Die 7 Hügel von Paris: Belleville
Belleville ist das neue Montmartre: ein Künstlerviertel auf der 108 Meter hohen Butte de Belleville – mit Panoramaaussichten auf Paris, Künstlern und kosmopolitischem Flair von 80 Kulturen. Seine Architektur ist so bunt gemischt wie seine Geschichte und Gegenwart.
Am schönsten ist es, Belleville tagsüber an einem Dienstag oder Freitag zu entdecken. Dann verwandelt sich der Boulevard de Belleville in einen afrikanischen Bazar. Kochbananen, Yamswurzeln oder Chayotefrüchte stapeln sich auf den Ständen und werden von Frauen im Boubou fachmännisch geprüft, ehe sie in die Einkaufstüte wandern. Aus den Restaurants ringsum duftet es würzig nach Couscous oder Tajines.
Der Spatz von Paris
Auf den Stufen des Hauses Nr. 72 in der Rue de Belleville soll 1915 seine berühmteste Bewohnerin das Licht der Welt erblickt haben: Édith Piaf. Ob die môme piaf, der kleine Spatz, wirklich in Belleville geboren wurde, weiß heute niemand mehr so sicher.
Tatsache jedoch ist, dass sie in diesem Viertel aufgewachsen ist und bereits als Siebenjährige auf der Straße sang. In der kleinen Wohnung der Rue Crespin du Gast, die sie zu Beginn ihrer Karriere bewohnte, erzählt ein Privatmuseum aus dem bewegten Leben der kleinen grande dame des Chansons.
Multikulturelles Belleville
Bis zur Eingemeindung durch Napoleon III. 1860 war Belleville ein beliebtes Ausflugsziel vor den Stadttoren – mit eigenem Weinberg und Gartenlokalen. Die Annexion machte das Arbeiterviertel zur Keimzelle der Kommunisten und Hochburg des Aufstandes der Commune de Paris. 1871 fielen in der Rue Ramponea die letzten Barrikaden für eine Herrschaft des Proletariats.
Mehrere Zuwanderungswellen verwandelten das Quartier zum exotischsten aller Bezirke der französischen Hauptstadt. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen die Armenier, nach dem Sieg der Bolschewiken Russen, nach dem Spanischen Bürgerkrieg Franco-Gegner, nach dem Ende der französischen Kolonialzeit sephardische Juden, Araber und Schwarzafrikaner.
Die Gentrifizierung des Kiez
Gut 80 Kulturen mischten sich in den letzten 100 Jahren unter all jene, für die der Pariser Westen immer schon zu teuer war: Arbeiter in den Automobilfabriken von Pantin, Inhaber von Kramläden, Garküchen und Handwerksbetrieben.Sie vereint trotz aller Gegensätze der Gemeinsinn.
Engagiert, aber nicht immer erfolgreich, wehrt sich das Viertel gegen die Gentrifizierung, die mit seiner Sanierung einhergeht. Erste alte Mietshäuser wurden bereits abgerissen und mit modernen Wohnblocks ersetzt. Die Folge: steigende Mieten. Auch dieser Multikulti-Kiez wandelt sich zunehmend zum Viertel der bobos ( bourgeois bohémiens).
Street-Art und hippe Bars
Erste Anzeichen gibt es bereits. Zwischen Halal-Metzgern, Vietnam-Imbissen und Asienkramläden gibt es – besonders in der Rue Oberkampf – immer mehr hippe Bars und Clubs, in denen Stars des neuen Chansons wie Fredda auftreten. Bodenständig sind die Preise dort schon lange nicht mehr.
Doch besonders bildende Künstler lockt Belleville. Mehr als 200 Street-Art-Künstler haben seit 2003 auf der acht Meter breiten Mauer von Le M.U.R an der Rue Oberkampf 107 ihre Werke hinterlassen. In Ménilmontant ist die Rue du Retrait die Leinwand der Fassadenkünstler.
Zu den Vernissagen der Galerie Wolff in der Rue Julien Lacroix 78 pilgern Sammler aus aller Welt. Patric Joly gründete 2010 die Biennale von Belleville. In geraden Jahren lud sie von Mitte September bis Ende Oktober französische und internationale Künstler ein, sich mit Belleville auseinanderzuetzen. Nach der dritten Ausgabe 2014 entschlief das Kulturprojekt sanft.
Aktuelle Kunst für alle
20 Künstler und Kooperativen aus Belleville öffnen seit 1990 alljährlich im Mai bei den Open Studios vier Tage ihre Ateliers. Mit dabei sind meist auch Delphine Dunoyer, Céline Saby, Hemut und Wanted Gina, die alle ein paar Monate auch Arbeiten von Kollegen in ihrem Atelier ausstellen.
Fast 60 Künstlerinnen, Kunsthandwerker und Kreative sind seit 2015 alljährlich Mitte Oktober bei den Journées de l’Artisanat dabei, öffnen ihre Ateliers und erzählen von ihrer Arbeit. Eine von ihnen ist die Filzkünstlerin Sanderine Pialat vom Atelier Lanzetta, die 20214 von der Initiative Fabriqué à Paris ausgezeichnet wurde.
Le Plateau zeigt seit 2002 als Ausstellungsfläche des Fonds régional d’art contemporain Ile-de-France junge und experimentelle Gegenwartskunst. Möglich wurde dieses Schaufenster der aktuellen Kreation, nachdem einem Anwohnerverein eine Neuausrichtung des Wohnbauprogramms in diesem Viertel gelang.
Drei Ausstellungen stehen seitdem im Jahresprogramm. Sie sind abwechselnd als Gruppen- und Einzelausstellungen konzipiert und führen zu neuen Produktionen und Projekten.
Kreative haben auch die alte Fabrik für Blechinstrumente erobert. In der Maison des Métallos haben sie ihre Werkstätten und Ateliers geöffnet und freuen sich auf den Austausch – bei Tanz und Theater, Debatten und Dialogen, Konzerten, Workshops und im netten Café.
In einem Nachbarschaftsgarten der Rue de Belleville lädt das Musée du Graffiti seit Mai 2009 Graffiti-Künstler dazu ein, ihre Kunst auf Tafeln zu interlassen, die alle zwei Wochen ausgetauscht werden. Die besten Werke werden archiviert, um eine Sammlung aufzubauen. Initiiert wurde dieses Museumsprojekt vom Nachbarschaftsverein Lilolila, der seit 2004 den Gemeinschaftsgarten bewirtschaftet.
Der Kulturtreff von Belleville
Erschwingliche Kunst findet ihr bei der Affordable Art Fair, der im Oktober in La Bellevilloise gastiert. Seit 1877 weht dort der Geist der Freiheit, wirbt das unabhängige Kulturzentrum La Bellevilloise, das in die ehemaligen Maison du peuple gezogen ist, der ältesten französischen Genossenschaft. Das Ensemble war einst mit seinen Innenhöfen und Gärten eine Perle der Arbeiterarchitektur. Heute ist es ein rendtreff mit Stadtgarten, Nachtclub, Privat-Bar, Jazz-Brunch im Ölbaum-Café und Eventflächen.
Auf mehr als 2.000 Quadratmetern könnt ihr auf vier Etagen alle kreativen Ausdrucksformen und Experimente entdecken: Konzerte, Aufführungen, Ausstellungen, Diskussionscafés, Filmvorführungen, Konzerte, Modenschauen und vieles mehr.
Die Verwandlung von Belleville
Die Verwandlung von Belleville ins „neue Marais“ ist auch Thema der Buchhandlung Le Genre Urbain in der Rue de Belleville 60, die sich mit Fachliteratur und Vorträgen mit dem Urbanismus auseinandersetzt. Mit RVB Books in der Rue Julien Lacroix 95 ist auch ein vielfach prämierter Fotokunst-Verlag ins Viertel gezogen, das inzwischen neben einfachen Bistros auch sein erstes Sternerestaurant besitzt: Baratin.
Combat, Kampf, nennt sich die Cocktail-Bar, die Margot Lecarpentier 2017 mit ihrer Partnerin in der Rue de Belleville 63 eröffnet hat – zwei Frauen als Mixerin in dieser Männerdomäne, da staunte selbst Belleville. Und pilgert seitdem immer wieder gerne zu Margot, die heute als eine der besten mixologues der Hauptstadt gilt.
Paradeblicke auf Paris
Belleville leitet seinen Namen ab von belle vue, der schönen Aussicht. Der Parc de Belleville ist die grüne Lunge des Viertels. 45.000 Quadratmeter groß liegt er auf den Höhen des Belleville-Hügels und bietet atemberaubende Panoramablicke auf Paris.
Seine 140 Rebstöcke sind eine echte Sehenswürdigkeit. Zwei bis drei Kilogramm schwer sind seine Trauben – und werden jeden Herbst geerntet. Ein Holzdorf für Kinder lädt mit Turmtreppen und Rutschen in allen Größen zum Toben ein. Ein Wasserlauf mit Kaskaden und Düsen sorgt dafür, dass sie dabei nicht trocken bleiben…
Im offenen Pavillon der Maison de l’Air erfahrt ihr mehr über die berühmte Pariser Luft. Ihr findet ihn oberhalb des terrassenförmig angelegten Parc de Belleville am Ende der Rue Piat. Ganz in der Nähe, auf Höhe der Hausnummer 36, lohnt in der Rue Piat die Fresque Mosaique du Porsche Piat einen Blick!
Bei der Rue de Piat seid ihr bereits im Viertel Hauts de Belleville, das sich rund um die Metrostation Télégraphe herum erstreckt – mit kleinen Gassen, Treppenwegen und charmanten Plätzen. Dort sind einige Straßen einen Umweg wert, z. B. die Rue des Cascades, die Rue de l’Ermitage mit der Villa de l’Ermitage und die Privatstraße Cité Leroy.
Der Friedhof von Belleville
Auf dem einstigen Gelände des Parks von Ménilmontant in 128 Metern Höhe wurde 1808 der Friedhof von Belleville angelegt. Im Schatten von 100 Bäumen liegen dort 3.200 Gräber. Auch Léon Gaumont, Frankreichs Pionier des Ton- und Farbfilms, hat dort seine letzte Ruhestätte gefunden.
Im Cimetière de Belleville erinnert ein Denkmal an die Pariser Kommune, Dort zu sehen ist auch der von Chappe 1792-1793 errichtete Telegraf. Zu seinen Füßen erstreckt sich Plein Air, die erste städtische Blumenfarm in Paris. Fast 200 Blumenarten baut sie an und bietet sie an ausgewählten Samstagen zum Verkauf an.
Der Pariser Promi-Friedhof
Die Tour de Montparnasse ist der Blickfang der Ausblicke von der Cimétière Père Lachaise. Er ist mit 44 Hektar nicht nur der größte, sondern auch der schönste Friedhof von Paris und wurde 1804 – eine Premiere in der Welt! – als Park angelegt. Breite Wege führen zu Mausoleen aus Marmor, antiken Säulen, kleinen Tempeln, Statuen und Skulpturen.
Eine Million Menschen ruhen hier in 69.000 Grabstätten. Doch vor allem seine Prominentengräber machen ihn zum Pilgerziel. Musiker und Maler, Dichter und Denker, Schauspieler und andere Stars liegen hier begraben. Wo, verrät der Lageplan am Eingang. Édith Piaf, US-Rocker Jim Morrison und Oscar Wilde haben hier ihren ewigen Frieden gefunden.
Das Grab von Wilde schützt heute eine Glasplatte. Verehrer hatten den Grabstein immer wieder mit Lippenstift-Küssen bedeckt. Die Schutzplatte konnte das romantische Ritual nicht stoppen. Als älteste Bewohner der Totenstadt gelten Abelard und Héloise, das tragische Liebespaar des 12. Jahrhunderts. Östlich der Avenue Principale findet ihr auf dem jüdischen Friedhofsteil die Gräber von Pissaro, Rothschild und Singer.
Die Mur des Fédérés, die Mauer der Föderierten, erinnert an das Ende der Pariser Kommune. Am 28. Mai 1871 wurden die 147 Überlebenden des letzten Gefechts hier standrechtlich erschossen.
Belleville: meine Reisetipps
Erleben und genießen
La Bellevillois
In den Hallen der ersten Pariser Genossenschaft aus dem Jahre 1877 regiert bis heute der Freigeist – auch das Musikprogramm gibt sich alternativ und unangepasst. Sehr beliebt ist der sonntägliche Live-Musik-Brunch ab 11 Uhr – im Sommer auf einer Terrasse hoch über der Straße.
• 19 – 21, rue Boyer (20. Arr.), Tel. 01 46 36 07 07, www.labellevilloise.com
Le Vieux Belleville
Nur noch selten wird in Paris die Tradition des Bistrot à Chanson gepflegt, einem Lokal mit volkstümlichem Liedgut und solider Hausmannskost. Im Le Vieux Belleville serviert die Wirtin Coq au Vin (Hähnchen in Rotweinsoße), während der Akkordeonspieler Lieder von Edith Piaf und aus der Zeit der Pariser Kommune intoniert.
• 15, rue des Envierges (20. Arr.), Tel. 01 44 62 92 66, www.le-vieux-belleville.com
La Maroquinerie
Das Musikprogramm der intimen Maroquinerie liebt die surprise, die Überraschung: Präsentiert werden ungewohnte Hörerlebnisse, unbekannte Klangperlen oder Künstler mit ganz eigenem Stil – vorwiegend aus der Indie- und Rock-Szene.
• 23, rue Boyer (20. Arr.), Tel. 01 40 33 35 05, www.lamaroquinerie.fr
Le Zèbre
Le Zèbre de Belleville nennt sich ein ehemaliges Stadtteilkino, das in einen Veranstaltungssaal für Konzerte, Zirkus und Comedy umgewandelt wurde. Trapezkünstler, Zauberer und Jongleure zeigen ihr Können nur wenige Meter entfernt, und bei Konzerten sind die Musiker und Sänger hautnah zu erleben – denn das Theater ist wirklich recht klein. Für alle, die den Artisten in sich wecken möchten, gibt es Zirkusworkshops.
• 63, boulevard de Belleville, 75011 Paris, Tel.-01 43 55 55 55, www.lezebre.com
Gefällt Dir der Beitrag? Dann sag merci mit einem virtuellen Trinkgeld.
Denn nervige Banner oder sonstige Werbung sind für mich tabu.
Ich setze auf Follower Power. So, wie Wikipedia das freie Wissen finanziert.
Unterstütze den Blog! Per Banküberweisung. Oder via PayPal.
Weiterlesen
Im Blog
Alle meine Paris-Beiträge sind in dieser Kategorie vereint.
Im Buch
Hilke Maunder, Baedeker „Paris“*
Meinen Baedeker „Paris“* gibt es seit 4. Oktober 2023 in der komplett aktualisierten und mittlerweile 20. Auflage!
„Tango unter freiem Himmel: Die Stadt der Liebe: Der neue Reiseführer ‚Paris‘ zeigt – neben Sehenswürdigkeiten – besondere Orte für Höhenflüge, romantische Momente wie ‚Tango unter freiem Himmel‘ und unvergessliche Dinners. Dazu gibt’s viele Kulturtipps…“ schrieb die Hamburger Morgenpost über meinen Paris-Führer.
Zu den Fakten, unterhaltsamer präsentiert, gibt es jetzt auch Anekdoten und Ungewöhnliches, was ihr nur im Baedeker findet. Und natürlich ganz besondere Augenblicke und Erlebnisse, die euren Paris-Aufenthalt einzigartig und unvergesslich machen. Wer mag, kann meinen Paris-Reiseführer hier* bestellen.
* Durch den Kauf über den Partner-Link, den ein Sternchen markiert, kannst Du diesen Blog unterstützen und werbefrei halten. Für Dich entstehen keine Mehrkosten. Ganz herzlichen Dank – merci !