
„Hier sind Sie wortwörtlich am Nullpunkt“. Stolz zeigt Alain Coulomb auf den Fußboden. Im steinernen Pflaster steckt eine Bronzeniete, deren Kappe aus einer sehr harten Legierung aus Platin und Iridium besteht.
Dieser Niete ist in einen Granitblock eingebettet, der felsenfest fixiert ist. Der Nullpunkt, auf ewig eingebettet in die Felsküste im Westen von Marseille. „Er ist der Referenzpunkt für alle Höhen- und Tiefenmessungen Frankreichs“, sagt der Präsident der Amis du Marégraphe de Marseille.

Pavillon für einen Pegel
1883 hatte man ihn dort festgelegt – und flugs mit einem klassischen Bau überdacht, der zur Eleganz der damals brandneuen Promenade Corniche Kennedy passte. Die Anlage des Marégraphe de Marseille besteht aus zwei Gebäuden: dem Wohnhaus für den Hausmeister der Anlage und dem Unterstand für die Technik.

Eines der Instrumente stammt aus jener Stadt, mit der Marseille seit 1958 verschwistert ist: Hamburg. Dort hatte ein Bauingenieur namens F. H. Reitz bereits auf der Insel Helgoland in der Nordsee und im Hafen von Cádiz im Atlantik einen damals bahnbrechenden Pegel installiert.
Vor der Erfindung von F. H. Reitz konnte der mittlere Pegelstand nur mit schwierigen arithmetischen Berechnungen bestimmt werden. Oder durch die Pegeldiagramme auf den Gezeitenkarten mithilfe eines Planimeters.

Ein Planimeter bildet die Fläche ab, die von der Gezeitenkurve, der Zeitachse und den beiden Geraden, die die Grenzen des betrachteten Zeitraums darstellen, gebildet werden.
Der „Fluthmesser“ von Reitz
Die Tidenberechnungen per Planimeter waren zwar schneller. Aber es fehlte an Präzision. Der von F. H. Reitz entwickelte Gezeitenmesser ersetzte die komplizierten Berechnungen durch eine einfache Division. Zwei Geräte lieferten dazu die Zahlen, die bereits zeitlich verortet waren. Eine einfache Division genügte, und das Ergebnis stand äußerst genau fest.

Charles Lallemand hatte vom Reitzschen Pegel gehört. Auf die Kontaktaufnahme folgte ein langer Meinungsaustausch. Am Ende stand ein Auftrag: Die Hamburger Firma Dennert & Pape, im Stadtteil Altona daheim, sollte den Pegel für Marseille bauen. Anfang Februar 1885 wurde das messingglänzende Juwel der Mechanik in Betrieb genommen.

Im Fokus: der Meeresspiegel des Mittelmeeres
1891 gründete Frankreich den staatlichen Service du Nivellement général de la France. Sein erster Direktor wurde Charles Lallemand. Gemeinsam mit anderen Geräten wie dem Medimaremeter und weiteren Pegeln erfasste sein Team ab 1897 kontinuierlich die Veränderungen des Meeresspiegels im Mittelmeer.

1940 wurde der Service du Nivellement Général de la France dem Institut de l’Information Géographique et Forestière (IGN) angegliedert. Bis heute betreibt das IGN den Marégraphe de Marseille.
Und ist damit ein Exot. Denn die meisten französischen Gezeitenpegel werden heute vom hydrografischen und ozeanografischen Dienst SHOM der französischen Marine verwaltet.

1200 Gezeitendiagramme
In einem wahren Kraftakt digitalisierten IGN und SHOM gemeinsam zwischen 1996 und 2001 die mehr als 1200 Gezeitendiagramme. Einfach war dies nicht. Das Papier hatte im Laufe der Jahrzehnte arg gelitten und war brüchig geworden.
Hier und da war die Tinte kaum noch zu erkennen. Aufgerollt lagern die historischen Wasserstands-Kurven jetzt hinter Glas in einem Holzschrank.

1988 verließ der letzte Wärter des Marégraphe de Marseille die Corniche Kennedy für immer. Das IGN beschloss, auf die grafische Aufzeichnung des Gezeitenverlaufs zu verzichten.
Zeugnisse des Klimawandels
Seitdem genügt sich das Institut mit den wöchentlichen Ablesungen eines Mitarbeiters des IGN aus Aix-en-Provence. Die Daten zeigen: Der Klimawandel ist da. Auch der Meeresspiegel des Mittelmeeres hebt sich.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist der mittlere Meeresspiegel in Marseille um 16 Zentimeter gestiegen. Und auch das haben die Aufzeichnungen verraten: Die Oberfläche des Mittelmeers liegt – zumindest in Marseille – rund 15 cm tiefer als die des Atlantiks.

Einzigartige Zeitreise
2002 hat das Kulturministerium den Marégraphe de Marseille samt Gebäude und Technik unter Denkmalschutz gestellt. 2006 und 2007 umfangreich restauriert, könnt ihr heute das faszinierende wissenschaftliche Erbe der Meeresforschung auf Führungen der Amis du Marégraphe de Marseille besichtigen.


Le Marégraphe de Marseille
• 174, Corniche Président John Fitzgerald Kennedy (gegenüber der Villa Valmer), 13007 Marseille, https://geodesie.ign.fr, http://amis-maregraphe-marseille.fr
Bus-Linie 83 (MUCEM-Saint-Jean – Métro rond-point du Prado), Haltestelle: Fausse Monnaie oder Parc Valmer
Die Meeresdaten
Historische Durchschnittspegel (täglich, monatlich und jährlich) stellt die Universität von La Rochelle auf der Webseite des Küstenwasserstandsbeobachtungssystems SONEL bereit.
Die Daten des heute digitalen Gezeitenpegels in Marseille könnt ihr auf dem Portal www.shom.fr einsehen. Es bietet eine Fülle von geografischen, maritimen und küstenbezogenen Referenzinformationen.
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Im Blog
Marseille gehört zu meinen Lieblingsstädten weltweit. Und ja, ich fühle mich dort sicher und bewege mich allein und überall. Es ist eine Hafenstadt mit Ecken, Kanten und Brüchen, aber auch unglaublich schönen, faszinierenden und intensiven Orten. Ihr findet daher zahlreiche Beiträge zu Partnerstadt meiner Heimat Hamburg im Blog. Die Suchfunktion, Stichwort Marseille, listet sie euch alle auf.
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