Das Kind mit der Eselsmütze am Pont Neuf. Foto: Hilke Maunder
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Die roten Menschen von James Colomina

Ein Aufschrei für Menschlichkeit: So versteht James Colomina seine Street-Art. Wer durch Toulouse bummelt, begegnet ihnen immer wieder: kleinen roten Menschen. Sie hocken hoch über den Gleisen der SNCF auf der Dachrinne, tragen einen Apfel als Kopf. Oder in einem Wasserdurchlass des Pont Neuf eine ganz besondere Mütze.

Das Kind mit der Eselsmütze

Es ist das Symbol derer, die geächtet, die beiseitegeschoben werden: l’enfant au bonnet d’âne. Seit Sommer 2017 sitzt es in einem Wasserdurchlass eines Brückenpfeilers der Garonne und blickt gen Westen. Ein Kind, leuchtend rot, mit Eselsmütze.

„Dieses Kind repräsentiert die Minderheiten, diejenigen, die nicht in die Schablone passen, und die Stigmatisierung im Allgemeinen. Wer auf das Kind zeigt, wird durch die Interaktion Teil meines Kunstprojekts. Der Zuschauer wird zum Schauspieler“, sagte James Colomina.

Toulouse: L'Enfant au bonnet d'âne an der Pont Neuf. Foto: Hilke Maunder
L’Enfant au bonnet d’âne am Pont Neuf. Foto: Hilke Maunder

In Limoux geboren, schlug sich der junge Mann nach der Schule mit diversen Aushilfsjobs durchs Leben. Dabei erkannte er eines Tages seine Berufung: Er wollte Dinge formen. Colomina begann eine Ausbildung als Zahntechniker. Nach getaner Arbeit kehrte der junge Okzitane nicht nach Hause, sondern immer öfter in die Werkstatt zurück. Dort modellierte er statt Schneide- und Backenzähnen voller Begeisterung Arme, Beine und Gesichter.

Colomina verliebte sich neu und zog nach Toulouse. Dort baute er die einstige österreichische Botschaft zum Heim für die Familie aus – samt Showroom und Atelier. 2015 formte er dort erstmals ganze Menschen: Figuren von Kindern, den Körper aus Kunstharz, bedeckt mit leuchtendem Rot.

Signalfarbe Rot: Liebe und Gewalt

„Rot fällt in einem städtischen Kontext am besten ins Auge“, sagt Colomina. „Doch vor allem wähle ich Rot, weil man mit dieser Farbe viel mehr sagen kann als mit anderen. Rot kann Gewalt, aber auch Schönheit, Sanftheit und Liebe ausdrücken.“

Gewalt von Erwachsenen gegenüber Kindern, Gewalt von der Gesellschaft gegenüber Einzelnen und die Übertragung von Gewalt von Generation zu Generation. So ist sein Rot auch ein Aufruf: Seht hin! Ändert etwas!

Im Dunkel der Nacht bringt James Colomina seine Werke auf die Straße. In der Interaktion oder im Kontrast zur Umgebung erwachen sie zum Leben. Wie dieses Kind mit der Eselsmütze, das von der Gesellschaft abgelehnt wird und unter der Brücke isoliert ist.

Toulouse: L'Homme à la tête de pomme auf der Ramblas von Toulouse bei der Métro Jean-Jaurès. Foto: Hilke Maunder
L’Homme à la tête de pomme auf den Ramblas von Toulouse bei der Métro Jean-Jaurès. Foto: Hilke Maunder

Mini-Menschen mit Botschaften

Inzwischen haben sich zu der bekanntesten Figuren von Colomina viele weitere rote Mini-Menschen gesellt. Nicht nur in Toulouse, sondern auch in Paris, Barcelona und sogar New York sind sie heute zu sehen. Für alle, die James Colominas Skulpturen in seiner Heimatstadt aufspüren möchten, voilà noch einige Tipps.

L’homme à la tête de pomme

Ebenfalls im Stadtzentrum, auf den Ramblas genannten Allées du Président Franklin Roosevelt, befindet sich die Skulptur L’homme à la tête de pomme (Der Mann mit dem Apfelkopf) von James Colomina auf dem leeren Sockel der Skulptur von Jeanne d’Arc-

L’enfant d’AZF

Auch dieses rote Kind ist ein Symbolwerk. Von Kopf bis Fuß bandagiert und einen Rosenstrauß in der Hand, installierte James Colomina sein Werk L’enfant d’AZF in der Nacht zum 21. September 2017, nur wenige Stunden vor den Gedenkfeiern zum 16. Jahrestag der Explosion, mehrere Meter über dem Boden auf den Überresten der Anlage, riesigen Metallrohren, die von der Justiz noch immer in der Nähe des Kraters versiegelt sind.

„Es ist ein Kind, das sich auf den Ruinen von AZF versammelt“, erklärte der Künstler, „um den Opfern und Verletzten zu gedenken. Es symbolisiert auch diese Familien, die in der Nähe von gefährlichen Fabriken wohnen“.

Die Explosion in Toulouse

Am 21. September 2001 explodierten in der zu TotalFinaElf gehörenden Düngemittel-Fabrik AZF (Azote Fertilisants)  mehrere hundert Tonnen Ammoniumnitrat in einer Deponie für chemische Abfälle. Bei der Explosion wurden große Teile der Stadt beschädigt, insbesondere durch berstende Fensterscheiben. 31 Menschen starben. Tausende wurden verletzt. Die Ursache des Unglücks ist unklar.

La petite observatrice

In New York setzte der Toulouser Street-Artist im Jahr 2018 ein kleines Mädchen mit Taucherbrille auf dem Rand einer niedrigen Mauer, mitten in Manhattan, in die Park Avenue,

„Die kleine Beobachterin“ hatte James Colomina bereits anlässlich einer Messe für zeitgenössische Kunst ohne Genehmigung auf dem Dach des Ausstellungsgeländes aufgestellt.

Le lance-cœur

Im Jardin du Grand-Rond steht in der Nähe des Musikpavillons eine rote Figur, die zuvor das Musée d’Arts-Contemporains des Abattoirs geschmückt hatte. Das Kind mit der Schleuder, das eine Maske vor dem Gesicht trägt und ihr Äußeres durch einen Kapuzenpulli verhüllt, ist laut Colomina eine Figur mit vielen Stimmen.

Es ist ein kleiner Rebell, der sich Dingen entgegenstellt und daher mobil und flexibel ist. Seine Waffe indes dient ihm nur dazu, Liebe zu werfen.

Im Musée d’Arts-Contemporains des Abattoirs erinnerte er an die traurige Situation der Migranten und die Gleichgültigkeit, die viele ihnen gegenüber an den Tag legen.

Im Jardin du Grand-Rond spricht die rote Figur über den Humanismus, der trotz allem in jedem von uns schlummert. Niemand knebelt seine Worte. Seine Äußerungen sind frei und folgen dem Verlauf der Geschichte der Gesellschaft. Und so war er auch mitten in der Demo der Gymnasiasten zu sehen, die 2018 stattfand.

Le migrant

Längst setzt James Colomina seine roten Figuren auch weltweit ein, um politische wie humanitäre Botschaften sichtbar zu machen. 2019  schockierte er mit Le Migrant die Hauptstadt und zeigte ihn an symbolischen Orten von Paris.

Le voyageur

Auf dem Dach der Hauts de Belmont von Jolimont erhebt sich seit 2020 „Der Reisende“ von James Colomina.

L’enfant à la mitraillette

Beim cinéma Art et Essai American Cosmograph in der Rue Montardy 24 hat James Colomina im April 2022 heimlich eine Kinderstatue mit einem Maschinengewehr aufgestellt, um den Schrecken von Kriegen und deren Folgen für Kinder anzuprangern.

Mehr zum Künstler erfahrt ihr hier.

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