Ausstellung zur Retirada in Perpignan. Foto: Hilke Maunder
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Wege des Erinnerns: die Retirada

In den Pyrénées-Orientales hörte ich erstmals von der Retirada, dem Exodus der spanischen Republikaner. Und wunderte mich, dass dieses Thema, das Südfrankreich geprägt hat, so wenig bekannt ist. Meine Neugier war geweckt. Voilà ein kleiner Ausflug in die Geschichte.

Ausstellung zur Retirada in Perpignan. Foto: Hilke Maunder
Foto: Hilke Maunder

Am 17. und 18. Juli 1936 erhob sich in Spanien das Militär. Drei Jahre später, am 1. April 1939, feierten die Truppen der Nationalisten ihren endgültigen Sieg. Angeführt wurden sie vom General Francisco Franco.

Ausstellung zur Retirada in Perpignan. Foto: Hilke Maunder
Ausstellung zur Retirada in Perpignan. Foto: Hilke Maunder

Der Bürgerkrieg in Spanien sorgte von 1936 bis 1939 für mehrere Flüchtlingswellen nach Frankreich. Als Barcelona fiel, fand fünfzehn Tage lang ein nie zuvor da gewesener Exodus statt. Fast eine halbe Million Menschen überquerten damals unter schrecklichen Umständen die Grenze in den Pyrenäen.

Ausstellung zur Retirada in Perpignan. Foto: Hilke Maunder
Foto: Hilke Maunder

Dieses Ereignis wird als Retirada bezeichnet. Fast 40 Jahre lang trennte die Diktatur zwei Länder, die historisch eng verbunden waren. Zugleich markierte sie ein Vorspiel des Zweiten Weltkrieges. Den Spuren der Retirada folgt in den Pyrénées-Orientales ein „Weg des Erinnerns“, der euch zu mehreren Gedenkstätten führt.

Mémorial du Camp de Rivesaltes. Foto: Hilke Maunder
Einzelschicksale statt allgemeiner Erklärungen: Rivesaltes berührt. Foto: Hilke Maunder

Auf den Spuren der Retirada in den Ostyprenäen

Le Mémorial du Camp de Rivesaltes

Das Lager ist Zeuge der dunklen Jahre des 20. Jahrhunderts. Es gibt kaum eine Krise oder einen Krieg, die in dem Lager unweit der Autobahn A 9 nicht ihre Spuren hinterlassen haben. Als Militärlager gegründet, war es Durchgangslager für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Spanien, wichtigstes südfranzösisches Internierungslager der Jahre 1941/42 und überregionales Sammellager für Juden.

Mémorial du Camp de Rivesaltes. Foto: Hilke Maunder
Multimedial inszeniert das Mémorial die Schicksale der Menschen, die das Lager von Rivesaltes durchliefen. Foto: Hilke Maunder

Allein 1942 verließen neun Deportationszüge nach Auschwitz das Lager via Drancy. Später diente Rivesaltes als Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene und für Kollaborateure und Auffanglager für Harkis.

Und damit für all jene Algerier und ihre Familien, die sich während der Unabhängigkeitskriege auf die Seite Frankreichs gestellt hatten. Heute ist Rivesaltes ein Mémorial. Hier habe ich auch das Museum vorgestellt.

Mémorial du Camp de Rivesaltes. Foto: Hilke Maunder
Vom Parkplatz aus seht ihr noch nicht das moderne Mémorial, sondern nur das Lager – was für eine geniale architektonische Lösung von Rudy Ricciotti! Foto: Hilke Maunder

Le Mémorial du Camp d’Argelès-sur-Mer

In Argelès-sur-Mer könnt ihr dienstags bis sonnabends die Ausstellung des CIDER – Centre d’Interprétation et de Documentation sur l’Exil et la Retirada besichtigen und im Dokumentationszentrum selbst Nachforschungen anstellen.

Erst Hunderte, dann Tausende campierten auf dem Strand von Argelès, notdürftig mit Decken gegen die Winterkälte auf dem feucht-kalten Sand geschützt. Um dem eisigen Wind des Februars 1939 zu entgehen, gruben die Flüchtlinge mit ihren Händen Gruben in den Sand.

Den Spuren der Retirada folgt auch ein Circuit de la Mémoire. Er beginnt an der Rue des Dunes beim Monolithen, der seit 1999 den ehemaligen Eingang des Camps markiert.

Ein Infoschild nahe des Parking de la Marenda am Strand verrät, wo das Lager einst endete. Dritte Station des Rundwegs ist der Cimetière des Espagnols an der Avenue de la Retirada, wo ein Arbre aux Enfants all jenen 70 Toten gedenkt, die jünger als zehn Jahre waren. Letzte Station ist das Mémorial.

Blogtipp

Nicole Biarnes und ihr Mann haben die kleine, feine Dokumentationsstätte in der Fußgängerzone von Argelès besucht und hier vorgestellt.

La maternité Suisse d’Elne

Im Dezember 1939 öffnete dank des Engagements von Elisabeth Eidenbenz eine Entbindungsklinik für schwangere Flüchtlingsfrauen. Bis 1944 erblickten dort 603 Kinder aus 22 Nationen von Müttern, die in Argelès, Saint-Cyprien und Rivesaltes interniert waren, im Château d’en Bardou das Licht der Welt. Nach der Geburt ruhten sie in Obstharassen oder Wäschekörben, mit denen sie leicht an die frische Luft auf den Balkon oder in den Garten gebracht werden konnten.

Mit ihren Namen erinnerten die Zimmer der Mütterklinik an Orte der Heimat. Die Babys schliefen im Raum Madrid, Kleinkinder im Raum Barcelona. Für die Schwangeren gab es im Raum Córdoba Feld- oder Metallbetten. Die Mütterzimmer hießen Santander und Zaragoza. Die Direktorin, Señorita Isabel genannt, hatte ihre Büro- und Wohnräume im Canigó-Zimmer.

La Pouponnière

Kleinkinder aus dem Lager Rivesaltes konnten sich in einer Dépendance von Elne in Banyuls-sur-Mer direkt am Mittelmeer erholen. Seit 2013 erinnert an der Fassade des Ozeanologie-Labors Arago an der Stelle der ehemaligen Villa Saint-Jean eine Tafel an das Kleinkinderheim, das 1942 wegen der starken Winde nach Castres verlegt worden war.

Le château royal de Collioure

Der Blick auf Collioure am frühen Morgen. Foto: Hilke Maunder
Der Blick auf Collioure am frühen Morgen. Foto: Hilke Maunder

Das erste Straflager für die Geflüchteten wurde bereits im März 1939 im königlichen Burgschloss von Collioure eingerichtet. Der Hafen der Maler und Sardinenfischer wurde zur Hölle für die Menschen, die als Helden des Spanischen Bürgerkrieg das Land verlassen hatten.

Eingesperrt hinter den dicken Mauern der Templerfestung, vegetierten sie im camp special dahin, fast 1000 Männer, Frauen und Kinder, neun Monate lang. Danach wurden sie verteilt.

Grégory Tuban hat ihre Geschichte aufgearbeitet und vor dem Vergessen bewahrt. Les séquestrés de Collioure* ist für alle, die Französisch verstehen, eine berührende, oft schockierende Lektüre. Denn ganz bewusst verwendet Tuban immer wieder den Duktus von einst.

Das Grab von Antonio Machado (Collioure)

Das Grab von Antonio Machado in Collioure. Foto: Hilke Maunder
Das Grab von Antonio Machado in Collioure. Foto: Hilke Maunder

Unterstützt wurden die Republikaner vom spanischen Dichter Antonio Machado, der beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges in Madrid lebte. Gemeinsam mit seiner Mutter flüchtete er im Januar 1939 nach Collioure. Kaum angekommen, starb er völlig entkräftet am 22. Februar im Exil.

Sein Grab ist bis heute mit Blumen in den Farben der spanischen Republik geschmückt. In seinem Briefkasten auf dem Friedhof gehen immer noch Briefe für den Dichter ein. Sein Erbe bewahrt die Fondation Antonio Machado mit jährlich mehreren Veranstaltungen, darunter einem Literaturtag und Ausstellungen.

El Museu Memorial de l’Exili (MUME)

Unvergessen: die Opfer des Nazi-Regimes. Foto: Hilke Maunder
Unvergessen: die Opfer. Foto: Hilke Maunder

Schon in Spanien, direkt an Grenze zu Frankreich, liegt La Jonquera (Provinz Girona). Auf den ersten Blick sieht alles nach Shopping aus. Billigläden, Shoppingmall, Outletcenter und Fabrikverkäufe säumen die Nationalstraße. Mitten in dieser Tristesse von Kommerz und Beton, diesen und anderen Gewerben eröffnete 2008 ein Museum.

Multimedial, interaktiv und sehr berührend erinnert es an die vielen Menschen, die hier einst auf der Flucht vor Franco die Grenze überquerten. 500.000 Menschen sollen es gewesen sein. Agustí Celles hat ihr Schicksal im Foto festgehalten. Ihre Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat nach Ende des Krieges erfüllte sich nicht. Bis 1975 regierte der Faschist Franco in Spanien.

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Im Blog

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Diesen Titel habe ich nach Axel Patitz und Peter Bausch inzwischen seit sechs Ausgaben umfangreich erweitert und aktualisiert.

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Retirada: Über diese Pyrenäenberge kamen die spanischen Flüchtlinge auch nach Banyuls.
Über diese Pyrenäenberge kamen die spanischen Flüchtlinge auch nach Banyuls. Foto: Hilke Maunder

8 Kommentare

  1. Hallo Hilke,
    bin durch Recherche auf Ihren Bericht über spanische Bürgerkriegsflüchtlinge gestoßen.Es interessiert mich sehr, weil mein Vater 1919 in Spanien geboren einen ähnlichen Weg über die Pyrenäen gegangen ist.Leider habe ich versäumt zu fragen.Er landete 1941 in Nantes
    Besitze noch einen Einlieferungsschein von der Behörde abgestempelt.Dann kam er nach Deutschland in das Ausländerlager Bedburg-Haun bis Ende 1947.Irgenwo danach muss er meine Mutter, Flüchtling aus Ostpreußen,kennengelernt haben wo sie in Kevelaer 1948 heirateten und danach nach Venezuela Auswanderten..Mein Vater ist erst 1958 das erstemal nach Spanien mit mir und meiner Mutter zur Familie nach Madrid gefahren. Zuviel Angst vor einer Verhaftung gehabt.Seine Schwestern mussten damals bleiben und haben schlimmes erleben müssen. Vielleicht können Sie mir noch weitere Quellen mitteilen.Frankreich habe ich immer gerne besucht vor allem die Atlantikküste.Für meinen Vater war oft Lyon auf dem Weg nach Spanien die erste Station und immer auf das Essen gefreut,hatte er doch auch französisch gelernt in Nantes
    Vielen Dank, dass ich Ihnen das mitteilen konnte.
    MfG Anelore Meyer geb Garcia

    1. Liebe Frau Meyer, herzlichen Dank für Ihre berührenden Erinnerungen! Für weitere Recherchen kann ich Ihnen das französische Nationalarchiv empfehlen: https://francearchives.gouv.fr/article/239450434 und das regionale Archivprojekt von Aude: https://archivesdepartementales.aude.fr/programme-memoire-de-la-retirada-et-de-lexil-des-republicains-espagnols-dans-laude. Aich die Uni Avignon erforscht das Thema: https://eua.hypotheses.org/5607. Sehr zu empfehlen ist der Besuch des Exilmuseums von La Jonquera an der frz.-spanischen Grenze; auch dort können Sie eigene Recherchen starten.
      Herzliche Grüße! Hilke Maunder

  2. Cornelia Thiessen-Westerhoff sagt:

    Liebe Hilke,
    vielen Dank für diesen interessanten Bericht.
    Wir sind gerade in Saint-Laurent-de-Cerdans. Das hiesige Museum hat eine gute Ausstellung zur Retirada. Im Winter 1939 (der Ort zählte damals 2500 Einwohner) flüchteten 65.000 Menschen vor den Truppen Francos durch den Ort. 6000 von ihnen fanden durch die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung eine (vorübergehende) Bleibe.
    In Rivesaltes waren wir zum 2. Mal. Das Museum ist einfach sehr gut gemacht.

    1. Liebe Cornelia, ja, das Museum in Rivesaltes seid ist hervorragend. Herzliche Grüße nach Saint-Laurent-de-Cerdans und danke für den Hinweis auf das dortige Museum, ich kenne dort die Textilwerke und die Schuhmanufakturen der Espadrilles. Bises, Hilke

  3. Liebe Hilke,
    herzlichen Dank für den erschütternden Bericht. Wie ich schon einmal erzählt habe, war mein Vater, nachdem er aus russischer Gefangenschaft geflohen war, in amerikanische Gefangenschaft geraten und wurde im Zuge eines Gefangenenaustausches an französischen Truppen übergeben. Er landete im Gefangenenlager Rivesaltes. Ich habe das Lager und die Gedenkstätte im letzten Jahr zusammen mit meiner Frau Kiki besucht und war sehr traurig über das, was Kriegsgefangene, Algerien- und Spanienflüchtlinge und Juden dort erleben mussten. Dieses schreckliche Lager, das man aus den Resten der Bebauung erkennen kann und das trostlose Umfeld geben einen Eindruck davon, was Mensch hier erleiden mussten.
    Das hat meine Frau Kiki und mich allerdings nicht davon abgehalten, ein wunderbares Verhältnis zu den Franzosen zu haben, schließlich waren Deutsche die Verursacher dieses Elends, zumindest was die Judendeportation, den 2.Weltkrieg und partiell die Rolle im spanischen Bürgerkrieg angeht. Noch einmal herzlichen Dank.
    Alles Liebe.
    Herzlichst, Walter

    1. Lieber Walter, diese schrecklichen Zeiten müssen für immer beendet sein. Hoffen wir, dass der Ukraine-Krieg rasch endet und kein Flächenbrand wird. Alles Gute! Hilke

  4. Hallo Hilke,
    danke für den interessanten Artikel. Einen Teil der Orte und Gedenkstätten kannte ich bereits. Rivesaltes war schon für die im April/Mai geplante Reise in die Provence und nach Catalunya vorgesehen. Andere Orte kannte ich, wusste aber – wie bei Collioure (Chemin du Fauvisme) – nichts von deren „Vergangenheit“, werde sie jetzt unter den neuen Blickwinkeln erneut besuchen. Das Buch von Gregory Tuban werde ich mir während des Aufenthaltes auch besorgen.
    Einen Besuch lohnt auf jeden Fall auch Portbou, sein Friedhof und der Gedenkstein zur Erinnerung an Walter Benjamin, auch wenn es – wie das einen Besuch sehr lohnende MUME – ein paar Meter auf der spanischen Seite Catalunyas liegt.
    Nochmals Danke für all Deine Tipps. Nächste kleine Spende kommt, wenn nach dem Urlaub noch etwas von meiner Rente übrig ist.
    Hannes

    1. Hallo Hannes, herzlichen Dank für Deinen Tipp mit Portbou – das werde ich bei nächster Gelegenheit nachholen und im Beitrag ergänzen! Viele Grüße! Hilke

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