
Kommt im Herbst nach Moustiers-Sainte-Marie, wenn die Autobusse nicht mehr morgens um zehn in das provenzalische Bergnest einfallen und ihre Massen an Touristen entladen, die schnurstracks in die Fayence-Läden strömen.
Oder vor Ostern, wenn noch der letzte Hauch des Winters sich an den Kalksteinspitzen festkrallt, Moustiers-Sainte-Marie aber schon in der Sonne des Südens badet.

An diesem Morgen ist der Himmel blau. So blau, als hätte ihn Cézanne soeben frisch gemalt. Monochrom, tief und klar. Seit Tagen bläst der Mistral, zerzaust die Platanen, rüttelt an den Fensterläden. Dann steigt die Sonne auf, wärmt den blank gefegten Himmel. Auf dem Platz erscheinen die ersten Boulespieler.
Madame schließt die Tische und Stühle vor dem Café ihres Hotels auf. „Un petit noir?“ Eng an die Place du Couvert gedrängt, genieße ich ihn dort, wo schon Picasso dinierte und logierte.

Picasso in Moustiers
Picasso hatte Moustiers-Sainte-Marie im Sommer 1952 besucht. Er war einer Einladung von Roger Capron (1922- 2006) gefolgt. Der Maler und Keramiker hatte dort damals seine Werkstatt. Während seines Aufenthalts in Moustiers-Sainte-Marie logierte Picasso im Hotel Le Relais.
Der Besuch bei Capron löste einen kreativen Schub aus bei Picasso, der sich bereits in Vallauris ab 1946 intensiv mit Keramik auseinandergesetzt hatte. Zu jener Zeit war auch Capron aus Paris nach Vallauris gekommen. Dort lernte er in Madouras Atelier Pablo Picasso kennen. Beide wurden enge Freunde, die sich auch in der künstlerischen Arbeit gegenseitig befruchteten.
Picasso & Roger Capron
1952 kaufte Roger Capron eine stillgelegte Töpferei in La Fontaine, einem Dorf rund sechs Kilometer entfernt von Moustiers-Sainte-Marie. Capron restaurierte die Töpferei und verwandelte sie in eine Werkstatt für Keramik. Und in genau jener Werkstatt besucht ihn Picasso im Eröffnungsjahr.

Die traditionellen Keramiktechniken und Designs, die er bei Capron in Moustiers-Sainte-Marie sah, beeindruckten Picasso so sehr, dass er erneute Lust verspürte, mit Ton zu arbeiten.
Er experimentierte, schuf eine Reihe von Werken und arbeitete auch gemeinsam mit Capron an Keramikprojekten. Caprons Werkstatt ist heute ein Museum, das die Keramikgewerbe und -kunst der Region ausstellt – und einige der Werke, die Picasso in Moustiers-Sainte-Marie schuf, sind Teil der ständigen Sammlung.
Hochburg des Fayencen-Handwerks
Wasser, Erde, Holz: Mehr brauchen die Keramiker nicht, die in Moustiers-Sainte Marie seit dem 17. Jahrhundert Fayencen herstellen. Ein Mönch aus Italien – Lazzaro Porri, ein Ordensmann des Servitenklosters – hatte ihnen 1668 das Geheimnis der Herstellung verraten. Ringsum gab es genug Ton im Boden – und Wald, der genug Brennholz für die Öfen der Werkstätten lieferte.

Am Hofe des Sonnenkönigs
Zu den wichtigsten Werkstätten dieser Zeit gehörten neben der Werkstatt der Familie Clérissey die Manufakturen von Olérys und Ferrat.

Der Neid der Herrscher
Die Fayencen aus Moustiers-Sainte-Marie kamen so sehr in Mode, dass auch andere Herrscher in ihrem Reich solche Manufakturen besitzen wollten. König Karl III. von Spanien beauftragte den Grafen von Aranda, Töpfer aus Moustiers-Sainte-Marie abzuwerben und in Spanien eine Keramikmanufaktur in Alcora zu gründen.
Arandas Mission war erfolgreich. Joseph Olérys und Edouard Roux, die beide in Moustiers ausgebildet worden waren, gingen 1726 für rund zehn Jahre dorthin.
Zwölf Fayencefabriken gab es damals in Moustiers-Sainte-Marie. Sie waren das wirtschaftliche Rückgrat des Dorfes und spülten mehr in die Kassen der Gemeinde als alle anderen Betriebe jener Zeit.
Konkurrenz aus England
Doch mit einem neuen Herrscher auf Frankeichs Thron änderte sich auch die Tischmode. Ludwig XVI. liebte englische Fabrikationen. Der Vertrag von Vergennes öffnete im Jahr 1786 Frankreich für Einfuhren aus England. Wedgwood, Worcester und Fenton Boyd verdrängten die Fayencen von Moustiers.
Bereits 1769 war eine Kaolingrube in der Nähe von Limoges entdeckt worden. Dortiges Porzellan verdrängte das tradierte bemalte Steingut.
Die Töpferhochburg Moustiers fand keine Antwort auf diese Krise. 1874 schloss die letzte Fayencewerkstatt ihre Pforten. 50 Jahre lang wurde in Moustiers-Sainte-Marie keine Fayence mehr hergestellt.

Die Renaissance
In den 1920er-Jahren kam Marcel Joannon (1892 – 1952) nach Moustiers-Sainte-Marie. Der Journalist, Schriftsteller und Ethnologe liebte wie Frédéric Mistral, dessen Schüler er gewesen war, seine Heimat über alles – und nannte sich daher im Alter von 19 Jahren fortan nur noch Marcel Provence.
La faïence de Moustiers a son accent, touchez-la avec l’ongle, elle fait entendre un bruit cristallin, un peu grave, frais, un peu comme des cloches pascales en montagne.
Das Steingut von Moustiers hat seinen eigenen Akzent, berühren Sie es mit dem Fingernagel, es lässt ein kristallklares Geräusch hören, ein wenig tief, frisch, ein wenig wie Osterglocken in den Bergen.
Marcel Provence
Im Jahr 1928 belebte er mit Hilfe einiger Freunde die Fayenceherstellung wieder. Gleichzeitig gründete er die Académie de Moustiers, die sich mit dem Studium der Fayencen und der Folklore von Moustiers befasste, und später das Musée de la faïence. Zum Symbol der Fayencen aus Moustiers wurde in jener Zeit ein Vogel.

Lebendiges Handwerk
Heute halten sieben Ateliers die Tradition lebendig. In sieben Arbeitsschritten fertigen sie berühmten Fayencen. Sie dekorieren ihren Ton längst nicht mehr nur mit blauem Dekor auf weißem Grund, sondern mit vielen Farben und Motiven.
Einblicke in die Tradition der Fayencekunst vermitteln geführte Spaziergänge des Office de Tourisme und das örtliche Musée de la faïence. Ausgestellt sind nicht nur traditionell bemaltes Steingut, sondern auch moderne Dekors.
Fayencen aus Steingut gibt es jedoch nicht nur hier, sondern auch in Marseille. Das dortige Musée des Arts décoratifs, de la Faïence et de la Mode im Château Borély besitzt eine wunderschöne Sammlung.

Von Mönchen gegründet
Die Ursprünge von Moustiers-Sainte-Marie gehen auf das 5. Jahrhundert zurück, als sich eine kleine Gemeinschaft von Mönchen von den vor Cannes gelegenen Lerins-Inseln im Tal niederließ, um es zu evangelisieren. Sie lebten in den Höhlen im Tuffstein und begannen, das Land für den Bau eines Klosters zu roden. Dann vertrieben sie die Sarazenen.
Erst im Mittelalter kehrten die Mönche zurück. Zum Zeichen erhielt das einst gottverlassene Tal im 12. Jahrhundert eine Pfarrkirche, die bis heute das Ortsbild prägt: Église Notre-Dame de l’Assomption.
Über vier Etagen ragt der romanisch-lombardische Glockenturm aus Tuffstein über die terres-cuites-Dächer des Dorfes. Als Altar dient ein Marmorsarkophag, der die Durchquerung des Roten Meeres darstellt.
Trubel oder Ruhe?
An der Place Pomey sind alle Parkplätze jetzt belegt. Autobus um Autobus hält, spuckt die Besucher aus, die schnurstracks zum Bondil pilgern, bei L’Étoile Givrée ein Eis auf die Hand kaufen, in die Cafés strömen und die Hand in die plätschernden Brunnen halten.
Ich flüchte vor dem Gedränge und steige auf einer Natursteintreppe die 262 Stufen zu der kleinen Chapelle Notre-Dame de Beauvoir empor, die sich vor einer Felswand hinter hohen Zypressen versteckt. Einzig das Zirpen der Zikaden unterbricht die Stille.

Über der Kapelle hängt an einer 135 Meter langen Kette, die zwischen zwei Bergspitzen befestigt ist, ein vergoldeter fünfzackiger Stern. Ihn soll der Kreuzritter Blacas einst der Muttergottes gewidmet haben.
Das versenkte Dorf
Von ihrer Terrasse kann ich in der Ferne den Stausee Lac de Sainte-Croix erkennen. Für den Bau von Frankreichs zweitgrößtem Stausee wurde 1971 das alte Dorf Les Salles-sur-Verdon gesprengt und geflutet.
Einzig die Kirchturmuhr, die Dorfglocke und der Dorfbrunnen wurden abgebaut für das neue Dorf, das 400 Meter vom alten Standort neu entstand. Manchen Bewohnern missfiel das rigorose staatliche Durchgreifen.

Sie leisteten Widerstand. Und blieben in ihren Häusern, bis das Wasser eindrang. Heute freuen sie sich, dass der Stausee Geld in die Kassen der Kommunen spült. Wie in Moustiers, so ist auch in Les Salles der Tourismus, und nicht mehr die Landwirtschaft, längst der wichtigste Wirtschaftsfaktor.
Gegen 17 Uhr verlassen die Ausflugsbusse den Bergort. Die Fayencen-Läden jedoch schließen erst um 19 Uhr. Jetzt bleibt genug Zeit zum Stöbern. Und dem Wasserspiel der vielen Brunnen zu lauschen, die im Stimmengewirr des Tages nicht mehr zu hören waren.

Moustiers-Sainte-Marie: meine Reisetipps
Schlemmen
Ferme Sainte-Cécilie
Küchenchef Patrick Crespin ist ein wahrer Künstler, seine Frau Catherine eine charmante wie kenntnisreiche Gastgeberin, die Terrasse eine wahre Oase zum Abschalten und Genießen.
• Route des Gorges du Verdon, 04360 Moustiers-Sainte-Marie, Tel. 04 92 74 64 18, www.ferme-ste-cecile.com
La Bastide de Moustiers
Auf einer Motorradtour entdeckte Alain Ducasse 1994 dieses alte Bruchstein-Anwesen und verwandelte es in eine edle Auberge mit elf Zimmern, einer Suite und exquisiter Regionalküche im Restaurant, die täglich neu nach den Zutaten des Wochenmarktes und des Küchengartens komponiert wird.
• Chemin de Quinson, 04360 Moustiers-Sainte-Marie, Tel. 04 92 70 47 47, www.bastide-moustiers.com
Schlafen
Hôtel-Restaurant Le Relais*
Die Zimmer sind klein und verwinkelt, Parkplätze fehlen: Das traditionsreiche Hotel macht diese kleinen Mankos mit herzlichem Ambiente, urfranzösischer Küche und einer charmanten Madame wett, die eine Fundgrube für Tipps und Entdeckungen ist. Und dass ein Bach gleich neben unserem Zimmer plätscherte, gefiel besonders meiner Tochter ungemein.
• 04360 Moustiers-Sainte-Marie, Tel. 04 92 74 66 10, www.lerelais-moustiers.com
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Im Blog
Moustiers Saint-Marie liegt im Verdon-Naturpark und nahe der Verdon-Schlucht. Europas größten Canyon stelle ich hier vor.
Im Buch
In meinem DuMont-Bildatlas „Provence“* stelle ich in sechs Kapiteln zwischen Arles und Sisteron die vielen Facetten der Provence vor. Ihr erfahrt etwas vom jungen Flair zu Füßen des Malerberges, vom Weltstadttrubel an der Malerküste, dem weißen Gold aus der Pfanne oder einer Bergwelt voller Falten.
Neben Aktivtipps, Hintergrund und Themenseiten gibt es in der Edition 2021 zwei neue Rubriken. “Ja, natürlich” präsentiert zahlreiche Tipps für nachhaltige Erlebnisse und Momente.
In “Urlaub erinnern” stelle ich Andenken, Eindrücke und Erinnerungen vor, mit denen der Urlaub daheim noch weiter lebendig bleibt. Hinzu kommen Serviceseiten mit allen Infos, persönlichen Tipps und großer Reisekarte. Wer mag, kann den Band hier* direkt bestellen.
Le Midi*
Der tian ist eine der 80 echten, authentischen Speisen, die ich bei meiner kulinarischen Landpartie durch den Süden von Frankreich entdeckt habe. Zwischen Arcachon, Hendaye und Menton schaute ich den Köchen dort in die Töpfe, besuchte Bauern, kleine Manufakturen, Winzer und andere lokale Erzeuger.
Gemeinsam mit dem Fotografen Thomas Müller reiste ich wochenlang durch meine Wahlheimat und machte mich auf die Suche nach den besten Rezepten und typischsten Spezialitäten der südfranzösischen Küche. Vereint sind sie auf den 224 Seiten meines Reise-Kochbuchs Le Midi.
Ihr findet darin 80 Rezepte von der Vorspeise bis zum Dessert, Produzentenportaits, Hintergrund zu Wein und Craftbeer, Themenspecials zu Transhumanz und Meer – und viele Tipps, Genuss à la Midi vor Ort zu erleben. Wer mag, kann meine 80 Sehnsuchtsrezepte aus Südfrankreich hier* online bestellen.
* Durch den Kauf über den Partner-Link, den ein Sterncen markiert, kannst Du diesen Blog unterstützen und werbefrei halten. Für Dich entstehen keine Mehrkosten. Ganz herzlichen Dank – merci !
Unbedingt an einem sonnigen Tag im ansehen. Man kann den Eindruck bekommen, um Jahre zurück versetzt zu sein. Absolute Stille, die Gassen, die leider im Sommer total überfüllt sind, sind leer und man kann die Schönheit dieses kleinen Ortes genießen. Ein Kleinod, eingebettet in traumhafte Landschaft. Ich kann nicht zählen, wie oft wir dort waren. Ich freue mich jetzt schon auf Dezember, dann sind wir wieder dort. Herzliche Ostergrüße aus dem sonnigen Köln, Claudia
Hallo Claudia, das stimmt – im Sommer herrscht das reichlich Trubel. Aber außerhalb der Hauptsaison ist es wunderschön, und bei Sonnenschein leuchten die Natursteinfassaden besonders schön. Schönen Ostermontag! Hilke
Moustiers Sainte Marie ist seit meiner Kindheit bis heute Anlaufpunkt vor oder nach dem Besuch des Gorges du Verdun und hat sich seinen besonderen Charme trotz der vielen Touristen bewahrt.
In der Nähe ist auch interessant der Ort Aups, Zentrum des schwarzen Trüffel im Jan. und Febr.
Danke für den Trüffeltipp, lieber Michael! Viele Grüße, Hilke
Ein wunderschönes kleines Dorf. Wir waren damals im Frühsommer dort und es hatte kaum Touristen. Aber ich kann mir vorstellen wie das ist, wenn die Busse mit den Touristen ankommen….