das Töpfer-Trio im Kloster
Ein ehemaliges Kloster aus dem 17. Jahrhundert birgt seit 1982 das Kunsthandwerkszentrum L’Atelier du Couvent. Seit 2003 hat dort auch Sébastien Barrère sein Atelier. Er modernisiert traditionelle Töpferei mit modernen Themen, Techniken und Materialien.
Geradezu begeistert bin ich von den Glasuren seiner Arbeiten, ihren Farben und Texturen. Inspirieren lässt sich Sébastien von den organischen Formen und erdigen Farben der Natur. Doch heraus kommt dann mitunter auch eine politische Aussage. So wie die Skulptur Pan Golden, un souvenir de l’épidémie, ein gebeugtes Gürtelschwein mit einem Panzer in Gold und güldenem Glas aus dem Jahr 2022.
Jung und talentiert ist Chloé Courbet, die dort ebenfalls ihr Atelier hat. Dritte im Bunde ist die junge Töpferin Aster Cassel, die zu den bekanntesten Jungtalenten der Keramiker-Szene in Frankreich gehört.
Star von einst: Lucie Bouniol
Mehr als 100 Jahren vor ihnen wurde in Giroussens nur wenige Schritte vom Keramikzentrum eine französische Bildhauerin geboren, die ebenfalls sehr gerne mit Ton arbeitete: Lucie Bouniol. Am 18. Dezember 1896 erblickte sie im Château de Belbèze das Licht der Welt.
Schon früh begeisterte sie sich für Kunst. Mit 16 Jahren schrieb sie sich an der École des Beaux-Arts in Marseille ein, erhielt dort mehrere Medaillen, und ging nach Paris an die École des Beaux-Arts, wo sie die Bildhauerei entdeckte – und mit dem Prix d’Atelier und dem Prix Chenevard bedacht wurde.
1921, im Alter von 25 Jahren, trat sie in die Ateliers von Antoine Bourdelle und Paul Landovsky ein und beteiligte sich 1930 bis 1935 mit Zeichnungen und Skulpturen am Salon d’Automne.
International berühmt wurde sie durch ein Treffen mit Madame Perrigot de la Tour, der Präsidentin des Internationalen Frauenclubs. Die beiden Frauen verstehen sich sofort. Beide sind gebildet und vor allem modern und unabhängig.
Ein Leben für die Kunst
Madame Perrigot de la Tour macht Lucie Bouniol sofort zur Präsidentin der Kunstsektion – eine Position, die sie bis 1975 innehielt. In dieser Zeit organisierte sie im Museum für moderne Kunst in Paris bedeutende Ausstellungen mit Gemälden, Skulpturen und Wandteppichen, die alle von Frauen geschaffen wurden.
Lucie Bouniol beschränkte sich nicht nur auf Frankreich, sondern reiste zusammen mit anderen Künstlerinnen um die ganze Welt: Brasilien, London, Stuttgart, Hannover, Athen, Istanbul, Trier … Sie starb am 31. Januar 1988 in ihrer Geburtsstadt Giroussens. Ihre Werke finden sich heute in Privatsammlungen und Museen. Ihren Atelierbestand erbte die Maison de la céramique contemporaine von Giroussens.
Sehenswert in Giroussens: ein paar Ideen
Ton prägt auch die Architektur von Giroussens. Früher waren fast alle Häuser mit Tonziegeln gedeckt. Auffällig flach sind die Ziegel, nur halb so hoch wie norddeutscher Backstein. Nur noch selten ist er frei zu sehen auf den Fassaden der Häuser, die inzwischen meist verputzt wurden.
Am Hochufer des Agout erhebt sich die Église Saint-Salvy seit dem späten 13. Jahrhundert. Sie ist dem Heiligen Salvius von Albi gewidmet und von außen ein schlichter Backsteinbau im Stil der typischen Backsteingotik des Midi mit hohem Blendgiebel und kleiner Glockenturmspitze.
Umso reichhaltiger ist ihr Inneres ausgeschmückt – mit Blattgold geschmücktem Hochaltar und vergoldeten Statuen von Maria und dem Heiligen Ruffine.
Etwas außerhalb von Giroussens versteckt sich die zweite Attraktion, die Giroussens neben der Töpferei bekannt machte: der Jardin des Martels.
1969 waren Marie-Thérèse und André Reynier aus dem heimatlichen Aveyron nach Giroussens gekommen, hatten einen Bauernhof und ein Stück Land erworben und begonnen, ihrer Leidenschaft für Blumen nachzugejen. Immer schöner und grüner wurde ihre Hofstelle. Bald strukturierten breite Rasenwege den Ort, dann kamen üppige Blumenbeete hinzu.
1975 nahm das Paar erstmals am Wettbewerb Fermes Fleuries du Tarn teil – und holten bis 1980 gleich mehrmals den ersten Preis. Immer öfter erhielt das Paar die Bitte: Öffnet euren Garten für alle!
Für ihren Sohn Frédéric, der sich als Baumschulgärtner niederlassen wollte, kam die Idee gerade recht. Die Gartenfläche wurde verdoppelt – und der Garten als grüner Park für alle beim Töpfermarkt 1994 offiziell eröffnet. Seitdem ist er gewachsen und gewachsen.
Schmuck, dieser Ton!
Zu den schönsten Schmuck-Töpferinnen des Südwestens gehören für mich Maya Talavera aus Marciac im Gers und Claude Bouviala im Aveyron. Maya arbeitet ohne Drehscheibe, nur mit den Händen.
Bewusst verwischt sie nicht die Spuren, die ihre Werkzeuge im Ton hinterlassen. Für ihre Unikate kombiniert sie groben Ton mit feinster Spitze, bunten Fäden oder anderen Materialien – gerade so, wie sie von ihnen inspiriert wird.
Groß geplant oder vorab entworfen wird nichts. „Mein Schmuck entwickelt sich bei der Arbeit“, erklärt sie. Auch Emaille, Porzellan, Steinzeug und Schamott wandeln sich unter ihren Händen zu einzigartigem Schmuck.
Handwerk & Kunst
Typisch für den Schmuck – und die Skulpturen – von Claude Bouvila sind Silber, Kupfer und Leder, die sich mit dem Töpferton paaren. Vorbild für ihre Arbeiten sind, sagt er, die Natur – und die verschiedenen Ethnien dieser Welt.
In Albi verfolgt Lore Camillo von Clair de Terre andere Visionen. Unter der Dachmarke Les Poteries d’Albi hat sie den Handwerksbetrieb ihrer Eltern mit ihrem Töpferstudio verschmolzen – die Töpfereien für den Garten, die der Familienbetrieb seit Jahrzehnten verkauft, tragen jetzt deutlich eine künstlerische Handschrift.
Die Top-Events der Töpfer
In Occitanie
Marché de Potiers du Millau: alljährlich zu Pfingsten
Marché Européen de Céramique Contemporaine: großer Töpfermarkt in den Straßen von Giroussens mit Skulpturen-Parcours, Anfang Juni von 9 bis 19 Uhr
Allée Céramique: Anfang Oktober veranstaltet Toulouse seinen Töpfermarkt. Wer auf den Allées Jules Guesde ausstellt und verkauft, wurde dazu eingeladen.
Im ganzen Land
Journées Européenes des Métiers d’Art: im März und April jeden Jahres
Giroussens: meine Reisetipps
Nicht verpassen
Centre Céramique
Töpferkunst und Keramik in all ihren Facetten.
• 7, Place Lucie Bouniol, 81500 Giroussens, Tel. 05 63 41 68 22, www.centre-ceramique-giroussens.com
Panorama de Giroussens
Paradeblicke vom Steilufer auf das Tal des Agout mit Infotafel.
• Grand Rue, 81500 Giroussens
Schlemmen und genießen
L’Echaugette
Das Restaurant direkt neben dem Panorama – natürlich auch mit grandiosem Blick auf den Fluss! Sein Patron Nicolas Galibert kocht im Rhythmus der Jahreszeiten frische Marktküche.
• 2, place de la Mairie, 81500 Giroussens, Tel. 05 67 67 45 84, www.echauguette.fr
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Annette Meiser, Midi-Pyrénées*
Annette Meiser, die u.a. die erste müllfreie Schule Deutschlands mitbegründete, hat in Midi-Pyrénées ihre Wahlheimat. Dort lebt und arbeitet sie seit vielen Jahren und bietet erdgeschichtliche und kulturhistorische Wanderreisen an.
Ihre Expertise hat sie auf 432 Seiten zwischen die Buchdeckel eines Reiseführers gepackt. Ihr erstes Buch stellt eine Ecke Frankreichs ausführlich vor, die in klassischen Südfrankreich-Führern stets zu kurz kommt.
Für mich ist es der beste Reiseführer auf Deutsch für alle, die individuell unterwegs sind – sehr gut gefallen mir die eingestreuten, oftmals überraschenden oder kaum bekannte Infos. Wie zum einzigen Dorf Frankreichs, das sich in zwei Départements befindet: Saint-Santin liegt genau auf der Grenze von Aveyron und Cantal. Wer mag, kann den Band hier* direkt online bestellen.
Hilke Maunder, Okzitanien: 50 Tipps abseits der ausgetretenen Pfade*
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