Postkarte aus …. La Serpent
La Serpent. Was für ein Name für ein Dorf, dachte ich mir. Würde der Artikel geändert, hieße es Schlange. Neugierig geworden, machte ich es zum Ziel meines Sonntagsausflugs. Ich ahnte da noch nicht, welche Überraschungen La Serpent bereithielt.
La Serpent liegt rund 350 m hoch im Haute-Vallée de l’Aude in den Corbières. Im Norden Limoux, im Süden Couiza. Und ringsherum nur sanft gewellte Hügel, auf denen sich die Rebgärten der AOC Blanquette de Limoux bis an den Horizont erstrecken.
Schmal ist die Landstraße, hoch der Himmel. Bis plötzlich ein kleines Dorf mit stattlichem Schloss auftaucht an einem Hang.
„In jedem Dorf hier hat sich der reichste Winzer solch einen Bau hingestellt“, sagt eine Dame, die meinen Blick sieht. Ihr Französisch ist fließend, ohne Akzent. Und auch von der Gestalt könnte sie eine Einheimische sein. Doch ich stehe vor einer Deutschen.
Hannelore aus Tübingen. Mit ihrem Mann war sie ins Tal des Rébenty gezogen, hatte dort getanzt, gesungen, Gemüse und Obst gezogen und ein anderes Leben gelebt als in Deutschland. 30 Jahre lang.
Bis sich Privates veränderte, sie ein neues Zuhause suchte. Und es in La Serpent fand. 40 Menschen leben dort in alten Feldsteinhäusern. Angeschlossen ans Strom- und Wassernetz, aber ohne Épicerie oder Bäcker vor Ort.
Das Gas wird in ternes genannten Tanks gebunkert oder in Flaschen aus dem Supermarkt geholt. Kein Krämer fährt hier mehr über die Dörfer. Hunde bellen, wenn man an den Häusern vorbei geht.
Manche Gassen wirken, als seien sie lange nicht betreten worden. In anderen Gassen blüht es grün. Blumentöpfe stehen vor den Häusern, riesige Lavendel wachsen vor den Fassaden. Efeu erobert Mauern und Zäune.
Schmal sind die Gassen. Und mitunter so schmal, dass die Ecken Kurven zeigen. Oder geschmückt ist mit einem Kreuz. Fast alle Fensterläden sind geschlossen. Auch, wenn jemand im Haus lebt. Man lässt nicht hineinschauen, schottet sich oben ab. Und lässt Haustür und Werkstatttor offen. Einige Dächer sind eingestürzt. Andere bergen Überraschungen.
In ihrem Haus entdeckte sie hinter einer Tür mit steiler Stiege die chambres des bonnes, die Zimmer der Dienstmädchen. Kleine Kammern mit Blümchentapeten und Holzkisten voller Asche. Als sie die Kisten retten und die Asche entleeren wollte, entdeckte sie darunter… gepökeltes Fleisch.
Im Schrank stapelten sich Zeitungen. Midi Libre mit Nachrichten aus dem Hochtal der Aude, aus Carcassonne und Limoux. Die Ausgabe vom 31. Oktober 1981 verkündet: Georges Brassens ist gestorben.
Aus dem Nachbarhaus dringt Werkstattlärm. „Du musst Patrick kennenlernen!“ Flott geht sie voran, steigt eine schmale Holzleiter empor, zwängt sich durch eine schmale Luke. Und steht mit mir in der Werkstatt eines Industrienähers, der Segel und Planen für die Industrie näht.
Und aus recyceltem Plastik und alten Planen, die er in Carcassonne einsammelt, mobile Unterkünfte schalte. Wohnhauben, Jurten und ungewöhnliche Zelte. Groß und doch so leicht und kompakt, dass sie gut zu transportieren sind.
Patrick, der selbst jahrelang in einer Jurte gelebt habe, geht zur Nähmaschine. „Ich liebe die alten deutschen Züge“, sagt er, zeigt eine Plane mit einem TEE-Zug auf dem Plastik. Und hebt die Haube der Nähmaschine hoch. Pfaff. Patrick freut sich. Und streichelt über das Metall.
Hannelore indes zeigt einen Schlüssel. „Willst Du auch noch die Kirche sehen?“ Die Kirche ist gewöhnlich verschlossen und wurde bislang nur noch für Beerdigungen geöffnet. Doch dann hat Hannelore den Bürgermeister gefragt, ob der Chor nicht dort üben könnte.
Sie schließt sie auf, stellt sich vor den Altar. Und beginnt zu singen. Die Akustik ist fantastisch. Obgleich sie nur leise singt, erfüllt ihre Stimme den Kirchenraum, umschmeichelt die Heiligen, die streng vom Kreuzweg blicken.
Vor dem Beichtstuhl blühen Plastikblumen leuchtend rot in einer Vase. Ein Holzgittertor schirmt das steinerne Taufbecken ab. Neben dem Kirchentor führt eine Treppe den Turm hinauf.
„Tritt mit den Füßen an die Seiten der Treppe. In der Mitte kannst Du durchbrechen.“ Spinnweben haben die Stufen erobert. Durch schmale Schlitze fällt Licht.
Zwei Glocken hängen im Stuhl. Heute werden sie automatisch geläutet. Doch die alten, langen Seile zum Läuten hängen dort wie einst. Vor dem einzigen Fenster ist eine Küchenleiter aufgestellt.
Über das Ziegeldach schweift der Blick über das Dorf, die Rebgärten und das Schloss. „Château daté du XVIIè siècle, réduction architectonique du Palais de Versailles“ schreibt eine Webseite über den Bau. „Schloss aus dem 17. Jahrhundert, architektonische Reduktion des Schlosses von Versailles.“ Sonnenkönig Ludwig hätte gestaunt…
Hintergrund
Die Volkszählung hat es Ende 2019 an den Tag gebracht. Frankreich hat jetzt nur noch 34.968 Gemeinden, und damit 1602 weniger als noch 2009. Forciert wurde der Rückgang der kleinen Dörfer durch die Kommunalreformen von 1971, 2010 und 2015, die die Zusammenlegung zu Gemeindeverbänden und Großgemeinden förderte.
Innerhalb von zehn Jahren schlossen sich 2.500 kleine Dörfer zu 750 neuen kommunalen Einheiten zusammen. Und gab dabei viele Kompetenzen, die vorher vor Ort im Gemeindeamt lagen, an den Kommunalverband ab. Das spart Kosten, freut aber nicht immer die Einwohner.
Frankreich besitzt für seine 67 Millionen Einwohner proportional die gleiche Zahl an Gemeinden wie das Vereinigte Königreich (32.239 Dörfer bei 63 Millionen Einwohner). Deutschland ist deutlich verstädterter – und zählt heut nur noch 11.054 Dörfer.
Jede zweite Kommune in Frankreich hat weniger als 500 Einwohner. In sieben Départements sind es sogar acht oder neun von zehn Gemeinden. Internet und Digitalisierung haben den Exodus vielerorts gestoppt. Und dafür gesorgt, dass demografisch überalterte Dörfer zu Rückzugsorten von Kreativen und (Lebens-) Künstler wurden. So wie La Serpent.
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Hilke Maunder, Okzitanien: 50 Tipps abseits der ausgetretenen Pfade*
Okzitanien ist die Quintessenz des Südens Frankreichs. Es beginnt in den Höhen der Cevennen, endet im Süden am Mittelmeer – und präsentiert sich zwischen Rhône und Adour als eine Region, die selbstbewusst ihre Kultur, Sprache und Küche pflegt. Katharerburgen erzählen vom Kampf gegen Kirche und Krone, eine gelbe Pflanze vom blauen Wunder, das Okzitanien im Mittelalter reich machte.
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Vielen Dank für Deine Beiträge!! Insbesondere die über die Umgebung von Rennes-le-Chateau; nun wird es doch noch eine Weile dauern, bis wir wieder dorthin können. Unsere Freunde in die Arme schließen (die momentan irgendwie die Ausgangssperre erdulden) – und mit den anderen 21 Einwohnern das Dorffest feiern können. Ich wünsche allen Gesundheit und freue mich auf ein baldiges Wiedersehen!
Liebe Beate, das wünsche ich Dir auch: bleib(t) gesund! Alles Gute! Des bises, Hilke
schön, von Dir zu hören! Ich werde hoffentlich gut trösten können… und während des von Macron verordneten Hausarrests all die schönen Geschichten aufschreiben der letzten Wochen…. dazu kam ich noch nicht.
Bleib gesund und träum Dich nach Frankreich mit meinem Blog! Des bises! Hilke