Frankreichs Bruderschaften

Sanft berührt das Schwert die rechte Schulter, verbleibt dort kurz, wandert dann zur linken Schulter und berührt schließlich das Haupt. Die Knie ruhen auf einem roten Kissen am Boden, der Kopf ist senkrecht, die Augen über den Putz im Innenhof der Cave Arnaud de Villeneuve in Rivesaltes. Worte werden gemurmelt. Meine Kleidung bedeckt ein grüner Umhang mit roter Bordüre.

Großmeister Patrick Chaumin trägt ein rotes Gewand, das gelbe Bordüren einfassen: die Farben Kataloniens. Auf seinem Haupt ruht ein Hut, dessen rotes Band zu rechten Seite fällt – niemals zur linken. Mit einer Handbewegung weist er mich an, aufzustehen.

Mit ruhigen Bewegungen greift er zu einem rot-gelb gestreiften Band, an dessen Ende eine handtellergroße Medaille ruht. Sie zeigt grüne Weinblätter und eine Krone auf dem schweren Messing, das jetzt um meinen Hals hängt: Am Welttag des Muscat Anfang Mai wurde ich 2023 „inthronisiert“ – als Ehrenmitglied der Commanderie du Babau von Rivesaltes.

Bei der Inthronisierung 2022. Foto: Hilke Maunder
Bei der Inthronisierung 2023. Foto: Hilke Maunder

Vor der Zeremonie hatten wir bei diesem chapitre mit Großmeister Patrick Chaumin und dem „Sereno“ Moya den historischen Stadtkern Rivesaltes besucht. Auf die Zeremonie folgte die Verkostung der natürlichen Süßweine Muscat de Rivesaltes mit der Sommelière Joëlle Ragner im Weinkeller von Arnaud de Villeneuve.  

Die Zeit bis zur abendlichen Konferenz von Jean Jacques Iglésis über die „60 Jahre der Flamme des Canigou“ überbrückte eine Präsentation von Rivesaltes animations zu den Babaus, furchterregenden Pappmachee-Figuren.

Bei der Parade zur sommerlichen Fête du Babau im August ziehen sie durch die Gassen der Altstadt und erinnern an jenes legendäre Ungeheuer, das einst dem Agly-Fluss entstiegen war, um die Kinder zu rauben. Heute ist der Agly nach drei Dürrejahren nahezu ausgetrocknet und die Zeremonie beendet, die mich zur ehrenamtlichen Botschafterin der Stadt und ihres weltberühmten Süßweins gemacht hat.

Großmeister Patrick Chaumin von der Confrérie du Babau mit Hilke Maunder. Foto: privat
Großmeister Patrick Chaumin von der Confrérie du Babau mit Hilke Maunder. Foto: privat

Derartige Zeremonien sind beliebte Instrumente der Markenführung, und kulinarische Bruderschaften immer beliebtere Organisationen, die sich voller Stolz und ehrenamtlich als Botschafter und Bewahrer der Gastronomie Frankreichs, ihres kulinarischen Erbes und ihrer Spezialitäten verstehen.

Tausende gibt es von ihnen im Land, berühmt wie die Confrérie des Chevaliers du Tastevin, mit ungewöhnlichen Namen wie die Confrérie de la Cacasse à cul nu (Bruderschaft des Schnitzels mit nacktem Hintern) oder der Confrérie du Chantegosier, des Schlundsingens aus Tautavel. Sie alle eint das Engagement, mit zeremoniellen und ritualisierten Veranstaltungen das kulinarische Welterbe Frankreichs lokal, regional und international bekannt zu machen.

Die Nougatbruderschaft von Montélimar. Foto: Hilke Maunder
Die Nougatbruderschaft von Montélimar. Foto: Hilke Maunder

Mit Festivals und anderen Veranstaltungen im Laufe der Jahreszeiten feiern sie das gemeinsame kulinarische Erbe, entwickeln soziale Bindungen zwischen „Brüdern und Schwestern“ und stellen ihr jeweiliges Produkt B to B und B to C vor, sprich, innerhalb der Branche wie auch den Endverbrauchern.

Ohne das Engagement der Bruderschaften für die Erhaltung des gastronomischen Erbes wären einige Produkte, Sorten oder Arbeitstechniken längst vergessen. Die Bruderschaft der Safranritter des Gâtinais hat beispielsweise den einheimischen Safran gerettet. Das Gewürz, das mehrere Jahrzehnte lang verschwunden war, wird heute wieder angebaut und ist als IGP geschützt.

Die Weinbruderschaft von Suze-la-Rousse. Foto: Hilke Maunder
Die Weinbruderschaft von Suze-la-Rousse. Foto: Hilke Maunder

Dank der Bruderschaften wurden auch diverse Speisen erfolgreich aufgewertet. Vor gut dreißig Jahren wurden die Pasteten überwiegend industriell hergestellt. Doch dank der Confrérie du Pâté croûte, die 2009 ihre Weltmeisterschaft ins Leben gerufen hat, sind nun wieder handwerklich hergestellte Pasteten zum Aushängeschild der Metzger geworden.

Ähnliches erlebte auch der gâteau basque, der dank des jährlichen Backwettbewerbes der Confrérie du Gâteau Basque neu belebt wurde – und heute nicht mehr nur Schwarzkirschen oder Konditorcrème als Innenleben birgt, sondern auch so manch eine überraschend andere köstliche Füllung. Innovation aus dem Erbe der Tradition erweist sich immer öfter als erfolgreiches Marketinginstrument der Bruderschaften.

Sangesfreudig: die Weinbruderschaft aus Tautavel. Foto: Hilke Maunder
Sangesfreudig: die Weinbruderschaft aus Tautavel. Foto: Hilke Maunder

Bruderschaften: seit der Antike aktiv

Die Idee der Bruderschaft als moralische Verbindung zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft im Geiste der Solidarität, der Freundschaft und der Werte von Respekt und Wohlwollen reicht bis in die Antike zurück. In der römischen Zeit gab es so viele Bruderschaften wie Berufe, da König Numa alle Handwerker in so viele Bruderschaften einteilte, wie im Codex Iustinianus erwähnt, dem Gesetzbuch von Kaiser Justian.

Im Mittelalter war Frankreich noch ein recht bunter Flickenteppich aus Gebieten, die zwar der Krone unterstanden, in der die Notabeln aber noch recht autonom agieren konnten. Zünfte und Schöffenämter entstanden und, zur Verwaltung der Weinproduktion vor Ort, erste Weinbruderschaften.

Als älteste Weinbruderschaft Frankreichs gilt die 11440 gegründete Confrérie San Andiu de la Galinieiro aus Béziers, die 1968 wiederbelebt wurde, gefolgt von der Jurade de Saint-Émilion aus dem Jahr 1199, die bereits 1948 wiederbelebt wurde.

Die traditionelle Trinkschafte der Chantegosier-Bruderschaft aus Tautavel. Foto: Hilke Maunder
Die silberne Weinprüfschale der Chantegosier-Bruderschaft aus Tautavel. Foto: Hilke Maunder

Staat und Kirche waren damals in Frankreich nicht getrennt. Dies bedeutete für die Bruderschaften, die von Frankreichs frommen Königen so manche Privilegien erhielten, Beruf und Religion nicht zu trennen. Die Qualitätssicherung beim Wein ging damals Hand in Hand mit gegenseitiger Unterstützung und karitativem Engagement.

Die gastronomischen Bruderschaften waren anfangs deutlich weniger bedeutsam als die Weinbruderschaften. Eine königliche Verordnung des Heiligen Ludwig, die dem Mestier des Oyers (Gilde der Gästeröster) der Stadt Paris erteilt wurde, fasste im Jahr 1248 die mit Fleisch verbundenen Berufe zusammen. Das Dekret markiert die Geburtsstunde der Confrérie de la Chaîne des Rôtisseurs.

Zum Chapitre der Weinbruderschaft von Tautavel kamen zahlreiche andere Bruderschaften aus Frankreich. Foto: Hilke Maunder
Zum Jahrestreffen (chapitre) der Weinbruderschaft von Tautavel kamen zahlreiche andere Bruderschaften aus Frankreich. Foto: Hilke Maunder

Die Französische Revolution beendete abrupt die Arbeit der Bruderschaften. Als Lobbygruppen des alten Systems verbot 1791 das Chapelier-Gesetz sämtliche Zünfte, Gilden und Bruderschaften. Ihre Sitten und Gebräuche: zerstört und vergessen.

Anderthalb Jahrhunderte später begann die Renaissance der Bruderschaften. Während der Trente Glorieuses, Frankreichs drei Dekaden des Nachkriegsaufschwungs, wurden sie ab 1950 zu Symbolträgern französischer Traditionen in Kulinarik und Landwirtschaft. Wiederbelebt wurden nicht nur traditionsreiche Weinbruderschaften, sondern auch die Chaîne des Rôtisseurs. Mit 24.000 Mitgliedern in 75 Ländern gehört sie heute zu den größten gastronomischen Bruderschaften der Welt.

Als größte Weinbruderschaft gilt die Confrérie des chevaliers du Tastevin mit ihren rund 12.000 Mitgliedern, die im Château du Clos de Vougeot ihren Sitz hat.

Clos de Vougeot. Foto: Hilke Maunder
Der Clos de Vougeot. Foto: Hilke Maunder

Im Jahr 1938 rief die berühmte Weinbruderschaft die Saint-Vincent Tournante ins Leben, eine religiöse und weltliche Zeremonie, die die Weinbaugemeinden unter dem Schutz des Heiligen vereinte. Der heilige Vincent ist der Schutzheilige der Winzer. Die ihm zu Ehren gegründeten Bruderschaften waren ursprünglich Vereinigungen, die auf Solidarität und gegenseitiger Hilfe basierten.

Jene Confréries de Saint-Vincent tauchten in Burgund erstmals im 18. Jahrhundert auf, entwickelten sich aber vor allem im 19. Jahrhundert in den burgundischen Dörfern. Dort teilten die Winzer ihre Zeit und ihre Werkzeuge, um einem kranken oder verunglückten Nachbarn bei der Bearbeitung seiner Weinberge und der Weinherstellung zu helfen. Diese gegenseitige Hilfe hält bis heute an und ist am 22. Januar alljährlich Anlass für ein großes Fest.

Auf der Domaine Vocoret habe ich diese alte Reklame für das Weinfest entdeckt. Foto: Hilke Maunder
Auf der Domaine Vocoret habe ich diese nostalgische Reklame für das Weinfest Saint-Vincent Tournante entdeckt. Foto: Hilke Maunder

Die Weinbruderschaft organisiert auch die weltberühmten Trois Glorieuses. Zu diesem Fest trifft sich am dritten Wochenende im November die weltweite Weinelite in Burgund. Die erste der „Glorieuses“ wird im Château du Clos de Vougeot gefeiert, bevor es am Sonntag mit der größten Wein-Charity-Auktion der Welt in den Hospices de Beaune weitergeht und schließlich am Montag die Paulée de Meursault folgt.

Das gesellschaftliche Ereignis mit Candle- Light-Dinner im Hôtel Dieu ist heute eingebettet in ein Wochenende mit Straßentheater, Folkloreumzug, Gastro-Dorf und Halbmarathon durch die Straßen und Weinberge von Beaune. Die großen Weinhäuser organisieren prestigeträchtige Weinproben, und rund um Beaune bieten Winzerin ihren Weinkellern Verkostungen alter oder jüngerer Weine an.

Am Sonntag organisiert ein berühmtestes Auktionshaus, meist Sotheby’s oder Christie’s, die Ver- steigerung der Hospizweine in der Markthalle von Beaune. Die zum Verkauf stehenden Weine stammen aus einem Weingut, das in seinen mehr als 500 Jahren dank Schenkungen und Vermächtnissen auf mehr als 60 Hektar anwuchs – die meisten sind als Grands Crus und Premiers Crus klassifiziert.

Die Wein-Wohltätigkeitsauktion gilt weltweit als Barometer für Prestigeweine und bringt die großen Handelshäuser von Beaune mit Käufern aus der ganzen Weltzusammen. Die Erlöse der Versteigerungfließen in den Erhalt des Kulturerbes und der Krankenhausstrukturen.

Weltumspannendes Netzwerk

Frankreichs Bruderschaften sind nicht immer solche Schwergewichte, sondern meist kleine oder mittelgroße Vereine nach dem Gesetz von 1901. Sie engagieren sich für Wein (confréries bachiques), kulinarische Produkte (confréries gastronomiques) oder Handwerkstradtionen (savoir-faire). Sie schützen und fördern das önogastronomische Erbe einer Gemeinde, eines Départements oder einer Region und bilden zusammen ein Netzwerk des Terroirs, das immer größere Kreise zieht. 

Als Dachverband fungiert auf nationaler Ebene seit 2022 die Fédération des régions des confréries. Europaweit vereint im Conseil européen des confréries œnograstronomiques, unterhalten seine Mitglieder enge Verbindungen zu den immer zahlreicher werdenden Bruderschaften in der ganzen Welt.

Pagaille nennt die Bruderschaft von Tautavel ihr Jahrestreffen. Foto: Hilke Maunder
Pagaille (Durcheinander) nennt die Bruderschaft von Tautavel ihr Jahrestreffen. Foto: Hilke Maunder

Man lädt sich untereinander ein, arbeitet und feiert gemeinsam – und veranstaltet alljährlich ein chapitre, bei dem die neuen Mitglieder ein Initiationsritual durchlaufen müssen, das durchaus auch sehr humorvoll sein kann, wie die Confrérie du Chantegosier von Tautavel beweist.

Bei dieser Weinbruderschaft müssen die Novizen, bei der Zeremonie in einen weißen Umhang gehüllt, beweisen, dass sie den Wein so trinken können, wie es einst Brauch war: aus einer hoch gehaltenen Kanne mit langer, schmaler Tülle, aus der der Wein in hohem Strahl in den Mund gelangt, ohne das die Lippen den Krug berühren …

Hygienisch, da berührungsfrei: So wird im Midi traditionell der Wein getrunken. Foto: Hilke Maunder
Hygienisch, da berührungsfrei: So wird im Midi traditionell der Wein getrunken. Foto: Hilke Maunder

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In meiner Reihe „Briefe aus Saint-Paul“ stelle ich Momentaufnahmen aus meiner zweiten Heimat vor. Hier könnt ihr sämtliche Beiträge finden.

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