Faubourg Saint-Antoine: die Handwerker-Höfe
Mitunter setze ich mich in Paris einfach in die Métro – und überlasse es dem Zufall und der Intuition, wo ich aussteige. Diesmal war es die Place de la Nation.
Der zweitgrößte Pariser Platz an der Grenze des 11. und 12. Arrondissement ist einer der größten und wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt. Oder vielmehr: war. Denn nach der Verwandlung der Place de la République ist auch der Platz der Nation lebenswerter geworden.
Pilotprojekt im Pariser Osten
Dabei half das Internet of Things (IoT). Sensoren und Kameras erfassen die Verkehrsströme, vernetzen Gebäude, Betriebe und Einrichtungen mit dem öffentlichen Raum und schaffen so intelligente Lösungen, die Luftwerte und Lebensqualität verbessern. Das erhofft sich zumindest die Stadt Paris, die dazu ein Pilotprojekt mit Cisco gestartet hat.
Ursprünglich hieß der riesige Verkehrskreisel mit einem äußeren und einem inneren Ring und grüner Insel mit Blumenbeet und Bronzegruppe noch Place du Trône (Thronplatz).
Denn 1660, als dieses Areal noch Teil des Bauerndorfes Picpus gewesen war, hatte man dort anlässlich der Rückkehr des frisch verheirateten Sonnenkönigs Ludwig XIV. mit Maria Teresa von Spanien am 26. Juli 1660 auf der grünen Wiese einen Thron aufgestellt.
Die Revolution stürzte den König, benannte den Platz in Place du Trône-Renversé (Platz des gestürzten Throns) um, stellte die Guillotine auf – und ließ die Köpfe von 16 Karmeliterinnen rollen.
Die Republik überwand die Monarchie. Jules Dalou glorifizierte den Sieg sinnbildlich mit der Bronzegruppe Le Triomphe de la République. Den Eingang zur Avenue du Trône markieren zwei Säulen von Ledoux. Erst später gesellten sich die Statuen von Philippe Auguste und Saint Louis hinzu.
Ein Kloster mit Privilegien
Die Place de la Nation und die Place de la Bastille, wo das Volk am 14. Juli 1789 das verhasste Staatsgefängnis gestürmt hatte verbindet eine der ältesten Straßen der Stadt: die 1,6 Kilometer lange Rue du Faubourg Saint-Antoine.
In Römertagen führte sie von Westen ins Herz von Lutetia. Später zogen die Könige auf der Straße zu ihrem Schloss in Vincennes. Dass sie einst außerhalb der Stadtmauern lag, verrät das Wörtchen faubourg im Namen.
In diesem ganzen Faubourg St. Antoine gehen Elend, Armut, Laster und Verbrechen Hand in Hand, und die Zeugnisse dafür starren einem von allen Seiten ins Gesicht.
Mark Twain, Reisebilder (1889)
Die Vorstadt gehört im Mittelalter zum Kloster Saint-Antoine-des-Champs und damit zu einem noblen Damenstift der Zisterzienser, das in der Gunst der Könige stand und immer wieder Privilegien erhielt.
Ludwig XI. befreite die Handwerker 1471 von Steuer und Zunftzwang. Gleich vor der Haustür lag zudem die Seine, auf der die exotischen Hölzer der neuen Welt auf riesigen Flößen, mitunter im Doppelpack, nach Paris kamen.
Die Wiege der Kommode
Beide Faktoren machten den Faubourg Saint-Antoine zum Zentrum der Möbelindustrie. Während die Zunft-Schreiner nur Eichenholz verwenden durften, schufen die Möbeltischler des Faubourg Saint-Antoine Meisterwerke aus exotischen Edelhölzern.
Und erfanden neue Möbelstücke wie die Credenz, die Anrichte. Bis heute benutzen wir ein Möbel, das André-Charles Boulle 1662 als Ersatz für die eichenen Aufbewahrungstruhen erfunden hatte: die Kommode – sie war einfach praktischer, sprich commode.
Was in den einst bis zu 800 Werkstätten des faubourg getischlert wurde, waren Luxusmöbel. Heute könnt ihr sie u.a. im Pariser Stadtmuseum Hôtel Carnavalet und dem Musée Nissim de Camondo ansehen.
Die Tradition des Möbelhandwerks hält die Frankreichs Eliteschule für Möbelbau aufrecht, die mit ihrem Namen an den Erfinder der Kommode erinnert: die École Boulle.
Einmal pro Jahr öffnet das Lycée Professionelle des Métiers de l’Ameublement an der Rue Bourdan seine Pforten und zeigt bei den Journées Portes Ouvertes seine Ausbildungsstätte und Arbeiten seiner Schüler.
Spieglein, Spieglein, an der Wand
Mit Ludwig XIV. begann die Luxusgüterproduktion in Frankreich. Um seinen Hof prachtvoll auszustatten, beauftragte der absolutistische Monarch seinen Finanzminister Colbert, die Fabrikation im eigenen Land anzukurbeln.
Er attackierte damit die Monopolstellung von Venedig, das bis dahin die Herstellung von Spitze und Glas kontrollierte. Eine Schule für die Spitzenherstellung wurde im normannischen Alençon gegründet.
Der Faubourg Saint-Antoine wurde 1665 Sitz der Manufacture Royale des Glaces de Miroirs, der königlichen Spiegelglas-Manufaktur in der Rue Reuilly. Produktion und Markt waren staatlich reguliert.
Das Unternehmertum indes lag in privater Hand – beim Finanzmann Nicolas Dunoyer und seinen Partnern. Erster Großauftrag des jungen Unternehmens war die Glasproduktion für den Spiegelsaal des königlichen Château de Versailles.
1688 erhielt die Manufaktur das staatliche Monopol für Flachglas aller Abmessungen ab 60 Zoll × 40 Zoll (1,56 m × 1,04 m). Im gleichen Jahr revolutionierte der normannische Hüttendirektor Louis Lucas de Nehou seine Herstellung. Er ließ die Glasschmelze auf ebene Gießtische ausgießen, von schweren Walzen glatt walzen und mit Sand schleifen.
Für dieses Tischwalzverfahren war im eng bebauten Faubourg Saint-Antoine kein Platz. 1692 wurde die Produktion ins picardische Dörfchen Saint-Gobain bei Laon verlegt. Dort entwickelte es sich zum europäischen Marktführer für Flachglas und machte den Orts- zum Firmennamen: Saint-Gobain.
Altes Handwerk, neue Talente
Im Faubourg Saint-Antoine mischt sich heute das alte Handwerk mit Zeitgeist und Chic. Viele traditionelle Werkstätten erlebten ihre Renaissance als elegante Lofts, Designerboutiquen, Showrooms, Galerien und Wohnungen der bobos, der „bourgeois-bohèmes, die das Quartier eroberten.
Das Haus der Rue de Faubourg Saint-Antoine 30, erst von Künstlern besetzt, nutzte dann der Modemacher Jean-Paul Gaultier, ehe das Atelier de Paris, heute das Bureau de Design, de la Mode et des Métiers d’Art, es zum Inkubator der Nachwuchsförderung machten – seht euch dort die Arbeiten von neuen Talenten an!
Handwerkerhöfe und Passagen
Typisch für den Faubourg Saint-Antoine sind seine Passagen und Höfe mit klangvollen Namen. Besonders zahlreich findet ihr sie zwischen den Métro-Stationen Bastille und Faidherbe-Chalgny.
Wohnen, Arbeiten und Leben waren dort vereint. Im Erdgeschoss lagen die Werkstätten, darüber die Lager- und Büroräume. Geschlafen wurde oft mitten in der Werkstatt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts endete dieser Usus, als Napoleon III. die strikte Trennung von Werkstatt und Wohnraum per Gesetz festschrieb.
Cour du Bel Air (Rue du Faubourg Saint-Antoine Nr. 56)
Kopfsteinpflaster, tiefrote Fenster, weiße Fassade und Ranken und Reben auf der Fassade: ein romantischer wie geschichtsträchtiger Hof, der die Musketiere des Königs bis 1775 beherbergt hatte.
Cour des Shadoks (Nr. 71).
Die Shadoks waren die Helden einer beliebten französischen Zeichentrickserie, die das französische Fernsehen in vier Staffeln ausstrahlte: 1968, 1969, 1972 und 2000. Shadoks sind außergewöhnliche, verrückte Vogelfiguren, die nicht fliegen können, Eier aus Eisen legen – und eine neue Heimat suchen.
Erst auf der Erde, dann auf einem eigenen Planeten, den sie sich selber bauen. Erfunden wurden sie von Jacques Rouxel (1931-2004), der mit ihnen ironisch und humorvoll die Veränderungen und gesellschaftlichen Umwälzungen seit 1968 kommentiert. Didier Drummond saniert 1998 die Hofanlage.
Cour de l’Etoile d’Or (Nr. 75)
Der Innenhof besteht aus zwei miteinander verbundenen Höfen. Der erste ist rund 40 m lang und 10 m breit, der zweite kürzer (30 m) und breiter (15 m). Ein kleiner Durchgang unter dem Gebäude verbindet beide Bereiche.
Cour de l’Industrie (37 bis, Rue de Monteuil)
Auch dieser Komplex von alten Industriegebäuden, der lange Zeit als verkommen abgerissen werden sollte, hat seine frühere Atmosphäre bewahrt. In den drei gepflasterten Höfen, die denen seit seiner Gründung im Jahr 1673 Holzhandwerker – Schreiner, Tischler, Vergolder, Lackierer – tätig waren, arbeiten heute Bildhauer, Musiker und andere Künstler.
1991 gründeten sie den Verein ACI (Ateliers Cours de l’Industrie), um ihr „kleines Paradies“ vor den Immobilienspekulationen zu retten, die bereits andere Teile der Vorstadt im Griff hatte. 2004 kaufte die ACI das Gelände von der Stadt Paris, und übertrug die Sanierung der SEMAEST. Seit Frühjahr 2017 sind die Arbeiten beendet. So wurde ein authentisches Fleckchen des Faubourg Saint-Antoine gerettet.
Cour Saint-Nicolas
Zwischen der Avenue Ledru-Rollin und der Rue Saint-Nicolas entwarf nach Ende des deutsch-französischen Krieges die Maison Stroesser Möbel für betuchte Kunden. Heute bergen die einstigen Werkstätten und Büros einen Veranstaltungsraum.
Cour des Bourguignons
Im „Burgunderhof“ produzierte ab dem 18. Jahrhundert die Möbelfabrik Krieger. Die beiden Seitengebäude ließ Charles-Auguste Hollande 1862 bis 1866 als zwei lange Gebäude mit großen Fenstern im Innenhof errichten. Der Holzhändler belieferte fast alle Tischler im Faubourg Saint-Antoine.
1868 übernahm Henri Racault die Fabrik. Zeitweise waren dort bis zu 600 Handwerker – Designer, Bildhauer, Tischler, Polsterer – tätig. 1855 und 1867 nahm das Unternehmen sogar an den Weltausstellungen teil!
1868 verband er die beiden Riegel mit einem Gußeisen-Glasbau, um eine Dampfmaschine aufzunehmen. Heute erinnert ein 32 Meter hoher Ziegelschornstein, der zwischen den sanierten Fassaden aufragt, an die Blütezeit der Produktion.
Bunter Schmelztiegel
Das Besondere des Faubourg Saint-Antoine war – und ist bis heute – sein buntes Völkergemisch. Den Auvergnaten folgten die Bretonen, später die Italiener, Spanier, Russen, Juden, Araber und Einwanderer aus den Kolonien. Jede Volksgruppe brachte ihre eigene Kultur mit, die den Kneipen, Tanzlokalen und Geschäften ihren Stempel aufdrückte.
Abbild dieser gewachsenen, multikulturellen Atmosphäre ist der lebhafte Markt an der Place d’Aligre mit ihrer denkmalgeschützten Halle aus dem 19. Jahrhundert.
Hier findet ihr alles, was euer Herz begehrt: frisches Obst und Gemüse, exotische Gewürze und perfekt affinierten Käse, aber auch Trödel und tunesisches Gebäck. Und zahlreiche Cafés ringsum!
Doch auch hier schreitet die Modernisierung deutlich spürbar voran. Dies zeigt auch die schönste filmische Hommage an das Viertel: Chacun cherche son chat (… und jeder sucht sein Kätzchen, 1996) von Cédric Klapisch.
Viadukt der Künste
Die stillgelegte Bahnlinie zwischen Bastille und der Périphérique ist heute als Coulée verte René-Dumont (Allée Plantée) eine 4,5 km lange Flanierstrecke, die auf dem ehemaligen Gleisbett zum Bummeln in luftiger Höhe einlädt.
In die 71, bis zu zehn Metern hohen Gewölbe der Bahn an der Avenue Daumesnil 1-129 sind 55 Kunsthandwerker gezogen, darunter Glasbläser und Geigenrestaurateure, Porzellanmaler, Goldschmiede, Möbelmacher und Rahmenbauer.
Fünf Bögen des Viaduc des Arts widmen sich zeitgenössischem französischem Design. Im Viaduc Café (Nr. 43) trifft sich Paris sonntags zum Jazzbrunch.
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Liebe Hilke,
danke für diesen super Artikel! Der Faubourg Saint-Antoine lädt ja gerade zu zum Herumschlendern ein. Lange bin ich nicht mehr dort gewesen. Aber beim nächsten Paris-Besuch ist das ganz sicher einen Abstecher wert, und zur Einstimmung vorher „Chacun cherche son chat“ gucken….was meinst Du? Den Film hab ich seit 1996 nicht mehr gesehen. Danke fürs Drauf-Aufmerksam-machen!
Herzliche Grüße Alice
Hallo, liebe Alice, ja, erst den Film gucken und dann da bummeln! Und dann auch mal in den Westen, die revitalisierten Seine-Inseln angucken. Da bin ich gerade noch am Recherchieren!
Herzliche Grüße! Hilke
Wow, Seine-Inseln! Das hört sich ja auch toll an. Bin sehr gespannt auf Deinen Bericht. Viel Spaß und Erfolg zunächst beim Recherchieren!
Liebe Grüße Alice
Danke!! Der Pariser Westen muss mit auf Deine Anguckliste! Auch, was etwas weiter draußen ist – wie Saint-Germain-en-Laye… toll! Liebe Grüße, Hilke
Vielen Dank für diesen tollen Artikel. Leider hatten wir bei unserem Paris Besuch im letzten Jahr nicht so viel Zeit uns auch den Osten anzusehen. Dieser Artikel macht richtig Lust gleich hinzufahren. Beim nächsten Besuch steht dieser Bereich schon mal ganz oben auf der Liste!
Danke für diesen tollen Blog!
LG Dörte
Hallo Dörte, ganz lieben Dank für dieses Lob! Als ich in der Grundschule und Sekundarstufe I war, hieß meine allerbeste Freundin Dörte (Heyer). Leider haben wir uns aus den Augen verloren… Du bist das nicht zufällig mit Ehe-Namen?
Herzliche Grüße, Hilke