Die Verwandlung der Île de Nantes
Die Île de Nantes ist eine riesige Insel in der Loire, 337 Hektar groß. Im Westen einst Werften, im Osten Wohngebiete aus den 1970er-Jahren. Seit der Millenniumswende wagen hier der Architekt Alexandre Chemetoff und der Landschaftsgestalter Jean-Louis Berthomieu ein städtebauliches Experiment.
Sie gestalten einen urbanen Raum neu, der Leben, Wohnen, Arbeiten und Genießen im Zeichen der Nachhaltigkeit neu definiert.
Nantes: Phönix aus der Asche
Fünf Kilometer lang, 337 Hektar groß, liegt die Île de Nantes gegenüber der Nantaiser Altstadt mitten in der Loire. Bis vor 30 Jahren wurde dort Schiffe gebaut, Konserven gefertigt und Kolonialwaren gelagert.
1987 lief mit der „Bougainville“ das letzte Schiff vom Stapel. Die 1760 gegründete Dubigeon-Werft schloss ihre Tore.
Nantes war wirtschaftlich gebrochen. Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg und die höchste Alkoholiker-Quote Frankreichs waren die Folge.
1989 wurde der Sozialist Jean-Marc Ayrault, unter François Hollande später zum Premier Ministre aufgestiegen, damals zum neuen Oberbürgermeister gewählt.
Kultur schafft Zukunft
Der Krise begegnete er mit zielstrebiger Entschlossenheit. Keine kleinteiligen Quartiersaufhübschungen waren seine Vision, sondern eine umfassende Radikalkur für die Loire-Metropole: nachhaltig, zukunftsfähig, mit mehr Kultur, neuen Dienstleistungen und vielen Innovationen.
Unterstützt von Brüssel, Paris und fantasievollen Mitdenkern wie Jean Blaise ist Nantes auf dem bestem Wege, dieses Ziel zu erreichen. Seit einigen Jahren gehört die sechstgrößte Stadt Frankreichs zu den lebenswertesten Orten des Landes.
Schlüsselprojekt: Île de Nantes
Schlüsselprojekt der Stadterneuerung wurde die Revitalisierung der Île de Nantes. Nantes, das 1926 in einem Kraftakt für Verkehrsachsen zwei Loire-Arme zugeschüttet und einen nördlichen Zufluss verschandelt hatte, wandte sich wieder dem Fluss zu.
Da die alten Wasserarme längst überbaut waren, empfahlen die Stadtplaner Dominique Perrault und François Grether bereits in den frühen 1990er-Jahren, die verwaiste Île de Nantes ins Stadtgebiet zurückzuholen. Und damit kein Schmuckstück, sondern den Hinterhof der Stadt.
Von der Industriebrache zur Zukunfts-Insel
In jenen Jahren war die Île war kein romantisch heruntergekommenes Industrieidyll, sondern geprägt von Beton- und Backsteinruinen, Trockendocks, Kränen und Konservenfabriken.
Auf das Werftgelände im Westen folgte ein Vorstadtlabyrinth, im Osten dominierten Supermärkte, Verwaltungsbauten und ein gesichtsloser Siedlungsbrei.
Alexandre Chemetoff und Landschaftsgestalter Jean-Louis Berthomieu, die Sieger des Stadtplanungswettbewerbs, machten jedoch nicht tabula rasa, sondern behielten die gewachsene Struktur bei. Sie setzten auf eine behutsame Stadterneuerung aus dem Bestehenden mit neuen Wahrzeichen.
Altes integrieren, Neues wagen
Das Areal war für sie eine Zeitleiste der Stadtgeschichte. Zum Teil lückenhaft, zum Teil ausgelöscht in seiner Geschichte. Und wie in einer Erzählung galt es dahin, wieder Verbindungen zu schaffen zwischen Stadt und Insel, der Insel und ihren Arealen.
Stadterneuerung nicht vom Reißbrett und durchgeplant, sondern als Prozess mit einem Plan in situ. So wurden bei allen neuen Projekten und Umwandlungen Bausteine der Inselgeschichte integriert: Ziegelwände und alte Mauern, Gleise und Kräne, Lagerhallen und Schuppen.
Jedes Teilprojekt bindet die Geschichte des Ortes ein. Eine ehemalige Gießerei wandelte sich zum exotischen Garten, eine Lagerhalle für Bananen zur Ausstellungsfläche. Auch der riesige Titan-Kran, der zum Wahrzeichen des Westteils aufstieg, wurde restauriert.
Ikonen neuer Architektur
Das erste Prestigeprojekt der neuen Île de Nantes war pünktlich zum neuen Millennium fertig: der Justizpalast. Frankreichs Star-Architekten Jean Nouvel schuf ihn als majestätischen Monolith aus Metall und Glas – das Gebäude schwarz, die drei Verhandlungsräume blutrot.
Ende 2008 folgte die neue Architekturschule von Nantes, entworfen vom Pariser Architektenduo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal. Bei der in sich verschachtelten Doppelstruktur aus Beton und Stahl liegt der Schulhof auf dem Dach. Hinauf führen zwei Rampen an der Fassade.
Nachhaltig wohnen und arbeiten
Weiter loireabwärts wurde eine 100-jährige Stadtvilla restauriert und durch einen Stahlanbau zu einer Reihenhaussiedlung in die Länge gezogen. 7.500 neue Wohnungen, ein Viertel davon Sozialwohnungen, Studenten- und Jugendwohnheime, sind auf der Île inzwischen entstanden.
Dem wenig attraktiven Centre Commercial Beaulieu von 1975 verpasste der Pariser Architekten Patrick Bouchain ein buntes Blechlamellenröckchen. Aufs Dach kamen Photovoltaikpanele. Im Innern wich das Konsumgewirr klaren Strukturen mit Haupt- und Nebengängen.
Gemeinsam entwickeln
Alle drei Monate werden die Bewohner und Besucher der Insel über den Entwicklungsstand und neue Projekte informiert. „Die Umgestaltung der Ile de Nantes versteht sich als offenes, flexibles, kreatives und gemeinsames Projekt, das ganz unterschiedliche Initiativen einbeziehen kann“, so Nantes Métropole.
Projektträger ist seit 2003 die Société d’Aménagement de la Métropole Ouest Atlantique (SAMOA). Ein Entwicklungskonzessionsvertrag bindet die lokale Aktiengesellschaft (SPL) bis 2037 an die Metropole.
Nach dem Landschaftsarchitekten Alexandre Chemetoff (2000-2010), dem Team um Anne Mie Depuydt (uapS-Agentur) und Marcel Smets (2010-2016) hat das Team um Jacqueline Osty (Landschaftsarchitektin, Vertreterin) und Claire Schorter (Stadtarchitektin) die Projektleitung übernommen.
Seit 2011 ist Samoa auch für eine ergänzende Mission rund um die Animation und wirtschaftliche Entwicklung als Kreativ-Cluster der Stadt verantwortlich.
Die regionale Agentur für Umwelt und Energieeffizienz ADEME Pays de Loire unterstützt SAMOA bei der Umsetzung nachhaltiger Energiekonzepte.
Tierische Kunst-Maschinen
Zum Qualitätskonzept gehören auch kulturelle Highlights wie die Machines de l’Île. Seit 1991 bauen François Delarozière und Pierre Orefice in den ehemaligen Werfthallen merkwürdigen Geschöpfe.
Allesamt scheinen sie der Fantasie des Nantaiser Schriftstellers Jules Verne, den mechanischen Visionen von Leonardo da Vinci und der industrielle Geschichte von Nantes entsprungen zu sein.
Berühmt ist besonders Le Grand Eléphant. Zwölf Meter hoch ist der 48 Tonnen schwere Koloss aus Stahl und Pappelholz. Mit bis zu 49 Passagieren schreitet er 30 Minuten lang über die Île de Nantes, trompetet und spritzt mit dem Rüssel Wasser ins Publikum. 450 Pferdestärken treiben ihn an.
Sein Ziel ist das Karussell der Meereswelten. Auf drei Etagen zeigt das Carroussel des Mondes Marins 35 bewegliche Maschinen-Figuren, die an Fische und Fantasiefiguren, Segelboote und Schiffe erinnern.
Am Meeresgrund tummeln sich 14 Figuren: ein Riesenkrebs, ein Tintenfisch mit Rückstoßantrieb, ein Kofferfisch, das Erkundungsfahrzeug und der Bathyskaph, der am Mast in der Mitte nach oben fährt.
In den Tiefseegräben tummeln sich in fünf Meter Höhe der Tiefsee-Leuchtfisch, der Manta-Rochen und Piratenfisch… furchterregend!
Oben in 25 m Höhe seid ihr an der Wasseroberfläche angekommen. 24 mechanische Wellen fluten die See, über die Rösser reiten, Fische fliegen, Nussschalen hin und her tauchen, Schildkröten auftauchen und ein Sturmschiff gegen die See kämpft.
Was gerade an neuen Projekten geplant wird, verrät die Galerie des Machines de l’Île. Dort ausgestellt sind die ersten Figuren, Projektskizzen und Modelle für den Reiherbaum. Dieser Arbre aux Hérons sollte sich ab 2023 in einem aufgegebenen Steinbruch zwischen der Loire und der Butte Sainte-Anne erheben.
Doch der Arbre aux Hérons war bereits seit 2021 in Schwierigkeiten und wurde von der Metropole wegen des explodierenden Budgets aufgegeben. Die Industrie- und Handelskammer versuchte, durch private Förderung eine Alternative zu finden, doch das reichte nicht aus. Das Urteil von Nantes Métropole fiel am Donnerstag, dem 14. September 2022: Das Projekt wird niemals das Licht der Welt erblicken.
Für Pierre Orefice, einer der beiden Väter des Projekts bei den Machines de l’Île , war dies ein schwerer Schlag. Zwei Wochen später ging er in Rente.
Das Viertel der Kreativen
Rund um die Machines de l’Île ist heute ein veritables Quartier de la Création entstanden, das bis zur Westspitze der Insel auf 15 Hektar das kreative Know-How von Nantes ballt.
Direkt neben den Machines de l’Île haben seit September 2009 mit La Fabrique Kreative der aktuellen Musikszene und zeitgenössischen Kunst ein Gründerzentrum erhalten. Zwei weitere Hallen mit elftausend Quadratmetern werden ebenfalls für Kulturveranstaltungen umgebaut.
Hochschulen und Agenturen, Cluster-Initiativen und Coworking-Angebote haben sich hier angesiedelt. Unterrichten, Arbeiten und Erleben prägendem kreativen Mix.
Der ehemalige Bananenhangar beherbergt heute auf achttausend Quadratmetern eine Galerie für zeitgenössische Kunst. Ebenfalls dort findet ihr das Warehouse Nantes – den größten Live-Club und Tanztempel im Westen Frankreich. Noch mehr Livemusik gibt es im HUB, der in einem einstigen Bunker residiert. Auf dem Dach: Künstlerwohnungen!
Essen können Mitarbeiter, Studenten und Besucher von Juli bis Oktober in der Cantine du Voyage. Holzlatten verdecken den Blick auf das ungewöhnliche Lokal des sommerlichen Kulturfestivals Le Voyage à Nantes. Die Karte ist einfach, die Küche natürlich gut: Zum Huhn gibt es das, was der Garten liefert, der auf einem Parkplatz als Urban-Gardening-Projekt angelegt wurde.
Chillen, skaten & Co.
Direkt vor den Stühlen der Cafébesucher schmücken die abends illuminierten Ringe von Daniel Buren die Flaniermeile Quai des Antilles. In den einstigen Bananenschuppen sind zahlreiche Lokale gezogen. Lässige Bars mit Liegestühlen, Kneipen mit Live-Musik und schicke Restaurants.
Eine einladende Promenade ist inzwischen auch der Quai Wilson. Seit 2002 sind dort am Südufer der Île de Nantes wieder große Pötte daheim – Kreuzfahrtschiffe.
Aktiv & grün: der Osten der Île de Nantes
Im Inselosten sind die Einheimischen noch unter sich. Doch auch dort locken spannende Entdeckungen. Radelt abseits vom Verkehr vorbei an neuen Wohn- und Bürobauten hin zum Parc de Beaulieu an der Ostspitze.
Und packt Tischtennis-Schläger mit ein! Denn unterwegs könnt ihr im Ping-Pong-Park so ungewöhnlich abschlagen, wie ihr es wohl noch nie gemacht habt. Selbst Loopings sind dort drin!
Hier könnt ihr schlafen*
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Hallo Robert,
ja, das stimmt – danke auch für den Link! Jetzt will ich mir unbedingt noch einmal wie La Confluence ansehen – auch in Lyon wurde eine einstige „Altlast“ spannend saniert. Vor drei Jahren war ich das erste Mal dort, jetzt steht es für Ende Mai auf dem Programm. https://meinfrankreich.com/hilke-maunder_frankreich_rhone-alpes_la-confluence-lyons-neues-in-viertel.
Viele Grüße, Hilke